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Kapitel 2

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Das Rad gehörte ihrem Bruder und deshalb benutzte sie es nur selten. Nicht, dass Pete sich darum gekümmert hätte, er hatte als Rekrut auf der Orbitalstation, oder wo auch immer er gerade geschunden wurde, sicher andere Sorgen und es ihr bei der Abreise ganz offiziell übergeben, was ihn dennoch nicht vor ihrem Zorn geschützt hatte. Nein, sie lief normalerweise zu Fuß ins Zentrum von Terville oder sie nahm ihr eigenes, weitaus weniger taugliches Rad, weil es sich beim Rad ihres Bruderherzes um scheußlich aufgemotztes Mountainbike handelte. Sie wurde oft genug schon wegen ihrer kurzen, verstrubbelten Haare gehänselt – sie wollte mal einen von diesen Typen sehen, wenn die Föhnfrisur zwischen den Zahnrädern einer Erntemaschine hängen blieb –, da musste sie nicht noch mit einem Mountainbike durchs Dorf radeln. Nur diesmal hatte sie es eilig und ihr eigenes Rad hatte einen Platten. Ihr Patient war eingeschlafen und sie musste davon ausgehen, dass er im Sterben lag. Also trat sie in die Pedale, über Stock und Stein, und leider auch durch den Schlamm in der Auffahrt zum Hof, den die Räder ohne Schutzbleche schön fein auf ihrem Rücken verteilten.

Auf halben Weg ins Dorf, als der Feldweg sich in eine Schotterstraße umwandelte, kamen ihr der Dorfpolizist Becker und Bürgermeister Wonneberg im Polizeijeep entgegen, der gleichzeitig auch als Dienstwagen des Bürgermeisters fungierte. Sie fluchte leise vor sich hin, nicht die Abkürzung genommen zu haben, wollte schnurstracks an dem Auto vorbeiradeln, aber der Weg war zu eng, und außerdem erregte sie Verdacht, wenn sie die beiden nicht wenigstens grüßte. Jeder kannte schließlich jeden im Dorf.

Becker kurbelte das Fenster runter und hielt den Kopf aus dem Wagen.

»Hallo Vicky!«

»Hi!«

Sie winkte zurück und tat so, als habe sie es eilig. Die Einkaufsliste, die sie in die Hand geknüllt hatte, ließ sie unbewusst in die Tasche ihrer Latzhose gleiten, wobei sie aus dem Gleichgewicht geriet und sich aufstützen musste.

Der Bürgermeister wandte sich an sie: »Victoria, ist dein Vater zuhause?«

Wonneberg galt als Kollaborateur, sonst hätte er nicht das Amt innegehalten, aber er war freundlich und hatte einen guten Ruf, war größtenteils beliebt. Selbst ihre Mutter hielt ihn nicht für gefährlich.

»Auf den Nordfeldern, Erntebots warten.«

»Alles klar. Wir fahren rauf in den Stresenwald vor der Bahnlinie. Da ist was runtergekommen.«

»Oh ja!«, bestätigte sie. Den Knall und die Verwüstung zu leugnen, hätte Argwohn erregt.

»Ist’s okay, wenn wir die Abkürzung über die Farm nehmen?«

Sie schluckte und hoffte, dass die beiden ihr das mulmige Gefühl, das sich in ihrer Magengrube breitmachte, nicht ansahen. Sie würden direkt an der Scheune vorbeifahren. »Natürlich! Geht schneller!«

Becker übernahm wieder das Gespräch, während der Bürgermeister einstieg und sich anschnallte. »Hast du was gesehen? Warst du im Wald?«

Sie versuchte, jünger zu wirken, als sie war, spielte das zehnjährige Mädchen und hoffte gleichzeitig, nicht zu dick aufzutragen. »Ja, ich glaube, das war ein Riesenmeteor! Aber es ist kein Waldbrand entstanden, jedenfalls steigt kein Rauch mehr auf.«

»Wir prüfen das gerade. Fährst du zur Schule?«

»Nein, nein, wir haben heute keinen Nachmittagsunterricht. Ich bin ... in der Eisdiele verabredet.«

»Alles klar! Viel Spaß!«

Er salutierte auf gespielte Weise. Sie mochte den dicken, gemütlichen Polizisten mit dem albern verwirbelten Schnauzbart, kannte ihn seit ihrer Kindheit. Er tratschte eigentlich nur den ganzen Tag über mit den Dorfbewohnern herum, und sie war sich sicher, dass er seine Pistole im Leben noch nicht eingesetzt hatte. Wahrscheinlich war sie nicht einmal geladen. Trotzdem zuckte sie unbewusst zusammen, als er ihr im Wegfahren aus dem Wagen heraus hinterherrief: »Vicky, sag deinem Vater Bescheid, dass wir mit ihm sprechen müssen, ja?«

Sie tat, als habe sie ihn nicht gehört und radelte hastig weiter, nahm eine Abkürzung über einen besonders steinigen Feldweg ins Tal, die sie beinahe in den Straßengraben beförderte. Sie kannte die Gegend aus dem Effeff, als Kind wäre sie doppelt so schnell ins Dorf gebrettert, aber sie war ein bisschen außer Übung. Außerdem war Petes Rad schrecklich eingestellt, der Sattel kam ihr zu tief vor und der Lenker zu kurz.

Als sie auf die asphaltierte Straße kam – eine von vieren, um die sich die Häuser von Terville gruppierten –, fiel ihr zu spät ein, dass der Weg sie tatsächlich direkt an der Eisdiele vorbeiführte. Kein sehr guter Plan. Irgendjemandem begegnete man dort immer. Sie war es nicht gewohnt, geheime Einkäufe zu machen.

»Oh nein!«, flüsterte sie zu sich selbst. Da saßen Matt Bröninger zusammen mit diesem ›Pelle‹, einem unangenehmen Vollidioten, und noch ein paar anderen Jungs, und mittendrin zwischen ihnen Tanxia, sowie Petra und Susanne aus der 11b über ihrer Stufe. Trotz des kühlen Wetters genossen sie anscheinend die tief stehende Abendsonne und schlürften an Milchshakes, als sei der Sommer nie zu Ende gegangen. Was nun? Tanxia erkannte sie schon und winkte ihr zu.

Kurzerhand trat Vicky in die Pedale, beschleunigte so schnell sie konnte und zog an der Gruppe mit einem nonchalanten Winken und einem unverständlichen Ruf vorbei. Einer der Jungs rief irgendwas Blödes hinterher, das sie sowieso nicht verstand, jemand kicherte laut, und schon war sie um die Ecke gebogen. Den verdutzten und definitiv enttäuschten Gesichtsausdruck ihrer Freundin würde sie so schnell allerdings nicht vergessen.

Dreißig Sekunden später warf sie das Rad vor den Eingang zu Meyers Gemischtwarenladen und stürmte durch die Tür. Eine Glocke bimmelte, und sie fand sich außer Atem keuchend vor dem Inhaber wieder. Ferdinand Meyer, der Prototyp des guten Onkels mit grau melierten Haaren, sah über den Rand seiner Lesebrille zu ihr. Er las den ganzen Tag über, wenn er nicht gerade Kunden bediente oder sich mit ihnen übers Wetter unterhielt. Jeder im Dorf kannte ihn und er kannte jeden im Dorf. Was in diesem Fall ein Problem war, doch eins, das sich nicht vermeiden ließ. Sie musste eben hoffen, dass er ihrer Mutter nichts erzählte.

»Vicky, wir schließen zwar bald, aber ein paar Minuten hast du noch. Eile mit Weile.«

Sie grinste. »Ich suche was Spezielles, und es eilt tatsächlich ein bisschen. Sagen sie, Herr Meyer, es ist doch verboten, anderen zu erzählen, was einer einkauft, oder?«

Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich und er rückte sich die Brille zurecht. »Vicky, du hast hoffentlich nicht ...? Ich meine, wenn’s um medizinische Fragen geht, solltest du besser gleich zu Doktor Vieux gehen. Er ist gesetzlich zur Verschwiegenheit verpflichtet, auch deinen Eltern gegenüber.«

Auf die Idee war sie gar nicht gekommen. Ein menschlicher Arzt konnte durchaus Proteine und Erst-Hilfe-Sets für außerirdische Spezies aufbewahren, war vielleicht sogar als Rettungssanitäter für Außerirdische geschult. Höchstwahrscheinlich aber nur für die Xu’Un’Gil, und ganz sicher nicht für einen X’ur. Diese Spezies war nämlich verdammt selten, das hatte ihr der Pilot, der sich M’xor nannte, erklärt, bevor er wieder eingeschlafen war.

Meyer starrte sie an, und sie hatte das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Woher wusste er, dass es sich um einen medizinischen Notfall handelte? Er verkaufte so ziemlich alles: frisches Obst und Gemüse, Haushaltswaren aller Art wie Knöpfe, Glühbirnen, Trecker-Zubehör, Nähzeug, Küchenmaschinen. Der Laden fungierte als Apotheke, weshalb sie auch gekommen war, nur wie kam Meyer darauf?

Er deutete ihr Schweigen falsch, lächelte freundlich und zwinkerte ihr zu: »Aber keine Sorge, Vicky, ich kann meinen Mund halten.« Er seufzte laut. »Einen Schwangerschaftstest, nehme ich an?«

Sie lachte hysterisch, die Anspannung, die sich durch die ungewöhnlichen Ereignisse des Tages aufgestaut hatten, entluden sich auf explosive Weise und es dauerte einen Augenblick, bis sie sich wieder einfing. Dem Apotheker und Gemischtwarenhändler war der Fehler peinlich, er strich sich über den grauen Rauschebart und lief rot an.

»Oh, keine Sorge, Herr Meyer! Ich bin ganz bestimmt nicht schwanger.«

Noch als sie die Worte sprach, wurmten sie sie mehr, als sie jemals zugegeben hätte. Natürlich wollte sie nicht schwanger werden, schon gar nicht ungeplant. Nur leider ärgerte sie der Grund. Sie nahm die Pille, ihre Mutter hatte ihr dazu geraten, nachdem ein Mädchen zwei Stufen über ihr eine Menge Ärger bekommen hatte – ihre Eltern waren gegen die Abtreibung gewesen, und jetzt hing sie in Groß-Menlow herum, verheiratet mit einem Idioten, der sich mehr für sein Auto als für seinen Sohn interessierte, und würde niemals mehr eine höhere Schule oder die Uni sehen. Dummerweise hätte sie selbst jedoch die Pille genauso gut wieder absetzen können, denn bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben, ihre Nützlichkeit zu testen. Den Grund dafür sah Vicky in der sowohl zahlenmäßigen als auch geistigen Beschränktheit der übrigen Dorfbewohner in ihrer Altersklasse.

»Gut, gut«, murmelte Meyer verlegen. »War nur so eine Idee, weil du so reingestürmt bist mit diesem Gesichtsausdruck. Wäre ja wirklich zu früh dafür.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Nun, also was darfs dann sein?«

Vicky ignorierte das Summen ihres Telefons, das sie auch ohne draufzusehen als Nachricht von Tanxia identifizieren konnte. »Ich brauche Notproteine oder Notmahlzeiten und Erste-Hilfe-Sets, Verbandszeug und so.«

»Ah, das ist kein Problem!«

»... für Spezies 367. Man nennt sie X’ur auf Intergal.«

Meyer hielt inne und musterte sie von oben bis unten, als habe er persönlich ein Exemplar dieser seltenen Spezies vor sich. Er schaltete schnell, für ihre Zwecke bei Weitem zu schnell. »Das war kein Meteor. Das war ein Raumschiff. Und ich nehme an, das Ganze sollte unter uns bleiben? Du weißt, dass wir die Rettungskräfte alarmieren müssen?«

»Dem Piloten geht es gut«, log Vicky und war sich plötzlich selbst nicht mehr sicher, ob sie das Richtige tat. Was, wenn er tatsächlich im Sterben lag? Die Behörden nicht einzuschalten, das wäre dann wohl unterlassene Hilfeleistung. »Er will auf keinen Fall mit den Xu’Un’Gil zu tun haben.«

Der Händler zuckte mit den Schultern. »Und? Was weißt du über ihn? Er könnte ein entlaufener Sträfling oder ein Massenmörder sein. Nicht alle, die von den Xu’Un’Gil gesucht werden, sind gute Menschen.«

Er würde zum Telefon greifen und ihre Eltern anrufen, ging es ihr durch den Kopf, und das Schlimmste daran war, dass er recht hatte. Sie wusste nichts über diesen Pilot, er hatte ihr nicht erklärt, warum er vor den Behörden Angst hatte, und es gab alle möglichen Gründe, die nichts damit zu tun hatten, dass die Xu’Un’Gil sich als die Herrscher der Erde aufspielten. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.

Herr Meyer beobachtete ihre Reaktion und lächelte freundlich. Er kam hinter dem Tresen hervor, verriegelte die Ladentür, drehte das Schild auf ›geschlossen‹ und zog den Rollladen herunter.

»Spezies 367, sagst du«, murmelte er. »Du hast doch nicht im Intergal-Netz nachgesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie überwachen das Netz.«

Er nickte bedächtig. »Das ist korrekt. Also gut.«

Mit einem Seufzen holte er hinter dem Tresen einen abgewetzten, gedruckten Katalog hervor, auf dem in gelben Buchstaben auf rotem Untergrund ›großer Almanach galaktischer Lebensformen‹ stand. »Die Ausgabe ist ein bisschen veraltet, aber wir werden deinen Freund schon finden.« Mit dem Finger ging er durch einen Index, fand den Eintrag und blätterte die Seite auf. Er studierte ihn in aller Seelenruhe, Vicky konnte die Spannung kaum aushalten, bis er den Band zu ihr drehte. Die Abbildung ähnelte M’xor so sehr, als habe der Zeichner ihn sich als Vorbild genommen. Höchstens die Fühler mochten etwas übertrieben lang sein, das variierte wohl von Exemplar zu Exemplar. Die Spezies stammte vom Planeten Prak’sur, dem vierten Planeten aus dem Sur System. In der Tat war sie extrem selten, denn der Planet war vor über hundert Jahren vernichtet worden. Seitdem trieben sich die X’ur überall in der Galaxis herum. Sie galten als Einzelgänger, hochintelligent, umgänglich und normalerweise ungefährlich, besaßen einen ausgeprägten Ehrenkodex, ein reiches Kulturgut, das zumindest in digitaler Form der Zerstörung ihres Planeten entgangen war, und kamen aufgrund ihrer Sprachbegabung und ihres Einfühlungsvermögens, sowie einer ausgesprochenen Höflichkeit und einem gewissen Mangel an Aggression mit anderen Lebensformen gut aus.

»Siehst du«, stellte Vicky fest. »Eine harmlose Spezies.«

Die Bemerkung schien den alten Händler zu amüsieren. »Wir sind auch eine harmlose Spezies. Das besagt gar nichts. Aber sieh hier!«

Er legte den Finger auf einen Kasten am Ende der Doppelseite, der mit ›Politik‹ betitelt war. Darin stand:

»Zerstörung von Pak’Sur vermutl. 3488 IGT durch die Vongul während des Dritten Galaktischen Konflikts (S. 288, Schautafel 2) durch eine geächtete Kernpulswaffe; seitdem Auflösung der ehemals demokratisch-oligarchischen Staatsstruktur, Staatenlosigkeit; bis zu ihrem Niedergang häufige Assoziierung mit der Dritten Republik (S. 20, Übersicht ›polit. Fraktionen‹) und weiteren Achsenkräften gegen die Expansion des Vongul-Makkarats; Verdacht auf Zusammenarbeit mit der Terrororganisation ›Vierte Republik‹.«

Vicky mochte in Geschichte nicht viel aufgepasst haben, aber sie verstand sofort. Die Xu’Un’Gil dienten den Vongul, die Erde lag im Vongul-Großreich, wenn auch eher am Rand, und natürlich hatte selten ein Vongul einen Grund, auf Terra vorbeizusehen. Die Vongul ihrerseits hatten M’xors Heimatplaneten vom Himmel gepustet, und zwar mit einer jener allseits geächteten Waffen, die den gesamten Kern eines Planeten destabilisierten, bis er praktisch auseinanderbrach. Die Erde und viele weitere menschliche Kolonien waren wohlweislich neutral geblieben und schließlich von den einen oder anderen Freunden der Vongul besetzt worden. Nicht so die restlichen Vertreter der X’ur, sie hatten sich größtenteils der Dritten Republik angeschlossen, die bekanntermaßen ebenfalls verloren hatte. Kein Wunder, dass nicht mehr viele von Spezies 367 übrig waren und dass M’xor keine Lust hatte, sich von den Xu’Un’Gil ärztlich versorgen zu lassen.

Herr Meyer zog aus einer Schublade im Tresen eine handgeschriebene Liste hervor und ging sie durch. Schließlich gab er einen tiefen, lauten Seufzer von sich.

»Wie geht es deiner Mutter, Aldena?«, erkundigte er sich plötzlich. Ein merkwürdiger Themenwechsel.

»Gut. Also, haben –«

Er unterbrach sie. »Wie die Mutter, so die Tochter, eh?«

Sie hatte keine Ahnung, auf was er hinauswollte.

»Wir kennen uns schon lange, ich und deine Mutter, wusstest du das?«

»Sie hat mal erwähnt, dass ihr zusammengearbeitet habt, als sie als Krankenschwester gearbeitet hat, glaube ich.«

Meyer schürzte die Lippen. »Mehr hat sie nicht gesagt?«

Vicky schüttelte den Kopf. Sie verstand immer noch nicht, worauf er hinauswollte, und fand den Themenwechsel, wenn sie ehrlich sein sollte, ziemlich unpassend. Der Pilot namens M’xor lag möglicherweise im Sterben, er hatte eindringlich nach diesen Proteinen verlangt und auch keinen Hehl daraus gemacht, dass es eilig war. Sonst hätte sie sich kaum auf Petes Fahrrad geschwungen und sich Ärger mit einer ihrer besten Freundinnen eingehandelt.

»Gut«, stellte der Händler zufrieden fest. »Verrate deiner Mutter besser nichts von dieser Geschichte. Sie soll sich keine unnötigen Sorgen machen. Der Pilot braucht Hilfe, richtig, und ist aus historischen Gründen nicht allzu gut auf unsere Besatzer zu sprechen. Wollen wir ihm also seine Proteine besorgen, je schneller es ihm besser geht, desto eher ist die Angelegenheit erledigt. Wo finden wir ihn denn? Ich kenne jemanden, den ich vorbeischicken könnte.«

Vickys Gesichtsausdruck versteinerte. Sie war sich sicher, dass Herr Meyer keiner Fliege etwas zuleidetat, aber sie hatte nicht vor, ein unnötiges Risiko einzugehen. Mit brüchiger, ihrer Meinung nach entschieden zu schwacher Stimme bekräftigte sie: »Ich bringe ihm die Proteine.«

Er lächelte. »Du erinnerst mich sehr an deine Mutter. Grüße sie von mir! Sie hätte all die Jahre doch mal vorbeischauen können. Oder nein. Grüße sie nicht von mir! Halte sie aus der Sache raus, okay?«

Vicky nickte zögerlich. Anscheinend kaufte sie doch nicht in diesem Laden ein. An einem Ort, an dem es gerade mal eine Eisdiele und zwei Geschäfte gab, war das mehr als merkwürdig. Das musste sie einmal näher untersuchen. Später. Sie hatte nämlich nicht vor, M’xor ihrer Mutter vorzustellen, den Ärger wollte sie sich sparen, zumal ihre Eltern noch nichts von ihrem Plan wussten, nicht mit Sammy und Tanxia aufs College zu gehen, sondern die Schule abzubrechen.

»Warte hier!«

Meyer verschwand im Hinterzimmer und kam nach einigen Minuten mit zwei Kartons zurück. Auf einem stand ›Generikum B-87a‹ und auf einem anderen ›Multispezies-Erste-Hilfe (Desinfektion, Frakturen, Brandwunden)‹.

»Mehr kann ich dir leider nicht bieten. Laut meiner Liste sollte das Generikum B87a für einen X’ur geeignet sein. Gut schmecken wird es wohl nicht, aber du kannst dir denken, dass ich keine Notfallproteine für Hunderte von Lebensformen im Keller lagere. Das Erste-Hilfe-Set wird nicht viel bringen, du kannst damit aber zumindest die Wunden säubern und verbinden. Alles andere muss ein Multispezies-Spezialist erledigen, auch deine Mutter könnte dir da nicht helfen. Hör zu, Vicky: Wenn es diesem X’ur schlecht geht, wenn er sagt, dass er weitere Hilfe braucht, dann musst du mich sofort anrufen. Frag am Telefon, ob die Knöpfe schon da sind.«

»Die Knöpfe?«, wiederholte sie dümmlich.

»Sprich nicht am Telefon über ihn, nenne seinen Namen nicht, und auch keine Speziesnummer oder den Namen seiner Spezies.«

»Ist schon klar.«

Sie war ja nicht auf den Kopf gefallen! Meyer jedoch packte sie für einen Mann seines Alters mit erstaunlicher Kraft an den Schultern und sah ihr über die Brille hinweg in die Augen. »Vicky, da draußen herrscht Krieg, das ist dir doch klar, ja? Nicht alles, was ihr in der Schule lernt, entspricht so ganz der Wahrheit. Dieser Pilot, er könnte ein einfacher Handelsreisender sein. Aber er könnte genauso gut für eine Fraktion, für irgendeine politische Gruppe arbeiten, die in diesem Augenblick gegen die Vongul kämpft, und er könnte abgeschossen worden sein. Verstehst du?«

Sie nickte und das Herz rutschte ihr in die Hose. Plötzlich wurde ihr klar, wie ernst die Sache war.

»Wenn die Xu’Un’Gil diesen X’ur bei deinen Eltern finden, dann wirst nicht nur du festgenommen, Vicky, sondern auch deine Mutter, dein Vater, dein Bruder und das halbe Dorf mit dazu.«

Sie wollte sich entschuldigen, rechtfertigen, hatte das Gefühl, er mache ihr Vorwürfe. »Ich wollte ihm doch nur helfen ...«

»Und das ist richtig so!«, bekräftigte Herr Meyer. »Du hast nichts Falsches getan! Deine Mutter wäre mit mir einer Meinung, darauf kannst du dich verlassen, und eben deshalb darfst du ihr nichts davon erzählen. Bring diese Proteine zu dem abgestürzten Piloten. Morgen kommst du zurück, in den Laden, wann immer es passt, und wir reden darüber, wie es ihm geht. Okay? Versprichst du mir das?«

Ein Klos bildete sich in ihrer Kehle und sie brachte zur Antwort nur ein heiseres Krächzen heraus.

»Warte, ich packe die Sachen ein, damit keiner die Packungen sieht, und lege noch ein paar Kleinigkeiten obendrauf.«

Mit zitternden Knien verließ sie den Gemischtwarenladen. Sie war an diesem Ort aufgewachsen, hatte immer geglaubt, alles und jeden in Terville zu kennen. Nach den Ereignissen des Tages war sie sich da nicht mehr so sicher. Und nicht nur den Ort und Herrn Meyer kannte sie schlechter, als sie angenommen hatte. Wo hatte ihre Mutter eigentlich als Krankenschwester gearbeitet? War das nicht zur Zeit der zweiten Aufstände gewesen, als sich die Menschheit noch gegen ihre Besatzer gewehrt hatte?

Vicky

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