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I. Das Gehege Die Ankunft
ОглавлениеDa ich ja irgendwo anfangen muss mit diesem Bericht über die vier Jahre, in denen ich versucht habe, ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga zu schreiben, mit so wenig Heiterem und Feinsinnigem konfrontiert war wie dem Dschihad-Terrorismus und der Flüchtlingskrise, in eine so tiefe Depression verfiel, dass ich vier Monate lang in der Psychiatrie Sainte-Anne stationiert war, und schließlich meinen Verleger verlor, der zum ersten Mal seit fünfunddreißig Jahren das Buch, das ich geschrieben habe, nicht lesen wird, da ich also irgendwo anfangen muss, entscheide ich mich für diesen Morgen im Januar 2015, an dem ich mich beim Zumachen meiner Tasche fragte, ob ich vielleicht doch mein Telefon mitnehmen sollte, das ich allerdings dort, wo ich hinfuhr, sowieso würde abgeben müssen, oder ob ich es zu Hause lassen sollte. Ich entschied mich für die radikale Variante und fand es schon beim Verlassen unseres Wohnhauses reizvoll, von nun an unter dem Radar zu laufen. Von dort war es nur ein Katzensprung zum Zug am Pariser Bahnhof Bercy, einem bescheidenen und schon ländlich anmutenden Ableger der Gare de Lyon, die speziell die Provinz bedient. Alte Waggons, Abteile wie früher, sechs Sitzplätze in der ersten, acht in der zweiten Klasse, braune und grüngraue Farben, die an die Züge meiner weit zurückliegenden Kindheit in den Sechzigerjahren erinnern. Ein paar Rekruten lagen ausgestreckt auf den Bänken und schliefen, als hätte ihnen keiner erzählt, dass es keine Wehrpflicht mehr gibt. Zur staubigen Fensterscheibe gewandt schaute meine einzige Platznachbarin zu, wie unter grauem Nieselregen die graffittibesprühten Wohnblöcke vom Stadtrand und dann der östlichen Banlieue von Paris vorbeizogen. Die junge Frau sah aus wie eine Trekkerin, sie war auch so gekleidet und hatte einen riesigen Rucksack dabei. Ich fragte mich, ob sie wohl vorhatte, eine Tour im Morvan zu machen, wie ich früher einmal, wobei ich unter ähnlich widrigen Umständen in Vézelay aufgebrochen war, oder ob sie, wer weiß, gar zum selben Ort fuhr wie ich. Ich hatte absichtlich kein Buch mitgenommen, und so verbrachte ich die Fahrt – anderthalb Stunden – damit, meinen Blick und meine Gedanken in einer Art gelassenen Ungeduld umherschweifen zu lassen. Auch wenn ich nicht recht wusste, was genau, erwartete ich doch sehr viel von diesen kommenden zehn Tagen, in denen ich offline und unerreichbar sein würde. Ich beobachtete meine Erwartung, beobachtete meine gelassene Ungeduld. Es war interessant. Als der Zug in Laroche-Migennes hielt, stieg die junge Frau mit dem großen Rucksack zusammen mit mir aus und lief wie ich und wie etwa zwanzig weitere Personen zum Grünstreifen vor dem Bahnhof, wo ein Bus uns abholen sollte. Schweigend standen wir da und warteten, keiner kannte keinen. Jeder schaute seine Mitwartenden an und fragte sich, ob sie eigentlich normal aussahen. Ich würde sagen: eher ja. Als der Bus kam, setzten sich manche zu zweit hin, ich mich dagegen allein, doch kurz vor der Abfahrt stieg zuletzt noch eine etwa fünfzigjährige Frau mit einem schönen, ernsten, hageren Gesicht ein und nahm neben mir Platz. Ein schnelles, halblautes Hallo, dann schloss sie die Augen und bedeutete mir damit, ohne ablehnend zu wirken, dass sie nicht vorhatte, ein Gespräch anzuknüpfen. Niemand redete. Der Bus war schnell raus aus der Stadt und rollte nun über schmale Straßen durch kleine Weiler, in denen absolut nichts geöffnet zu sein schien, nicht einmal die Fensterläden. Nach einer halben Stunde bog er in einen ungepflasterten, eichengesäumten Weg ein und hielt auf einem Kiesplatz vor einem niedrigen Gehöft. Wir stiegen aus, luden das Gepäck aus und betraten durch getrennte Türen das Gebäude: hier die Männer, dort die Frauen. Wir Männer landeten in einem großen, von Neonröhren beleuchteten Raum, der eingerichtet war wie eine Schulmensa und dessen Wände blassgelb gestrichen und mit kleinen Plakaten behängt waren, auf denen in kalligrafischer Schrift buddhistische Weisheiten geschrieben standen. Es waren auch neue Gesichter dort, Leute, die nicht zuvor im Bus gewesen und wohl mit dem Auto gekommen waren. Hinter einem Tisch mit Resopalplatte empfing ein junger Mann in T-Shirt – alle anderen trugen mindestens einen Pullover oder eine Fleecejacke – und mit einem offenen, sympathischen Gesicht die Neuankömmlinge. Bevor man sich bei ihm registrierte, sollte man einen Fragebogen ausfüllen.