Читать книгу Vicky - Erich Rast - Страница 17
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ОглавлениеAufmerksam studierte M’xor jede Einzelheit der Aussicht, die sich als nicht weniger monoton als die von Pradawa erwies. Kanria hatte Vicky besser gefallen, und sie war sich auch nicht sicher, ob seine Idee, die Bahnmitarbeiter direkt anzusprechen, so gut gewesen war. Sie würden doch sicher mit den Behörden zusammenarbeiten? Es konnte ja nicht das erste Mal sein, dass jemand unerlaubt zugestiegen war! Wenn die Xu’Un’Gil diesen Planeten ebenfalls besetzt hielten, dann hatten sie womöglich schon verloren. Er konnte seine Mission nicht fortsetzen, bei der es angeblich um so viele Leben ging, und sie würde nach Terra zurückgebracht.
»Vicky, ich habe gute Nachrichten. Ich kenne diesen Planeten. Da bin ich mir zu 95% sicher, und wenn ich mich nicht täusche, werde ich hier Hilfe organisieren können.«
»Er ist nicht zufällig von den Xu’Un’Gil besetzt?«
Er wandte sich zu ihr und neigte verwundert den Kopf. »Aber ja! Wir sind auf Xu’Un’Gil Territorium! Vicky, woher weißt du das? Warst du schon mal auf Pentax 3?«
Seine Augen waren wirklich bizarr groß, und so langsam hatte sie das Gefühl, aus ihnen seine Stimmung lesen zu können. Sie waren bei genauerem Hinsehen gar nicht ganz dunkel, nicht schwarz wie die Nacht, sondern eine Art Sternenschleier aus funkelnden Kristallen wanderte in ihnen herum. Er ersetzte wohl die menschlichen Pupillen, wie auch immer der Mechanismus funktionierte, und es sah mitunter aus, als enthielten die dunklen Ovale ganze Galaxien. Je nach Stimmung änderte sich dieses schwache Funkeln, das man nur aus der Nähe sehen konnte.
»Ich habe bloß geraten. Pentax 3, hm? Von den Xu’Un’Gil besetzt und trotzdem ein guter Planet?«
»Absolut perfekt! Die Xu’Un’Gil sind nicht sehr präsent, und ich kenne hier Leute, die uns helfen können. Möglicherweise.«
Seine Fühler zitterten kaum merklich, nur kurz, während er sprach, und sie war sich mittlerweile sicher, was das bedeutete. Er log, dass sich die Balken bogen, oder zumindest spielte er falsche Zuversicht vor.
»Ha! Ausgerechnet Pentax 3!«, fügte er hinzu.
»Wenigstens sind wir noch nicht vaporisiert worden«, pflichtete sie ihm bei.
»High Five!«, rief er, und gemeinsam schlugen sie ein. Sie sah auf die glühend heiße Steppenlandschaft, die ab und dann von einstöckigen, zweckbetonten, schmucklosen Funktionsbauten unterbrochen wurde, und stellte fest, dass sich ihr Enthusiasmus in Grenzen hielt. Kanria hatte weitaus einladender ausgesehen, und M’xor hatte bereits zugegeben, dass er dort gerne ausgestiegen wäre.
Schrecklicher Durst plagte sie, und dazu kam noch der Geruch von Erbrochenem, der den Waggon erfüllte. Um so froher war sie, als der Maglev-Zug nach etwa einer Stunde bereits in eine Stadt kam, die genau wie die kleineren Siedlungen oder Fabriken unterwegs wie eine Ansammlung von einstöckigen Bürohäusern aussah. Schwebebahnen und Fahrzeuge, die nur entfernt an Autos erinnerten und über dem Boden schwebten, flitzten über asphaltierte Straßen, die direkt auf den staubigen Wüstenboden geteert worden waren. Es gab keine Bürgersteige, stattdessen begrenzte schlackige Erde den Straßenrand. Nur spärlich wuchsen hie und da eine Art Gras und eine Menge Unkraut.
Wenige Fußgänger sahen sie von ihrer Warte aus, und die meisten von ihnen gehörten zu Spezies, die Vicky noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Zweifüßer mit buckeligem, knochigen Körpern, eine spinnenartige Lebensform, die der bunten Kleidung nach zu urteilen höchstwahrscheinlich vernunftbegabt war, und eine Menge Gestalten, die an Menschen erinnerten, wenn sie nicht vollkommen andere Köpfe und Gesichter besessen hätten, Münder wie die eines Ringelwurms, fünf Augen oder zwei Nasen, Trompetenohren und die Schlappohren einer Spezies, die an aufrecht gehende Dalmatiner erinnerte. Noch nie hatte sie in ihrem Leben so viele außerirdische Lebensformen gesehen und sie musste sich immer wieder daran erinnern, dass man seine Vorurteile aktiv beiseitelegen musste, dass es sich nicht um Monster, sondern um intelligente, vernunftbegabte Lebewesen handelte, und dass die meisten von ihnen im Großen und Ganzen in der Galaxis weiter verbreitet und erfolgreicher als die Menschen waren.
Der Zug verlangsamte seine Fahrt und nahm die ersten Weichen einer Anlage, die sich wenig später als gigantisches Stellwerk herausstellte.
M’xor packte die Decken in den unhandlichen Rollkoffer zurück und schob ihn vor den Ausgang. »Vicky, nimm deinen Rucksack zur Hand«, warnte er sie. »Und sag Bescheid, sobald du meinst, abspringen zu können. Da mein Versuch, die Maglev-Leute zu einer vernünftigen Entscheidung zu bringen, nicht von vollem Erfolg gekrönt war, würde ich vorschlagen, vor ihnen die Initiative zu ergreifen.«
Sie nickte ihm zu und maß die Geschwindigkeit mit ihrem Messgerät. Sie fuhren über dreißig Stundenkilometer, dabei kam ihr der Zug schrecklich langsam vor. Sie hätte die Fahrt auf Schritttempo geschätzt. Waren sie noch zu schnell?
»Lass uns rausgehen«, schlug sie vor und balancierte vorsichtig auf den Metallrost, der um den Waggon führte. Er war eng und der Rucksack ging im Weg um, aber glücklicherweise hielt sie ein Geländer davon ab, herunterzufallen. Trotz des Fahrtwindes kam es ihr wahnsinnig heiß vor. Er folgte ihrem Beispiel, und bald kauerten sie auf der schmalen Brüstung und studierten die Bahnanlagen. Alle fünfzig Meter stand ein etwa ein Meter hoher Betonpfeiler im Weg, der irgendwelche Stellwerkskabel verteilte. Gegen einen solchen wollte sie nicht springen.
»Wie warm ist es auf Pentax 3 eigentlich?«
Der Durst war unerträglich und sie fragte sich, ob sie nicht allein deshalb einen Absprung wagen sollte. Sie fuhren durch eine Stadt, da gab es Wasser. Alle Spezies brauchten das Lebenselexier, das war so ziemlich das Erste, was ihnen ihr Xenobiologielehrer in der Schule beigebracht hatte. Wenn sie sich im Nachhinein überlegte, wie wenig sie im Unterricht aufgepasst hatte, dann hätte sie sich am liebsten geohrfeigt. Sie hatte schon immer aus Terville weggewollt, warum hatte sie dann immer angenommen, sie bräuchte nichts über Außerirdische und ihre Lebensweise wissen? Sie war einfach nur faul gewesen, stellte sie fest.
»Oh, dreißig bis vierzig Grad Celsius, also für Menschen und X’ur ganz optimal.«
Da war sie sich nun nicht so sicher. Sie persönlich hielt jedenfalls zwanzig bis dreißig Grad für angenehmer und schwitzte auf der rostigen Metallbrüstung ihr letztes Wasser weg – wobei sich das nicht so anfühlte, weil es dank des Fahrtwindes schnell verdunstete.
Der Gedanke daran, zu verdursten, verschwand augenblicklich, als sie auf der anderen Seite des Bahndamms eine Gruppe von Menschen erspähte, die entlang der staubigen Straße über den verdörrten Boden am Straßenrand trotteten. »Hallo!«, rief sie voller Freude und winkte.
Einer aus der Gruppe winkte mit offenem Mund zurück, nahm die Schirmmütze vom Kopf und sah ihr erstaunt hinterher.
»Hier leben Menschen!«
»Aber ja, meine liebe Vicky!«, bestätigte M’xor voller Zufriedenheit. »Wie gesagt, dieser Planet ist ideal. Menschen stellen eine der größten Bevölkerungsgruppen von Pentax 3, man nennt sie aufgrund ihrer hohen Zahl mitunter auch die Kakerlaken der Galaxis.«
Sie strich sich eine ihrer krausen Locken aus dem Gesicht, die schon etwas länger waren als üblich, weil sie keine Lust gehabt hatte, in den Ferien zu Frau Bude vom einzigen Frisiersalon des Dorfs zu gehen. Sie hasste Frau Bude, konnte den Geruch von Chemikalien und Haarwaschmittel nicht ausstehen und schnitt sich die Haare oft selbst vor dem Spiegel zurecht. Tanxia und Sammy hatten irgendwann aufgehört, sie damit aufzuziehen, zumal ihre Nichtfrisur ihr auf eigentümliche Weise stand, wie sie fanden.
»Wirklich? So nennt man uns?«
M’xor ruderte verlegen mit den Armen umher und beteuerte mit zitternden Fühlern: »Das ist nicht böse gemeint, nur eine Neckerei unter befreundeten Spezies.«
Sie grinste breit und log ebenso: »Ich mag Kakerlaken. Sie sind echte Überlebenskünstler, weißt du.«
»Korrekt. Deshalb ist die Bezeichnung auch ... eher positiv zu verstehen.«
Der Zug quietschte und kreischte, er fuhr in eine Biegung, die so eng verlief, dass einige der Waggons offenbar aneinander schleiften, obwohl ihre gigantischen mechanischen Koppelungen mehrere Meter überbrückten. Oder die Geräusche kamen aus dem Koppelungsmechanismus selbst.
»Er fährt langsamer!«, rief sie aufgeregt.
»Kannst du springen?«
»Was weiß ich«, antwortete sie, was er wegen des Lärms nicht verstand. Sie tastete sich am Geländer zum Abgang, wo es an einer Leiter einfach unterbrochen war.
M’xor rief ihr etwas zu und wedelte aufgeregt mit den Händen in der Luft.
»Was?«
Er formte seine Greifzangen wie ein Mensch zu einem Trichter: »Deine Sachen zuerst!«
Sie verstand. Sie hatten gerade einen Pfeiler passiert. Jetzt oder nie. Hastig riss sie den kleinen Rucksack vom Rücken, verhedderte die Träger am Rand des Geländers, entwirrte sie wieder und warf ihn vom Zug. Verdammt, blieb der schnell zurück! Ob sie wirklich langsam genug waren? Sie hielt sich kurz weiter fest. Dann überwand sie den inneren Schweinehund, der schreckliche Durst half ihr bei der Entscheidung, und sprang.
Ein derber Fluch ging ihr durch den Kopf, als ein stechender Schmerz durch ihren rechten Knöchel lief und sie sofort von den Beinen gerissen wurde, als habe ihr jemand die Füße weggezogen. Sie landete auf dem staubigen Lehmboden, glücklicherweise günstig, überschlug sich einmal und blieb im verdorrten Gras liegen. Es roch merkwürdig, ganz anders als terranische Pflanzen und eigentlich sehr angenehm, nach einem Gewürz, dessen Name ihr nicht einfiel.
»Vicky, Vicky!«, rief M’xor besorgt und kam zu ihr gerannt. »Ist alles in Ordnung?«
Sie wandte sich ein wenig benommen um, setzte sich auf, sah den gigantischen Grashüpfer über sich, wie er sie, die Sonne im Zenit hinter sich, anblinzelte, dahinter die Tankwaggons mit der Aufschrift Organik Petrol Ltd., und ein Lachanfall packte sie wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie wusste selbst nicht warum, denn sie hatte sich definitiv den Fuß verstaucht, aber sie vergaß den Durst und amüsierte sich prächtig. Nicht nur sie, M’xor stimmte bald mit seinem gackernden und eigentlich erstaunlich menschlichen Tak-Tak-Lachen ein. Sie glucksten und rollten über den Boden, kosteten von dem Gras, das nach Seife schmeckte, und sahen dem Zug hinterher, der wenig später um die Biegung verschwand.
»Wir haben’s geschafft!«, stellte sie fest, nachdem der unerklärliche Übermut etwas abgeklungen war.
»In der Tat, diese Zugfahrt werden wir so bald nicht vergessen.«
Die gute Laune dämpfte sich ein wenig, als Vicky feststellte, dass ihr Geschwindigkeitsmessgerät den Sturz nicht überstanden hatte. Egal, das brauchte sie erst mal nicht mehr. Der Fuß tat ihr weh, aber er war gewiss nur verstaucht und nicht gebrochen, und der Durst plagte sie. Ansonsten ging es ihr gut, und auch M’xor hatte den Absprung gut bewältigt. Er klagte ein wenig über Hüftschmerzen, was angesichts der Verletzung kaum verwunderte, stellte jedoch klar, dass ein paar Tage Regeneration die Sache in Ordnung bringen sollten.
Seinen Rollkoffer im Schlepptau wanderten sie über den verdörrten Bahndamm in die Stadt, die sich rings um die Maglevlinie erstreckte. Gleitautos mit Elektromotor rasten über den Asphalt, bemühten sich nicht, für Fußgänger anzuhalten, was es nicht gerade leicht machte, die Straßen zu überqueren. Die Gebäude waren niedrig, schmucklos, funktional: quadratische, einstöckige Flachdachhäuser aus weiß gestrichenem Blech oder Plastik. Die Eingänge lagen etwas über dem Boden, waren üblicherweise über eine vier- oder fünfstufige Treppe mit Metallgeländer erreichbar.
»Ich habe schrecklichen Durst«, gab Vicky zu. Sie hasste es, wie ein kleines Kind zu quengeln, aber es war auch wirklich heiß. Die Sonne brannte auf ihre Köpfe herunter. Vielleicht war die Gegend deswegen so menschenleer, jedenfalls begegneten sie erst einmal nur Gleitern, deren verspiegelte, dunkle Scheiben die Insassen verbargen.
M’xor verlor trotz der Hitze seine gute Laune nicht. »Keine Sorge, Vicky. Ich glaube, diese Stadt zu kennen. Sofern ich mich nicht täusche, befinden wir uns in den Außenbezirken von Baglava, einer mittelgroßen Multispezies-Siedlung auf dem größten Kontinent von Pentax 3. Es gibt hier einen Raumflughafen, also auch eine Menge Infrastruktur. Wir müssen nur irgendwie ins Zentrum kommen.«