Читать книгу Vicky - Erich Rast - Страница 9

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Am nächsten Morgen kamen die Helikopter und Transporter. Vicky war lange wach gelegen, hatte sich hin und hergewälzt, bis sie endlich der Schlaf übermannt hatte, nur um in aller Herrgottsfrühe von dem Knattern der Rotoren und dem Lärm einer Wagenkolonne aus dem Bett gerissen zu werden. Sie sprang auf und sah aus dem Fenster. Am Himmel über dem Wald kreiste ein fetter, schwarzer Armeehelikopter, robuste alte menschliche Technik, die sich die Xu’Un’Gil angeeignet hatten. Sie hatte selten einen dieser Hubschrauber aus der Nähe gesehen, aber sie wusste von ihrem Bruder, dass sie beinahe die Größe eines Hauses hatten und eine halbe Armee beherbergen konnten. Außerdem waren sie mit extrem feinfühligen Spürsensoren ausgestattet, mit Infrarotkameras und optischen Aufklärungsinstrumenten. Sie wurden eher für Aufklärung und Truppentransport eingesetzt. Trotzdem schätzte Vicky, dass das Exemplar, das über dem Wald neben der Farm kreiste, ausreichend Raketen und Plasmagewehre besaß, um ganz Terville in Schutt und Asche zu legen. Und das war nicht alles.

Gleich vor der Farm, wo der Feldweg ins Dorf führte und sie gestern eine Abkürzung ins Tal genommen hatte, kroch eine Kolonne aus Raupenpanzern und Armeefahrzeugen den Berg herauf und verwandelten die Wiese in eine Schlammgrube. Jedes der Fahrzeuge erzeugte eine Menge schwarzen Qualm, offenbar hielt man bei der Armee nicht viel vom Umweltschutz, obwohl die Erde doch nach ihrem ersten ökologischen Kollaps zur Wüste geworden war und erst nach hundert Jahren Terraforming wieder schöne Bergwiesen und Felder bekommen hatte. Nicht nur Menschen sahen aus den Luken der Panzer und saßen auf den Lastflächen der Truppentransporter, Vicky erkannte mindestens ebenso viele Echsenwesen, die ihre menschlichen Kollegen um einen guten Kopf überragten und wie gigantische Eidechsen in Tarnanzügen aussahen.

Die Kolonne fuhr in Richtung der Absturzstelle. Einige Fahrzeuge jedoch blieben auf der Wiese liegen, Soldaten sprangen von ihnen ab und stellten am Waldrand Geräte auf drei Beinen auf, die sie nicht identifizieren konnte. Eine Art Abzäunung? Ein Perimeteralarm? Zwei Jeeps zweigten sich von dem Pulk ab und kamen durch die Hofeinfahrt. Vicky dachte an M’xor und gab einen derben Fluch von sich. Das sah böse aus, wirklich böse. Wenn sie das Gehöft durchsuchten, dann fanden sie ihn, daran zweifelte sie nicht. Noch mehr fürchtete sie automatische Drohnen oder Wärmekameras. Konnte das Militär durch das Scheunendach sehen? Hatten sie nicht im Bürgerkrieg, vor ihrer Geburt, routinemäßig mitten durch Häuser und Keller geschossen? Heutzutage war fast alles möglich.

Hastig streifte sie sich ihre alten Klamotten über, obwohl sie vorgehabt hatte, sich frische Sachen anzuziehen, und stolperte beinahe die Treppe ins Wohnzimmer hinunter. Wenn sie den Bruchpiloten fanden, dann wollte sie dabei sein und die Schuld auf sich nehmen. Das war der einzige Gedanke, der ihr im Augenblick durch den Kopf ging. Sie musste klarstellen, dass ihre Eltern und ihr Bruder nichts damit zu tun hatten, würde ihnen alles erzählen. Sie war sechzehn Jahre alt, sicher schon strafmündig, aber auch noch nicht wirklich erwachsen, vielleicht ließen sie Milde walten. Sie würde sich entschuldigen, sich dümmer und kindlicher stellen, als sie war, ihnen einreden, dass sie vorgehabt hatte, gleich am Morgen ihre Eltern zurate zu ziehen und übers Netz Hilfe zu rufen. Sehr plausibel klang die Geschichte nicht, vor allem die Proteinpakete mochten gegen sie sprechen. Egal, wenigstens da sein musste sie.

Vater und Mutter waren schon wach, aber das war normal. Thomas hatte Probleme mit einem der Ernteroboter, musste ihn unbedingt in den nächsten paar Tagen auf dem Nordfeld zum Laufen bringen, und sie waren zu knapp bei Kasse, um den teuren technischen Service anzurufen. Außerdem stand er immer so früh auf. Also auch Mutter, um ihm das Frühstück zuzubereiten. Wie sie selbst betonte, war diese Hausfrauenarbeit absolut freiwillig und in erster Linie dazu gedacht, ihn davon abzuhalten, sich in der Küche zu schaffen zu machen. Vicky glaubte ihr, sie war emanzipiert und ließ sich nichts sagen, und die Geschlechtergleichheit war auf der Erde schon seit zweihundert Jahren erreicht und erst durch die Ankunft der Xu’Un’Gil wieder ein wenig aufgeweicht worden. Mutter hatte freiwillig auf die Arbeit als Krankenschwester verzichtet, nachdem sie zum zweiten Mal schwanger geworden war. Jedenfalls hatte Vicky das immer angenommen. Seit dem Gespräch mit Herrn Meyer war sie sich nicht mehr sicher.

An diesem Morgen jedoch saßen die beiden nicht am Frühstückstisch, sondern im Wohnzimmer zusammen mit Polizist Becker und dem Bürgermeister. Außerdem saß dort am Rauchglastischchen ein Xu’Un’Gil in grüner Armeeuniform und ein menschlicher Offizier. Das über zwei Meter große Echsenwesen wirkte in der Wohnung überdimensioniert, dabei waren die Decken im Haus höher als gewöhnlich. Vater hingegen sah aus, als sei er über Nacht zusammengeschrumpft, er kauerte auf dem Lehnsessel, auf dem er sie schon als Kind gehalten hatte, und sah zögerlich, fast eingeschüchtert von einem Gesprächspartner zum anderen. Mutter wandte sich als erste an sie.

»Ah, Vicky!«, rief sie.

Alle sahen sich nach ihr um, und sie hatte das Gefühl, die kleinen, dunklen Knopfaugen des Xu’Un’Gil durchbohrten sie. Jeder musste sehen, dass sie zitterte, richtig? Alle sahen, dass sie am ganzen Körper zitterte. Waren die Augen der Besatzer nicht sowieso viel empfindlicher?

»Bürgermeister Wonneberg und Herrn Becker kennst du ja schon. Du hast sie gestern getroffen?«

Sie schluckte. »Oh, ja. Ich hab’s ganz vergessen, sie –«

Mutter unterbrach sie. »Und das sind Herr Schuck’Tuf und Herr Brogli von der großen Armeebasis in Straßburg. Sie leiten einen Rettungseinsatz und würden gerne mit dir sprechen.«

Ihre Mutter lächelte, als haben sie sich alle zu Kaffee und Kuchen verabredet, aber Vicky kannte diesen Gesichtsausdruck. Sie war im Kampfmodus. Vor Jahren hatte Vicky sie schon einmal so erlebt, als Pete und seine Freunde als Kinder an Sylvester einen Böller in Richtung von zwei Soldaten der Xu’Un’Gil geworfen hatten. Sie hatten nicht einmal auf die Männer gezielt, das Ganze war bloß ein Unfall gewesen, aber sie hatten ihn mitsamt der halben Schulklasse festgenommen. Zwölfjährige Jungs! Bei den Echsen ließ sich nicht viel machen, der Bürgermeister – Wonnebergs Vorgänger – und andere menschlichen Kollaborateure jedoch hatten den Zorn ihrer Mutter erlebt, den Vicky niemandem gönnte, und das Funkeln in ihren Augen verriet ihr, dass ihr auch in diesem Augenblick ganz und gar nicht nach Lächeln zumute war.

Der Xu’Un’Gil erhob sich von seinem Kaffeestühlchen, das für seinen klobigen, gepanzerten Köper ohnehin sehr unbequem sein musste, und Vicky wunderte sich, dass es nicht unter seiner Last zusammengebrochen war. Sein menschlicher Begleiter sprang ebenfalls auf, und sie fragte sich, ob Pete schon ebenso ein Stiefellecker geworden war.

»Das ist ihr Frischling?«, erkundigte sich der Xu’Un’Gil namens Schuk’Tuf. Seine Abzeichen identifizierten ihn als Major, sie hatten die Einstufungen in der Schule gelernt. Das war ein relativ hoher Rang, was auch sein lupenreines Euroterranisch erklärte. Die meisten von ihnen sprachen bloß Intergal.

»Guten Tag.«

Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Ihr Herz pochte und ihr war speiübel. Hatten sie ihn schon gefunden? Das war die entscheidende Information, die ihr fehlte. Sie sah zu Mutter, versuchte aus ihren Augen zu lesen, und glaubte zu erkennen, dass sie nicht auf sie sauer war, sondern auf ihre Besucher.

»Beantworte ihnen einfach ein paar Fragen. Sie haben anscheinend nichts Besseres zu tun.«

Der Kommentar handelte ihr einen ausgesprochen kritischen Blick von dem menschlichen Armeetypen ein, wohingegen Vater bloß vor sich hinstarrte, als habe ihn jemand um einen besonders unbeliebten Freiwilligendienst gebeten. Becker und Wonnegut wirkten beinahe genauso eingeschüchtert wie er, die Anwesenheit der Armee schien ihnen peinlich zu sein und sie vermieden den Augenkontakt.

»Victoria Hill?«

Ihr war schrecklich heiß, das Blut stieg ihr in den Kopf. »Das ist mein Name.«

Das Echsenwesen blinzelte und stellte fest. »Sie sieht wie ein Junge aus.«

Genau wie Menschen Schwierigkeiten hatten, einen Xu’Un’Gil vom anderen zu unterscheiden, waren ihre Besatzer bloß in der Lage, Männer von Frauen anhand ihrer sekundären Merkmale zu erkennen. Das nannte man ›Xenoblindheit‹ und ihr Biologielehrer hatte daraus einen großen Terz gemacht. Nun, ihre Brüste waren nicht unsichtbar, aber eher klein, und die Haare waren kurz und verstrubbelt – nicht ganz kurz, aber auch nicht lang –, und sie trug eine abgewetzte Jeans, die außerdem verdammt dreckig war. Der Faux Pas war verzeihbar.

»Bei uns herrscht Gleichberechtigung und wir laufen herum, wie es uns passt«, rutschte es ihr heraus und sie biss sich auf die Lippen. Hoffentlich war sie nicht zu weit gegangen. Doch über die Gesichter ihrer Eltern huschte ein zufriedenes Lächeln, und den Xu’Un’Gil schien die Antwort nicht zu stören.

»Gestern ist im Wald vor eurer agrikulturellen Einrichtung ein Raumschiff abgestürzt, ein schnelles kleines Schiff der Proton-Klasse. Ist dir gestern irgendetwas im Wald aufgefallen, Frischling? Hast du einen Insassen gesehen oder die Absturzstelle begutachtet, ohne deine Erzeuger zu benachrichtigen?«

Er sprach fließend und beinahe akzentfrei, was angesichts der Verschiedenheit der Sprachorgane keine Selbstverständlichkeit war. Menschen taten hinter vorgehaltener Hand immer wieder so, als seien die Xu’Un’Gil dumm, weil sie sich oft als starrsinnig, arrogant und vergleichsweise militaristisch gaben. In Wirklichkeit wussten alle, dass der Eindruck täuschte. Die Wortwahl war nicht beliebig, sondern bewusst gewählt, um den übrigen Anwesenden klar zu machen, dass ein Kommandeur der Armee der Xu’Un’Gil Truppen es nicht nötig hatte, auf menschliche Kultur und Gepflogenheiten Rücksicht zu nehmen.

»Nichts Besonderes«, erwiderte sie mit kratziger Stimme, und fand die Antwort selbst unplausibel. Schnell fügte sie hinzu: »Es hat einen lauten Knall gegeben und ich hatte Angst vor einem Waldbrand.«

»Unsere Leute kümmern sich darum«, wandte sich der menschliche Armeetyp an sie. »Das Feuer ist bereits gelöscht. Aber das Gebiet ist bis auf Weiteres militärische Sperrzone. Du musst zum Spielen ins Dorf, darfst auf keinen Fall in den Wald gehen. Es könnte dort Strahlung geben, die dir böse wehtun kann.«

Der Mann musste vollkommen bekloppt sein. Oder sie schüchterte ihn ein, sie wusste mit Bestimmtheit, dass sie nicht mehr wie ein achtjähriges Mädchen aussah. Wahrscheinlich beides. ›Oh Gott, hoffentlich kommt Pete nicht so verblödet von seiner Grundausbildung zurück‹, dachte sie sich.

»Ich spiele nicht im Wald.«

Was ja zumindest zur Hälfte der Wahrheit entsprach. Züge zu zeichnen und über ferne Welten tagzuträumen, statt in der blöden Eisdiele herumzuhängen, das konnte man nicht wirklich als ›spielen‹ bezeichnen.

»Gibt es sonst etwas zu berichten?«, grunzte der Xu’Un’Gil. »Hast du fremde Gestalten gesehen, Personen mit nicht-terranischem Äußeren?«

Sie schüttelte den Kopf.

Schuk’Tuf zog ein Hologramm von M’xor aus der Tasche, das vor ihm posierte, als sei er aus der Scheune herübergekommen, um dem Kaffeepläuschchen beizuwohnen, und sie hätte vor Aufregung beinahe über das Rauchglastischchen gekotzt, was gewiss nicht die passende Geste zur Verbesserung der Völkerverständigung gewesen wäre.

»Hast du dieses Wesen gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn du es siehst, informiere sofort unsere Leute, die am Waldrand ein Camp aufbauen. Wir suchen dieses außerirdische Wesen. Es ist gefährlich und wahrscheinlich bewaffnet. Wenn du es siehst, benachrichtige uns! Und spiele nicht im Wald!«

»Selbstverständlich.«

Der Xu’Un’Gil wandte sich wieder an ihre Eltern und erklärte in knappen Worten, dass damit alles erledigt sei. Er und sein menschlicher Assistent stiefelten schon an ihr vorbei zur Tür, da rief Vater noch zaghaft hinterher: »Was ist mit dem Feld?«

Der Major wandte sich um. Er stand direkt neben ihr und sie stellte fest, dass er eigenartig lederartig roch, wie eine Ledertasche, die jahrelang auf einem Speicher gelegen hatte. Eine Tasche mit alten Schulbüchern.

»Darum können wir uns nicht kümmern. Die Hubschrauber müssen irgendwo landen, die Transporter irgendwo parken. Wenden sie sich für Schadenersatz an die Stadtverwaltung!«

Becker und Wonneberg blieben, und Letzterer wandte sich an ihren Vater, als die beiden draußen im Hof in ihren Jeep stiegen und sicher außer Hörweite waren: »Tut mir leid mit dem Acker, Thomas. Du weißt, dass wir nicht viel machen können.«

»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Mutter. »Wozu seid ihr eigentlich gut? Bist du nicht der Bürgermeister? Die haben einen halben Acker zerstört!«

Ihr Vater seufzte. »So schlimm ist es nicht, Aldena, ich habe ihn ja erst leer rotiert, er muss sowieso umgepflügt werden.«

Sie ignorierte ihn und wandte sich an den Polizisten. »Und du, Marius? Du stehst einfach rum und siehst zu, wie sie sich über dich hinwegsetzen? Die Armee darf rechtlich gesehen so eine Aktion gar nicht starten, das ist Polizeisache!«

Der so Angesprochene wäre am liebsten im Boden versunken, er wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. »Aldena, du weißt, wie das ist. Sie können sich die Genehmigung so oder so holen ...«

Sie sprach das Tabuwort aus, und alle zuckten zusammen, nicht bloß die beiden Besucher, auch Vater. »Kollaborateur!«

»Aldena, bitte ...«

»Kollaborateure seid ihr! Raus aus meinem Haus! Verschwindet!«

Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Bürgermeister Wonneberg warf noch einen Blick zu Thomas, keinen bösen, sondern eher einen fragenden, und dieser zuckte entschuldigend mit den Schultern. Sie machten sich an ihr vorbei aus dem Staub, wobei sie wie verschämte Schuljungs im Gehen die Hand zum Abschied hoben.

»Kollaborateure!«, rief Mutter ihnen hinterher, und Vicky war noch nie in ihrem Leben so stolz auf sie gewesen. Dabei konnte sie Vater ebenso gut verstehen. Er hatte eben keine Lust auf Ärger, wer mochte ihm das verdenken? Und nach Ärger sah diese Angelegenheit aus, nach mächtig Ärger. Sie wollte sich gar nicht die Reaktion ihrer Mutter ausmalen, falls sie erfuhr, dass der überall gesuchte und angeblich gefährliche Außerirdische dank der tatkräftigen Hilfe ihrer Tochter gerade nebenan in der Scheune ein Proteinshake schlürfte.

Vicky

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