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Die Dinge, wie sie sind
ОглавлениеDie Dinge sehen, wie sie sind: Genau das bedeutet das Wort Vipassana. Les choses comme elles sont ist auch der Titel des Buchs, das mein Freund Hervé Clerc über den Buddhismus geschrieben hat. In Das Reich Gottes habe ich Hervé schon einmal porträtiert, und da ich gegen meine Anmaßung angehen muss zu glauben, meine Leser hätten meine früheren Bücher gelesen und könnten sich daran erinnern, werde ich ihn noch einmal und diesmal ein bisschen anders vorstellen und zuerst Pythagoras zitieren, der die Frage gestellt hat: »Wozu ist der Mensch auf Erden?« Antwort: »Um den Himmel zu betrachten.« Um den Himmel zu betrachten? Wenn das wahr ist, dann wissen es die meisten Menschen nicht. Die meisten glauben, sie seien auf Erden, um Liebe zu finden, reich zu werden, Macht auszuüben, Wachstum zu produzieren oder ihre Spuren im Sand der Zeit zu hinterlassen. Menschen, die meinen, sie seien auf Erden, um den Himmel zu betrachten, sind selten. Wenn man nicht selbst zu ihnen gehört, kann man von Glück reden, wenn man einen kennt. Es erweitert den Horizont. Ich persönlich habe dieses Glück, denn ich kenne Hervé, diesen friedlichen, lakonischen, nachdenklichen Menschen, der so lebt, als könne er jederzeit sterben, und der grundsätzlich vermeidet, sich mit irgendetwas zu belasten. Wie Diogenes glaubt er, man solle besser aus der hohlen Hand trinken als aus einer Tasse. Wenn er unterwegs ist, reißt er aus den Büchern die Seiten aus, die er gelesen hat, und wirft sie weg, um mit leichterem Gepäck weiterzuziehen. Als AFP-Journalist hat er in Spanien, den Niederlanden und in Pakistan gelebt und sich immer bemüht, keine Karriere zu machen, um, wie er sagt, unter dem Radar zu laufen. Inzwischen lebt er halb in Nizza, halb in einem Dorf im Wallis, Le Levron, wo er eine Wohnung in einem Chalet hat, von dem aus man über zwei Täler zugleich blickt. Es ist ein selten schönes Panorama, vor dem er viel meditiert und drei Bücher geschrieben hat, die das erforschen, was die Mystiker über jene letzte Wirklichkeit gesagt haben, die lange mit einem Decknamen bezeichnet wurde, der uns nicht mehr so recht zusagt: Gott. Seit inzwischen dreißig Jahren treffen Hervé und ich uns in Le Levron, um über Bergpfade zu wandern, ein bisschen zu reden und viel zu schweigen. Ein Walliser Witz, den ich mag, erzählt von drei Bauern, die auf einer Bank sitzen und eine Kuh vorbeitrotten sehen. »Das ist Pierrots Kuh«, sagt der erste. Eine Viertelstunde vergeht, dann sagt der zweite: »Nein, das war Fernands Kuh«. Nach einer weiteren Viertelstunde steht der dritte auf und verschwindet mit den Worten: »Mir reicht’s mit euren Streitereien!« So in der Art verlaufen auch unsere Gespräche, nur dass wir nicht streiten. Wir streiten nie, unsere Freundschaft, die zu den großen Geschenken meines und, ich glaube, auch seines Lebens zählt, kennt weder Krisen noch Schattenseiten, sondern lebt von unseren fundamentalen Unterschieden und sogar einem Dissens. Hervé glaubt, dass wir nicht nur auf Erden sind, um den Himmel zu betrachten, sondern auch, um einen Ausweg aus dem Schlamassel zu finden, den das Erdenleben darstellt. Er glaubt, manche, die danach gesucht haben, hätten diesen Ausweg gefunden und wiesen uns den Weg. Diese Forscher heißen Platon, Buddha, Meister Eckhart, Teresa von Ávila oder Patanjali – ich werde bald auf ihn zu sprechen kommen –, und nichts sei wichtiger und notwendiger, als ihre Berichte zu lesen und die Karten zu studieren, die sie erstellt haben, damit auch wir diesen Weg gehen können. Um es mit indischen Worten zu sagen, denn keine Zivilisation hat so gründlich und tiefschürfend darüber nachgedacht wie die indische: Die einzige Aufgabe, der sich ein Mensch mit gesundem Menschenverstand widmen sollte, ist, dem Samsara zu entkommen – dem Kreislauf der ständigen Veränderungen und Leiden, den man Conditio humana oder menschliches Dasein nennt – und das Nirwana zu erreichen, das endlich das wirkliche Leben ohne jede Täuschung ist, das, in dem man die Dinge sieht, wie sie sind. Genau das ist Yoga, sagt Hervé. Oder, na ja, das ist Yoga, wenn man es ernst nimmt und nicht nur für Gymnastik hält.