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Teleportation nach Tiruvannamalai
ОглавлениеVon Vipassana habe ich zum ersten Mal im Frühjahr 2011 in Indien gehört. Um ein Buch fertigzustellen, hatte ich ein Haus in Puducherry gemietet, wo ich zwei Monate blieb und mit fast niemandem redete. Meine streng geregelten Tage begannen mit der Lektüre der Times of India im einzigen mir bekannten Café, in dem man Espresso servierte. Danach kehrte ich nachdenklich durch rechtwinklig angeordnete Straßen, die von baufälligen Kolonialgebäuden gesäumt wurden und Avenue Aristide-Briand, Rue Pierre-Loti oder Boulevard du Maréchal-Foch hießen, nach Hause zurück, um an meinem russischen Abenteuerroman Limonow weiterzuarbeiten. Ich ging sehr früh und zu einer Zeit schlafen, in der die zahllosen herumstreunenden Hunde von Puducherry ein Bellkonzert anstimmten, aus dem ich nach und nach einige Stimmen herauszuhören lernte, und stand, von der Morgendämmerung und Geckorufen geweckt, ebenfalls sehr früh auf. Eine solche Alltagsroutine ohne Besuche von Museen oder Sehenswürdigkeiten und ohne touristische Zwänge ist für mich das Ideal jeder Auslandsreise. Einmal fuhr ich trotzdem nach Tiruvannamalai, das als Hochburg indischer Spiritualität gilt, weil dort der große Mystiker Ramana Maharsi gelebt und gelehrt hat und sich dort immer noch sein Ashram befindet. Die Hochburg machte einen sehr heruntergekommenen Eindruck auf mich: ein Marktplatz für Gurus und spirituelle Seminare, der Horden von ausgezehrten, verstörten, schmuddeligen westlichen Pseudosadhus anzog, die vor Anmaßung wie vor Leid nur so strotzten – und an die ich immer denke, wenn Yogaadepten mir von ihren Retreats in Indien erzählen, wo sie hoffen, in das alte Wissen der großen Meister eingeführt zu werden. Tiruvannamalai oder Rishikesh, das als Wiege des Yoga gilt, sind meiner Meinung nach die Orte auf der Welt, wo die Chancen, in das alte Wissen eines großen Meisters eingeführt zu werden, etwa so hoch stehen wie die, auf der Place du Tertre am Montmartre auf einen echten Maler zu treffen. Bertrand und Sandra, die Einzigen, mit denen ich mich in Puducherry angefreundet hatte, hatten mich an einen Franzosen vermittelt, der dort wohnte. Er war in eine lila Robe gehüllt, hieß Didier und nannte sich Bismillah. Als ich ihn fragte, wie sein spiritueller Weg bislang verlaufen sei, erklärte mir Bismillah, eine wichtige Etappe sei für ihn ein Vipassana-Kurs gewesen: zehn Tage intensive Meditation, die, wie er sich ausdrückte, in seinem Kopf gründlich aufgeräumt hätten. Da ich selbst nur auf einem sehr bescheidenen Niveau meditierte und einem gründlichen Aufräumen in meinem Kopf grundsätzlich nicht abgeneigt war, wollte ich gern mehr darüber erfahren, doch meine Neugier schrumpfte ein wenig, als ich hörte, dass Bismillah auf der nächsten Etappe seines spirituellen Wegs deswegen in Tiruvannamalai gelandet war, weil er an einem Teleportationsseminar hatte teilnehmen wollen. Es sei aber enttäuschend gewesen, gestand er. Das Ganze gab mir zu denken. Teleportation heißt, dass man sich allein kraft seines Geistes spontan von einem Ort zu einem anderen befördert. Man verschwindet in Madras und taucht im nächsten Augenblick in Bombay wieder auf. Eine Variante davon ist die Bilokation: Bei dieser befindet man sich an zwei Orten gleichzeitig. Mehrere Überlieferungen bescheinigen großen Ausnahmeheiligen wie Joseph von Cupertino solche Fähigkeiten, die religiösen Autoritäten dagegen halten sich bedeckt, was das Thema angeht, ganz zu schweigen von den Wissenschaftlern. Ich fragte mich, ob ein Typ, der meint, eine solche Erfahrung machen zu können, indem er sich online für einen Workshop anmeldet, der jedermann offensteht – als glaubte er, Mantarochen zu begegnen, wenn er sich für einen eintägigen Tauchkurs anmeldet –, eine mustergültige geistige Offenheit an den Tag legte oder ob man, um einen solchen Nepp zu schlucken – und dann seine Enttäuschung einzugestehen –, irgendwie ein bisschen blöd sein musste.