Читать книгу Vicky - Erich Rast - Страница 10

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Vor der Tür hielt sie inne. Sollte sie anklopfen? Die Warnung der Xu’Un’Gil spukte in ihrem Kopf herum und dazu noch die Meinung von Herrn Meyer. In der Tat, sie kannte diesen X’ur nicht, sie mochte einen gewöhnlichen Schwerverbrecher beherbergen, der zurecht gesucht wurde. Vorsichtig öffnete sie die Tür.

Er saß aufrecht, den Rücken ans unbequeme Metallregal gelehnt, und manipulierte mit geschickten, schnellen Bewegungen ein präzises und detailliertes Hologramm. Vicky erkannte sofort, dass es das Sonnensystem inklusive der Orbitalstationen darstellte. Markierungen zeigten Raumflughäfen an. Dazu wurden noch eine Reihe von komplizierten, formelartigen Runen dargestellt, wahrscheinlich Daten, Informationen über Raumschiffe, Frachtrouten, Kapazitäten. Das musste eine Anzeige für Piloten oder das Militär sein, zumal sie einige der angezeigten Raumstationen nicht identifizieren konnte. Geheime Anlagen der Xu’Un’Gil? Er schien sie nicht zu bemerken.

Sie beschloss, den direkten Weg zu gehen. »Man sucht nach ihnen.«

»Zweifelsohne, meine liebe Vicky«, antwortete er, ohne sich von der Simulation abzuwenden. Er schien etwas zu suchen, zoomte Flughäfen im europisch-asiatischen Raum näher heran und studierte die eingezeichneten Schiffstypen. Jedenfalls nahm sie das an, die Symbole konnte sie ja nicht entziffern.

»Sie sollen gefährlich sein.«

»Bitte, wir können uns duzen.« Er wandte sich an sie. »Vicky, sie suchen mich, weil ich ein X’ur bin. Sie suchen alle von uns. Das ist eine lange Geschichte.«

»Ich weiß«, erklärte sie, zufrieden darüber, nicht ganz dumm und unvorbereitet zu sein. Obwohl zwei Seiten in einem fünfzehn Jahre alten Almanach wohl nicht unbedingt als Glanzleistung gelten konnten. »Ich weiß, dass die Vongul deinen Heimatplaneten zerstört haben.«

»Vor über hundert Jahren«, erklärte er, und wischte das Hologramm mit einer Handbewegung weg. »Trotzdem jagen sie uns weiterhin. Wie dem auch sein mag, ich möchte dir nicht weiter zur Last fallen. Du hast mir mit den Proteinen sehr geholfen, ich habe mich über Nacht ein wenig erholen können. Jetzt muss ich los.«

»Du kannst nicht ins Freie«, erklärte sie und ließ sich auf der Kante einer Werkbank nieder, die Vater nur noch selten benutzte. Für solche Arbeiten gab es Maschinen, man brauchte sich schon lange keine Ersatzteile mehr per Hand fräsen.

M’xor packte das kleine, runde Gerät ein, dass die Anzeige erzeugt hatte. Es ähnelte der Funktion her einem irdischen Handy, war aber technologisch gesehen eindeutig fortgeschrittener, das belegte allein der Detailreichtum der Darstellung. Die Dinger mochten woanders gang und gebe sein, auf der Erde konnte man sie nicht so einfach erstehen. Sammy und Tanxia würden jemanden umbringen, um an eins zu kommen. Andauernd beschwerten sie sich über die mangelhaften Videoverbesserungsfunktionen ihrer Handys, dabei waren selbst ihre Telefone vergleichsweise teuer und in der Lage, glaubhafte Szenen aus dem Nichts zu erzeugen. Wozu? Die Jungs verwandten diese tollen Funktionen doch nur dafür, ihren Auserwählten Fake-Sex-Videos zu schicken. Vicky hatte in ihr Handy Filter programmiert, die eingehende VR und Holo-Nachrichten blockierten.

»Ich muss los«, wiederholte ihr Gastgeber. Er versuchte, sich an dem Regal hochzuziehen, offenbar hatte er Schwierigkeiten, auf beiden Beinen zu stehen. Es drohte, zu kippen. Mit lautem Geschepper fielen die Werkzeuge und Kisten mit Bauteilen herunter, die Vater dort lagerte. Schrauben und Nieten rollten über den Betonboden. Er schwankte, und sie fing ihn auf. Von diesem Außerirdischen ging momentan ganz sicher keine Gefahr aus.

»M’xor, du musst dich hinsetzen, du bist verletzt.«

»Vielleicht hast du recht.«

Er keuchte, und presste die Hand auf seine linke Hüfte, wo er am Vortag so geblutet hatte. Er hatte die Wunde mit dem Erste-Hilfe-Set, das sie ihm gebracht hatte, sehr professionell verbunden.

»Da draußen wimmelt es von Xu’Un’Gil, die den Wald nach dir abkämmen. Schon allein deshalb musst du dich weiter hier verstecken.«

Er setzte sich wieder und strich mit den Händen auf eine Weise über seine Fühler, die ihn wirklich außerirdisch erscheinen ließen. Fast wie ein richtiger Grashüpfer. Seine Haut jedoch fühlte sich überhaupt nicht wie der Panzer eines Insekts an. Sie war warm, wärmer als die eines Menschen, und schien eigentümlich zu pulsieren.

»Ein, zwei Tage sollte ich mich vielleicht noch ausruhen. Aber dann muss ich los, ich muss zum Zentralflughafen des südeuropischen Konglomerats. Der liegt meinen Angaben zufolge auf der Fläche vor dem Hochplateau, das in die iberische Halbinsel führt.«

Sie lächelte unbewusst. Sein Verzeichnis mochte das Sonnensystem präzise darstellen, einen richtigen Erdatlas hatten die Macher wohl nicht beigefügt. »Der liegt bei Toulouse. Mit dem Auto bräuchten wir mindestens einen Tag.«

»Dann nehme ich gleich morgen früh solch ein Auto, um dir nicht weiter auf die Last zu –«

Er stockte mitten im Satz, und als sie sich umdrehte, wusste sie warum: Ihr Vater stand in der Tür und starrte sie entgeistert an. Sonst war er nicht so lautlos, er musste sich regelrecht angeschlichen haben. Vicky fühlte sich betrogen, und gleichzeitig wurde ihr klar, dass die übliche Vorwärtsverteidigungsstrategie der rebellierenden Tochter in diesem Fall nicht aufginge. Wäre er ohne zu klopfen in ihr Zimmer gekommen, dann wäre ihr Zorn berechtigt gewesen; leider saß sie in seinem Geräteschuppen an seiner Werkbank.

M’xors Kamm stellte sich auf, er deutete mit dem Kopf und beiden Fühlern eine Verneigung an und erklärte würdevoll: »M’xor ist mein Name. Ich möchte ihnen für die Gastfreundschaft sehr danken!«

Vater nickte erstaunlicherweise bloß knapp, ihm waren wohl auch noch keine X’ur untergekommen und es hatte ihm die Sprache verschlagen. Blicke hingegen sagten mitunter mehr als Worte, und diese richteten sich vor allem an seine Tochter, die sich am liebsten verkrümelt hätte.

»Vicky, würdest du kurz mitkommen?«

»Ich kann alles –«

Er hob die Hand und sie sparte sich den Rest des Satzes. Im Hinausgehen wandte er sich an M’xor: »Nach ihnen wird gesucht. Draußen wimmelt es von Xu’Un’Gil. Sie bleiben in diesem Raum. Um sicherzugehen, sperre ich ihn von außen ab. Ist das klar?«

»Aber ja, das ist kein Problem!«, erklärte M’xor würdevoll. Vater hatte ihn auf Euroterranisch angesprochen, sein Intergal war ziemlich dürftig, und Vicky war einen Augenblick lang gar nicht aufgefallen, dass M’xor auf nahezu akzentfreiem Euroterranisch geantwortet hatte. Sie hätte schwören können, dass sein Terranisch noch am Vortag schlechter gewesen war. Oder spielte er ihr etwas vor?

Den Blick geradeaus gerichtet, um bloß den Augenkontakt mit ihrem Vater zu vermeiden, folgte sie ihrem Schicksal, das sie ins Wohnzimmer führte. Von der Wiese vor der Farm drangen militärische Rufe herüber. Flutscheinwerfer leuchteten den Waldrand an, vor dem menschliche Soldaten mit schweren Plasmagewehren and hundeartigen Suchdrohnen patrouillierten.

Mutter war schnell zur Stelle gerufen, und weder ihre Reaktion, noch die ihres Vaters erfolgte, wie sie erwartet hatte. Die beiden schwiegen sie erst einmal eine Weile eisig an, was viel schlimmer war, als angeschrien zu werden. Thomas kniff die Lippen zusammen und zuckte nervös mit einem Augenlid, ein Tick, den sie bei ihm noch nie gesehen hatte. Vicky selbst starrte auf eine Blumenvase und hoffte, dass endlich einer von ihnen das Wort eröffnete. Offenbar erwartete man eine Erklärung von ihr.

»Ich –«, setzte sie an, und ihr Vater unterbrach sie sofort.

»Hast du eigentlich irgendeine Ahnung, was das für dich und deinen Bruder bedeuten könnte?«

Er erhob sich ruckartig, lief aufgeregt auf und ab und kam ihr dabei bedrohlich nahe. Er entschied sich, die naheliegende Blumenvase nicht umzuwerfen, um sich nicht den Zorn ihrer Mutter einzuhandeln, und ballte stattdessen die Fäuste. Kein Zweifel, er war wütend.

»Hast du eine Ahnung, wie es in einem Foltergefängnis der Xu’Un’Gil zugeht? Glaubst du, Peter würde bloß seine Stelle verlieren, wenn sie herausfinden, dass du einen gesuchten Verbrecher beherbergst? Wie lautet die Strafe darauf? Zehn Jahre Einzelhaft? Folter? Hinrichtung?«

»Thomas, das reicht!«, rief Mutter dazwischen und er schwieg. Sie war schon immer die Herrin im Haus gewesen, was normalerweise nicht unbedingt von Vorteil war. Vater hatte die Angewohnheit, im Grunde genommen fast alles zu unterstützen, war oft von vornherein milde gestimmt. Nicht diesmal, und sie konnte es ihm nicht verdenken. Ihre Stimme klang schwach und brüchig, hätte sich beinahe überschlagen, und sie hasste sich dafür.

»Ich ... habe bloß versucht, ihm zu helfen. Er ist verletzt und hatte Angst vor den Xu’Un’Gil.«

Mutter bekam jenen mütterlichen Gesichtsausdruck und die dazu passende Härte in der Stimme, die nichts Gutes verhießen. »Und du hast es vorgezogen, uns davon nichts zu verraten?«

»Er ist gestern erst abgestürzt«

Vater hielt abrupt inne. »Wir melden ihn den Behörden. Wenn wir genau erklären, was passiert ist, werden sie uns in Ruhe lassen.«

»Ausgeschlossen.«

»Aldena –«

»Über meine Leiche! Schon gar nicht, wenn Vicky recht hat und das wirklich ein X’ur ist. Das sind Verbündete der Dritten und Vierten Republik, ihr Heimatplanet ist von den Vongul vernichtet worden und sie leben seitdem in der Diaspora. Du wirst ihn nicht an unsere Besatzer, die Freunde der Vongul, ausliefern!«

Und damit war dieses Thema vom Tisch. Vater versuchte nicht einmal, seinen Standpunkt weiter zu verteidigen, und Vicky war sich sicher, dass er die Option von Anfang an nicht wirklich erwogen hatte. Er hatte rein hypothetisch gesprochen.

»... und Vicky hat nichts Falsches getan«, fuhr Aldena unerwarteterweise fort. »Du hättest ihm auch geholfen.«

Vater kniff die Lippen zusammen und gab nach kurzem, zornigen Nachdenken zu: »Vielleicht. Und was machen wir jetzt mit unserem ›Gast‹? Auf dem Hof kann er auf keinen Fall bleiben. Die Spürhunde und Drohnen könnten ihn rein zufällig vom Waldrand aus wittern, und wenn sie den Hof durchsuchen, sind wir geliefert.«

Mutter lief nun ebenfalls im Zimmer auf und ab, und Vicky hatte das Gefühl, gar nicht mehr beachtet zu werden. Sie widerstand dem Drang, sich davonzuschleichen, was sicher nicht gelungen wäre.

»Meine alten Kontakte«, stellte sie nach einer Weile fest.

Er schüttelte den Kopf. »Du hast selbst gesagt, dass sie gefährlich sind. Dass die Vergangenheit ruhen sollte.«

»Thomas, das weiß ich ja. Aber sie sind die Einzigen, die uns jetzt helfen können. Wir bringen ihn zum alten Brenner.«

»Das gefällt mir nicht. Aldena, jeder einzelne von ihnen könnte ein Spitzel sein. Das hast du selbst –«

Vicky hielt das nicht mehr aus und sie unterbrach ihn. »Könntet ihr mir mal verraten, wovon ihr sprecht?«

Die beiden warfen sich gegenseitig Blicke zu und schienen zu einem stillschweigenden Einverständnis zu kommen. Ihr Vater übernahm das Wort, während Aldena eine Nachricht ins Telefon tippte. Alte Kontakte?

Die Erklärung war einfach, und eigentlich hätte sie die Wahrheit längst erraten können. Trotzdem hatte sie niemals irgendetwas geahnt. Ihre Mutter hatte während der Aufstände für den Widerstand gearbeitet, und zwar, wie Vater betonte, als Krankenschwester, war an keinen bewaffneten Aktionen beteiligt gewesen. Hätten sie die Opfer in Krankenhäuser gebracht, dann wären sie sofort von den Xu’Un’Gil und den Kollaborateuren geschnappt worden. Also hatten ihre Mutter und Doktor Vieux sie wieder zusammengeflickt, und zwar auf sehr notdürftige Weise, aber immerhin in improvisierten Operationssälen und mit mikrochirurgischer Ausrüstung.

Später, als die Rebellion schon dem Ende zugegangen war und Aldena mit Vicky schwanger gewesen war, hatte sich Vaters gemäßigte Position durchgesetzt und sie hatte sich zurückgezogen. Niemand hatte ihr den Rückzug übel genommen, im Gegenteil hatten Vieux und Meyer ihr dazu geraten, die den Aufstand noch ein Weilchen weiter unterstützt hatten. Dann war die Rebellion gescheitert und seitdem lebten Revolutionäre und Kollaborateure wie Wonneberg und Becker scheinbar friedlich im Dorf miteinander. Vicky konnte sich vorstellen, wie es unter den Kulissen brodeln musste, wenn man zudem noch bedachte, dass viele Widerstandsgruppen damals durch Spitzel aus den eigenen Reihen aufgeflogen waren. Bis heute fahndeten die Xu’Un’Gil und die offizielle Regierung nach Mitgliedern dieser Gruppen, die in ihren Augen als Terrororganisationen einzustufen waren.

»Warum habt ihr mir davon nie erzählt?«, wunderte sich Vicky, nachdem ihre Eltern die knappen Erklärungen beendet hatten.

Mutter lächelte. »Dein Bruder war zu alt. Bei ihm hat die Propaganda der Xu’Un’Gil zu gut angeschlagen. Und du warst unserer Meinung nach zu jung.«

»Ich bin alt genug.«

»Es gab keinen Grund, dich mit diesem Wissen zu belasten«, entgegnete ihr Vater, und sie erkannte aus seinem Tonfall, dass er das Thema schon oft mit Aldena besprochen hatte. »Das wäre ein unnötiges Risiko gewesen. Das ist ein unnötiges Risiko. Diese alten Geschichten, das ist die Vergangenheit. Du weißt ja nicht einmal, welche von deinen Freundinnen und Klassenkameraden die Kinder von Kollaborateuren sind und welche Eltern auf unserer Seite waren.«

Gewisse Ideen hatte sie. Daniel Wonneberg und die Becker-Zwillinge gehörten wohl nicht zu den Freunden der Familie. Tanxia war mit Sonia Becker befreundet, aber sie selbst konnte mit den beiden Beckers nichts anfangen. Die beiden kicherten, als seien sie im Grundschulalter zurückgeblieben. Und Daniel war ganz sicher nicht ihr Fall. Aber natürlich hatte Vater recht, sie hatte ja bis vor Kurzem nicht einmal geahnt, dass es in Terville damals eine Widerstandsgruppe gegeben hatte. Nichts hatte bisher jemals darauf hingedeutet, und im Schulunterricht waren die Aufstände sowieso nicht durchgenommen worden. Sie nahmen gerade den amerikanischen Bürgerkrieg durch und im Staatskundeunterricht lernten sie momentan den Aufbau der Föderation der terranischen Systeme, die von den Vongul nicht bloß geduldet, sondern angeblich sogar unterstützt wurde. Offiziell war die Erde auch nicht von Xu’Un’Gil besetzt, hatte vielmehr ihre Besatzer freiwillig eingeladen, um für die interplanetare Verteidigung zu sorgen und Handel zu treiben. Das glaubte allerdings nicht einmal ihr Klassenlehrer, der die Absätze im Schulbuch mit betont ironischem Tonfall durchnahm und ab und dann Gänsefüßchen in die Luft malte. Schwierigkeiten hatte er sich dafür bisher nicht eingehandelt, und Vicky bezweifelte, dass sich irgendjemand in der höheren Verwaltung um den Unterricht an einer Provinzschule kümmerte. Sie lebten in Terville, überhaupt niemand kümmerte sich hier um irgendwas anderes als die Rübenernte. Das hatte sie zumindest bisher immer angenommen.

Aldenas Telefon gab einen Summton von sich und sie studierte das Hologramm. »Heute ist es zu riskant. Morgen bringen wir ihn zum Brenner.«

Vicky

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