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Raus aus dem Schlamassel?

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Diese ernüchterten Zeilen habe ich zwei Jahre nach den Ereignissen geschrieben, von denen ich erzähle, im Frühjahr 2017 in einem Zimmer der Psychiatrie Sainte-Anne, wo ich zwischen zwei Elektroschocks versuchte, mit der Überarbeitung dieser Erzählung meinen irrlichternden, kaputten Geist an die Leine zu legen. Doch am Abend des 7. Januar 2015 sah ich die Dinge noch nicht in diesem grausamen Licht – einem Abend, an dem es in Strömen in die weiche, schwarze Gartenerde pladderte, während ich auf dem schmalen Bett in meinem Bungalow auf einem abgelegenen Gehöft im Morvan auf das Abendessen wartete. Damals hielt ich mich vielleicht nicht unbedingt für einen gelassenen, ausgeglichenen, heiteren Menschen, zumindest nicht ganz, noch nicht, aber doch für einen, der nicht mehr erschütternd neurotisch war. Psychisch gesund zu sein heißt nach Freud, zum Lieben und Arbeiten fähig zu sein, und seit fast zehn Jahren war ich zu meiner großen Überraschung dazu fähig gewesen. Hätte mir das jemand prophezeit, als ich jünger war, ich hätte es nicht geglaubt. Damals erwartete ich mir nicht viel vom Leben. Und doch hatte ich danach ohne lange, quälende Dürreperioden vier dicke Bücher geschrieben, die viele Leute mochten, und ich dankte dem Himmel jeden Tag für eine Ehe, die mich glücklich machte. Nach so vielen Jahren emotionaler Irrfahrten glaubte ich, den Hafen erreicht zu haben. Ich hielt meine Beziehung vor Stürmen sicher. Ich bin nicht verrückt, ich weiß sehr wohl, dass jede Liebe gefährdet ist – dass sowieso alles gefährdet ist –, doch ich stellte mir diese Gefährdung als etwas vor, das nun von etwas Äußerem ausgehen müsste und nicht mehr von mir. Freud hat eine zweite, ebenso großartige Definition von psychischer Gesundheit vorgelegt wie die erste: Gesund ist, wer nicht mehr dem neurotischen Elend Zugriff erlaubt, sondern nur noch dem gemeinen Unglück. Neurotisches Elend ist das, was man sich schrecklicherweise immer wieder selbst erschafft, gemeines Unglück dagegen das, was einem das Leben auf so unterschiedliche wie unvorhersehbare Weise beschert. Haben Sie Krebs oder, schlimmer noch, hat eines Ihrer Kinder Krebs, verlieren Sie Ihre Arbeit und stürzen Sie in Armut, dann ist das gemeines Unglück. Ich für meinen Teil bin vom gemeinen Unglück bislang auffällig verschont geblieben – keine Trauerfälle im engsten Kreis, keine Gesundheits- und Geldprobleme, Kinder, die ihren Weg gehen – und ich habe das seltene Privileg, einen Beruf auszuüben, den ich liebe. Was dagegen das neurotische Elend angeht, kann mir keiner was vormachen. Ohne mir etwas darauf einzubilden, bin ich außergewöhnlich begabt darin, ein Leben, das alles hätte, um glücklich zu sein, zu einer wahren Hölle zu machen, und ich werde mir diese Hölle von niemandem kleinreden lassen: Sie ist real, fürchterlich real. Nun scheine ich ihr aber tatsächlich und entgegen jeder Erwartung entkommen zu sein. Im Januar 2015 scheine ich tatsächlich sagen zu können: Ich bin raus aus dem Schlamassel. Natürlich bin ich vorsichtig, ich laufe nicht mit stolzgeschwellter Brust herum und weiß, dass das Ganze vielleicht eine Täuschung ist – doch ist eine Täuschung, die zehn Jahre andauert, noch eine Täuschung? Woran also liegt es, dass mir diese Lebensphase so gewogen ist? Woher diese Entwicklung? Von der Psychoanalyse? Ehrlich gesagt, ich glaube nicht. Ich habe fast zwanzig Jahre ohne nennenswerte Ergebnisse auf der Couch verbracht. Nein, ich glaube ganz einfach: von der Liebe. Und vielleicht von der Meditation. Oder vom Yoga – ich benutze beide Begriffe mehr oder weniger austauschbar. Ich glaube, dass Yoga und Meditation mich so wie die Liebe und das Schreiben bis zu meinem Tod begleiten und halten und tragen werden. Das letzte Viertel meines Lebens – mit fast sechzig kann man statistisch davon ausgehen, dass ich dieses begonnen habe – stelle ich unter das Motto des in so viele Notizhefte übernommenen Satzes von Glenn Gould: »Das Ziel der Kunst ist nicht, kurzfristig einen Adrenalinschub auszulösen, sondern geduldig ein Leben lang auf einen Zustand der Gelassenheit und des Staunens hinzuwirken

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