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Kapitel 5

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Die Sonne warf tiefe Schatten. Vicky kannte die Gegend aus dem Effeff, war den Weg in Richtung von Brenners Hof schon tausendmal gelaufen. Es gab keine Bären und keine Wölfe, und auch keine Psychokiller trieben hier ihr Unwesen, jedenfalls hatte es in den letzten zwanzig Jahren in Terville keinen Mord gegeben, wenn man von den falschen Gerüchten um Brenner mal absah. Die Xu’Un’Gil waren abgezogen, die Armeetypen waren zurück in ihre Kasernen gefahren, und trotz alledem fürchtete sie an diesem Abend jedes dunkle Waldstück, fühlte sich beobachtet und beschleunigte unwillkürlich ihre Schritte.

Nach einer halben Stunde kamen ihr die ersten Zweifel. Drohnen ließen sich vom Boden aus kaum sehen, und dazu kam noch die Satellitenaufklärung der Xu’Un’Gil, die sie durchaus als verdächtige Person identifizieren mochte. Ganz ungefährlich war die Sache nicht, schließlich waren ihre reptilienartigen Besatzer alles andere als auf den Kopf gefallen. Vielleicht hätte sie zumindest ihre Mutter um Rat fragen sollen, bevor sie sich spontan entschlossen hatte, M’xor zu helfen. Was, wenn sie aus dem Orbit heraus jedem ihrer Schritte folgten, bloß um sie später zusammen mit dem X’ur mit einem jener gefürchteten Drohnenschläge auszuradieren? Keine so abwegige Theorie, wenn man den üblichen Holosendungen glauben durfte, in denen es natürlich immer nur die Bösen erwischte. Sie wünschte sich schlechtes Wetter statt des klaren Herbsthimmels, an dem schon der Mond stand und die ersten Sterne funkelten.

Sie wischte diese wenig konstruktiven Gedanken beiseite, konzentrierte sich lieber darauf, den kürzesten Pfad zu nehmen und sich im Licht der untergehenden Sonne nicht den Fuß zu verstauchen. Nach etwa vierzig Minuten kam sie an ihr Ziel. Unter ihr, circa zweihundert Meter Richtung Tal wiegten sich die Tannen vor Brenners Haus im Wind. Hier hatten sie sich verabredet, bei einer Gruppe von Steinen, die einen regelmäßigen Kreis bildeten, als habe ein Riese sie dort gezielt abgelegt, um später damit seine ebenfalls riesengroßen Gegner zu bewerfen. Sie erinnerten ein bisschen an Stonehenge und Vicky fragte sich, ob sie vielleicht tatsächlich künstlich angelegt worden waren. Von Mx’or war keine Spur.

Sie wollte schon in Richtung des Hauses absteigen, da raschelte es neben ihr, und der Außerirdische tauchte wie aus dem Nichts auf.

»Hallo Vicky! Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt?«

Er lehnte an einem der Steine, wie sich die Jungs im Dorf an ihre ersten Autos lehnten, was sie zum Schmunzeln brachte. Ein Grashüpfer, der versuchte, sich locker zu geben und seine Verletzung zu kaschieren. Er trug denselben Pilotenanzug wie bei seiner Ankunft, wobei die linke Seite aufgeschnitten war, um den Verband inspizieren zu können, und stützte mit der Hand einen Trolli, wie diejenigen, die man bei Flügen mitnahm, wenn man nur mit Handgepäck flog.

»Nicht im Geringsten«, log sie. »Kannst du überhaupt so weit laufen? Das Ding wird dir im Weg umgehen.«

»Das Ding?«, wunderte er sich.

»Der Trolli.«

»Oh.« Er verbeugte sich tief, wobei es sich vermutlich um eine unter seinesgleichen vollkommen normale Entschuldigungsgeste handelte. »Ich habe auf die Schnelle nichts Besseres auftreiben können. Darin befinden sich Decken und Mineralwasser für die Reise.«

Das machte Sinn, sie wusste, dass die Züge mitunter tagelang fuhren, ohne anzuhalten, und frisch mochte es wohl auch ab und dann werden. Sie sah sich einmal im Kreis um und kam sich dabei wie eine erfahrene Partisanin vor, obwohl sie in Wirklichkeit einen Soldaten mit aktiver Tarnuniform wahrscheinlich nicht mal auf zwei Meter Entfernung erkannt hätte.

»Hier lang!«, wies sie den Weg in Richtung ihres Ziels. M’xor folgte ihr und hatte wider Erwarten keine Probleme damit, ihr auf den Fersen zu bleiben. Er humpelte sichtlich und ab und dann zuckten seine Fühler auf eine Weise, die ihrer Meinung nach auf Schmerzen hindeuteten, doch ansonsten bewegte er sich schnell und zielsicher, ja er schien geradezu über einen siebten Sinn zu verfügen, was den Untergrund anging. Präzise landeten seine Schritte genau an der passenden Stelle, sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und stellte fest, dass er kein einziges Mal strauchelte oder stolperte. Dabei wäre sie beinahe selbst über einen Stein gestolpert und sie beschloss, sich lieber auf den Weg zu konzentrieren, den sie schnell zurücklegen mussten, solange die Sonne noch ein wenig Licht bot. Der Mond würde ihr beim Rückweg helfen, sobald sie sich einmal an die Dunkelheit gewöhnt hatte, aber die Maglev-Züge warteten nicht. Ihren Notizen zufolge war der 22:24 Zug der beste, er führte direkt ins Daratim System, nach Daratim’El, von wo aus es für M’xor leicht sein würde, ein Raumschiff in weniger erschlossene Gebiete zu erwischen, sofern er über das nötige Kleingeld verfügte. Ob er Geld besaß oder nicht, wusste sie natürlich nicht, aber irgendeinen Plan musste er ja haben, wenn er vorgehabt hatte, sich zum europischen Zentralflughafen durchzuschlagen. Er hatte ja sicher nicht geplant, ein Schiff zu kapern, was rein technisch gesehen gar nicht möglich war.

Zwanzig nach zehn war klar, dass sie diesen Zug verpassen würden. Sie hatte sich verschätzt. Der Boden erzitterte unter ihren Füßen, ein leichter Lufthauch kündigte die kaum spürbare Druckwelle an, die Maglevzüge bildeten, und sie waren noch rund fünf Minuten von den Magnetschienen entfernt. Außerdem mussten sie zuerst über oder durch den Zaun, wofür sie vorsorglich eine Kneifzange aus dem Werkzeugkasten ihres Vaters eingepackt hatte. Sie waren jedoch schon nahe, der Zug brüllte ohrenbetäubend laut, obwohl sie ihn nicht sehen konnten.

»Das war deine Fahrgelegenheit«, merkte sie enttäuscht an.

»Es gibt stets noch mehr Gelegenheiten als nur die eine, liebe Vicky.«

Sie grinste unwillkürlich. Er drückte sich immer so aus, und sie war sich mittlerweile sicher, dass es sich nicht bloß um ein Übersetzungsproblem oder ihre mangelnden Kenntnisse des Intergal handelte.

Einige Minuten später kamen sie an den Zaun, der an dieser Stelle leider ziemlich neu und stabil aussah. Mit einer Taschenlampe leuchtete sie ihn ab und fluchte leise. Er war bestimmt zwei Meter fünfzig hoch und die rot-gelber Warnschilder schienen eben am Vortag anmontiert worden zu sein.

»Wie willst du so ein Ding nun anhalten?«, wunderte sie sich, während sie die Maschen des Zauns prüfte. Schwer zu klettern. Wenn er bloß einer fixen Idee folgte und gar keinen richtigen Plan hatte, dann war jetzt der passende Zeitpunkt, mit der Wahrheit auszupacken. Noch konnte sie ihn zu Brenners Haus zurückbringen und wäre gegen halb Zwölf schon wieder zuhause.

Er zog ein etwa handtellergroßes, rundes Gerät aus einer Tasche seines Pilotenanzugs und hielt es vor das Licht der Taschenlampe. »Ein Disruptor.«

»Hm«, grunzte sie skeptisch. Der Apparat hatte die Form einer Halbkugel. Ein paar Knöpfe mit Runen aus der Schrift der X’ur waren auf der Oberseite eingelassen. Es sah ganz bestimmt nicht so aus, als könne er tausend Tonnen Stahl und Titan anhalten, die von Kernfusionsreaktoren angetrieben wurden. »Wir müssen über den Zaun.«

M’xor untersuchte die Gittermaschen mit seinen eigenartigen Greifzangenhänden. Dann kletterte er in Windeseile in die Höhe, zog den Trolli dabei mit einer Hand hinter sich her, schwang sich geschickt, beinahe wie ein Stabhochspringer über die Oberkante und stand keine zehn Sekunden später mitsamt seines Koffers auf der anderen Seite. »Ich nehme an, für euch ›Men-shuk‹ stellt das Artefakt ein größeres Hindernis dar, sonst hätten sie es wohl nicht hingestellt.«

Das ließ sie nicht auf sich sitzen. Schon als Kind war sie auf jeden Baum geklettert. Sie kletterte hinterher, wäre auf der Oberkante beinahe gestürzt, riss sich die Hand an einem spitzen Stachel auf, und kam sich insgesamt wie ein Sack Kartoffeln vor. Außerdem brauchte sie bestimmt fünf Minuten, bis sie auf der anderen Seite wieder abgestiegen war.

»Kein Problem«, keuchte sie. M’xor hatte von ihrer Schmach und Schande allerdings sowieso nichts mitbekommen, er inspizierte mit seiner eigenen Taschenlampe die Magnetschienen. Die Hand schmerzte Vicky und sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, als sie feststellte, wie nah am Zaun hier die Schienen verliefen. Die Horrorgeschichten mochten frei erfunden sein, und trotzdem konnte einen der Sog in Richtung des Zuges ziehen, und überhaupt war sie sich nicht sicher, ob die Vibration in dieser lang gestreckten, tief gesenkten Kurve stark genug sein würde, dass sie einen ankommenden Zug rechtzeitig bemerkten. Hastig blätterte sie durch ihre Notizen. Wahrscheinlich kam der nächste erst in einer halben Stunde. Aber die hatte sie vor über einem Jahr geschrieben und die üblichen Zeiten hatten sich bereits um ein paar Minuten nach vorne verschoben. Ihr Begleiter winkte ihr zu und die Neugier siegte über die Vernunft. Er drückte die Knöpfe auf dem ›Disruptor‹ und das Gerät erwachte mit einem leisen Piepsen zum Leben. Die Unterseite pulsierte in blauem Licht. Mit einem Klacken saugte es sich an einen kleinen grauen Metallkasten fest, der in etwa vier Meter Abstand neben den Schienen montiert war. Vicky kannte diese Kästen, sie standen ungefähr jeden Kilometer entlang der Strecke und sammelten Sensordaten.

»Fertig«, stellte M’xor zufrieden fest. »Jetzt müssen wir so weit wie möglich in Fahrtrichtung laufen.«

Daran hatte sie gar nicht gedacht. ›Dispruptor‹ hin oder her, natürlich hielt so ein Zug nicht innerhalb von ein paar Metern an. Gemeinsam zogen sie in passendem Abstand zu den Gleisen im Licht der Taschenlampen in die Richtung ihrer Lieblingsstelle, die ja ohnehin auf dem Weg zurück zum Hof ihrer Eltern lag, und sie nutzte die Gelegenheit, ihn über den Rest der Galaxis auszufragen. Sie löcherte ihn mit Fragen über all die berühmten Orte weit jenseits von Terra, die sie nur aus Holodokus und dem Astrografieunterricht kannte. Ob er schon mal auf Pan’marak gewesen sei, wie viele Spezies er bisher kennengelernt hatte, welche Raumschiffklassen er geflogen sei, und so weiter, und er beantwortete alle ihrer Fragen geduldig, wenn auch ein wenig knapp, weil er vermutlich anderes im Kopf hatte.

Als schließlich ein Zittern ankündigte, dass ein Zug kam, waren sie von ihrer vertrauten Stelle noch weit entfernt.

»Oh je«, kommentierte sie das Beben, das M’xor offenbar ebenfalls sofort wahrgenommen hatte.

»Aber nein, wir sind genau richtig«, beschwichtigte er sie. »Ich werde auf einem weiter hintenliegenden Wagen aufsteigen. Vicky –« Er wandte sich an sie und fasste sie um beide Schultern. »Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Ich danke dir vielmals für deine Hilfe! Ob ich nun Erfolg habe oder Scheitern werde, du sollst die Gewissheit haben, dass du dabei geholfen hast, Millionen von Leben zu retten!«

Sie erschauderte und ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Er hatte stets betont, wie wichtig seine Mission war, aber von solchen Größenordnungen hatte er bisher nicht gesprochen. »Millionen?«, wiederholte sie dümmlich.

Seine Antwort ging in einem Höllenlärm unter, als der Maglev--Zug mit dem üblichen Orkan an ihnen vorbeirauschte. Er schien überhaupt nicht abzubremsen, Vicky glaubte, sich sicher zu sein, dass M’xors Gerät keinerlei Effekt gehabt hatte. Doch der Boden vibrierte heftiger, als sie je erlebt hatte, wie ein Erdbeben schwankte er, und die hintereinandergeschalteten Lokomotiven gaben ein lautes Kreischen von sich, dass sie noch nie gehört hatte.

»Was zum Teufel!«, rief sie und hielt sich die Ohren zu. Der Lärm verstärkte sich, er hörte sich wie das tausendmal vervielfachte Kratzen einer Gabel über Porzellan an, ein infernalisches Geräusch, bei dem sich einem die Nackenhaare sträubten. Unwillkürlich schrie sie selbst, als falle sie in einen Abgrund, wohingegen M’xor interessiert die hausgroßen Waggons studierte, die einer nach dem anderen an ihnen vorbei ratterten. Sie beruhigte sich, obwohl der Lärm nicht nachließ, sondern eher weiter zunahm, und ihr fiel auf, dass sich der Zug tatsächlich verlangsamte. Schon nahm sie die Zwischenräume zwischen den Waggons deutlich wahr, die normalerweise verwischten und nur durch das Flattern der Druckwellen bemerkbar waren. Die Aufschriften der Transportunternehmen waren klar erkennbar, was ihr sonst so viel Mühe kostete.

Eine Serie von weiß gestrichenen, gigantischen Tankwaggons der Firma Organik Petrol Ltd. ratterte an ihnen vorbei, sie schienen kein Ende zu nehmen, und schließlich kam der gesamte Zug mit einem schrecklichen Crescendo von Quietschgeräuschen und Kreischen von Metall auf Metall zum Stillstand. Vickys Ohren piepsten und fühlten sich taub an. Die Stille danach erwies sich als nervenaufreibender als der gewaltsam laute Bremsvorgang. Zu beiden Seiten schwebten, von den Magneten gehalten, die gigantischen Tankwagen, die für M’xor vollkommen unbrauchbar sein mussten.

»Es wird nunmehr ein schnelles Handeln vonnöten sein«, merkte M’xor an. Seine Stimme hörte sich an, als spräche er durch Watte.

»Nach vorne!«, rief sie, und fiel in einen leichten Trab. »Ich habe Kastenwaggons von Pren’Fex gesehen, die sollten empfindliche Elektronik enthalten. Vier Waggons weiter!«

M’xor ließ sich das nicht zweimal sagen. Gemeinsam spurteten sie los, und nach etwa zweihundert Meter im Dunkeln, wobei sie mehrfach beinahe gestolpert wäre, stellte sie voller Zufriedenheit fest, dass sie sich nicht geirrt hatte. Am ersten Wagen vor den Tankern hielt sie an und atmete tief durch. Sie hatte Seitenstechen, dabei war sie wirklich sportlich. Wie M’xor es schaffte, trotz der Verletzung mitzuhalten, war ihr ein Rätsel. Die X’ur waren verdammt fit, so viel stand fest. Sie zuckte zusammen, als sie aus der Ferne Schnalz- und Knacklaute vernahm, die eindeutig nicht-menschlichen Ursprungs waren. Bis zu zehn Mitarbeiter fuhren in den Zügen mit, und natürlich stammten sie nicht von der Erde. Sie riefen sich etwas zu.

»Wie lange hält er?«, flüsterte sie.

»Ich weiß es nicht, Vicky, doch würde ich dir empfehlen, dich aus dem Staub zu machen. Du warst mir eine große Hilfe!«

Eine Metallleiter führte auf eine schmale Stiege aus Gitterrosten, die um den Waggon herumführte, der in etwa zehn Meter hoch sein mochte und sich im Mondlicht wie ein bedrohlicher Schatten über sie erhob. Sie wagte nicht, die Taschenlampe einzuschalten. Oben angekommen, rüttelte sie an einer Schiebetür, die normalerweise den Packarbeitern diente. Sie war verschlossen.

»Sie ist elektronisch verriegelt«, erklärte ihr M’xor, der lautlos neben ihr aufgetaucht war. »Vicky, du musst los! Ich komme von nun an klar.«

Sie nickte, und schwang sich von dem Waggon herunter. Statt sich allerdings aus dem Staub zu machen, sah sie voller Neugier zu, wie er an einem Tippschloss herumfummelte, bis sich in der Tat die Tür mit einem Zischen öffnete. Weißer Wasserdampf strömte aus dem Inneren. Er wandte sich zu ihr um und winkte mit hoch erhobenen Armen.

»Mach es gut, Vicky!«

Sie traute sich wegen der Gleisarbeiter nicht, etwas zurückzurufen, erwiderte stattdessen die Geste. Alles lief so schnell, dabei kam es ihr vor, als seien seit seiner Ankunft Monate vergangen. ›Was für eine verrückte Geschichte!‹, ging ihr durch den Kopf. ›Tanxia und Sammy werden mir das nie glauben!‹

Da fluteten plötzlich Suchscheinwerfer die Bahnanlagen vor ihr in gleißendes Licht, es wurde taghell, und aus einem Megafon brüllte eine Stimme: »Das ist eine Kontrolle der vereinigten Streitkräfte der Xu’Un’Gil! Bewegen sie sich nicht von der Stelle und heben sie die Arme!«

»Scheiße«, flüsterte sie und das Herz fiel ihr in die Hose. Sie hörte das Brummen von Dieselmotoren und das tiefe Knattern eines Helikopters. Sie stand im Schatten, doch keine zehn Meter weiter vorne wanderten die Suchscheinwerfer den Zug entlang. Schlimmer noch, sie vernahm menschliche Rufe auf der anderen Seite des Zauns.

»... weiter links absichern ...«

»Warum ist er stehen geblieben?«

Soldaten. Wo waren die so plötzlich hergekommen? Vor Schreck erstarrt verharrte sie erst einmal, und auch M’xor schien es nicht anders zu ergehen. Sie sah hinter sich und hörte raue Männerstimmen, und natürlich war da der Zaun, über den sie niemals unbemerkt klettern konnte, solange es im Wald dahinter vor Soldaten wimmelte. Sie hatten die Suche nicht aufgegeben. Wie hatte sie überhaupt nur annehmen können, sie seien schon nach zwei Tagen unverrichteter Dinge abgezogen?

Die Stimme meldete sich wieder über das Megafon, diesmal auf Intergal: »Diese ist eine Kontrolle der vereinten Streitkräfte der Xu’Un’Gil unter Vongul-Vollmacht! Wir fordern das Bahnpersonal auf, sich zu einer Überprüfung bereitzuhalten!«

Sie schüttelte sich, um die Schreckstarre zu überwinden, und entschloss sich kurzerhand zur Vorwärtsverteidigung. Nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätte. Hastig kletterte sie die Leiter zurück.

»Das ist unvorhergesehen«, stellte M’xor fest.

Sie schob ihn praktisch in den Wagen und folgte ihm. Kaum waren sie drinnen, erfasste sie das blendende Licht eines weiteren Suchscheinwerfers.

»Kannst du die Tür schließen?«

»Ich sehe nicht viel«, gab er zu. »Meine Augen brauchen ein wenig Zeit, sich wieder anzupassen.«

Auch sie sah nichts, aber sie hörte, wie ziemlich nahe, vielleicht ein zwei Waggons weiter, auf Intergal ein Streit ausbrach. Einer der beiden Streitenden sprach mit einem merkwürdigen, harten Akzent, den sie noch nie gehört hatte, der andere definitiv mit einem menschlichen. M’xor horchte ebenfalls auf und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, zu schweigen.

»Das Gelände ist Teil des Maglev-Konglomerates«, verteidigte sich der Bahnmitarbeiter.

»Warum haben sie den Zug gebremst?«

»Ein Leitwerkfehler, das kommt vor. Wir prüfen die Wagen auf mechanische Schäden.«

»Tut mir leid, wir haben unsere Befehle.«

Die Stimmen kamen näher.

»Ich muss über Funk den Zugleiter um Genehmigung fragen. Sie dürften auf dieser Seite des Zauns gar nicht herumlaufen.«

»Sucht den Zug ab!«, befahl der menschliche Offizier und einer seiner Untergebenen bestätigte die Anweisung.

Sein Gegenspieler gab einige Klacklaute in seiner Sprache von sich, wahrscheinlich einen Fluch, und weitere Bahnarbeiter schienen dazuzukommen, bis Vicky in dem Gewirr aus aufgeregten Schnalzen und menschlichen Stimmen nichts mehr verstand.

Es war verdammt dunkel im Waggon, man konnte die Hand nicht vor Augen sehen.

»Wir müssen uns verstecken!«, stellte sie im Flüsterton fest.

»Du hast recht.«

Er fand endlich den richtigen Schalter, und die Tür schloss sich hinter ihnen mit einem nervtötend lauten Zischen. Vollkommene Dunkelheit umhüllte sie, bis der Schein von M’xors Taschenlampe das Innere des Wagens erhellte.

Frachtpaletten, am Boden mit Stahltrossen verankert, stapelten Container auf Container. Die meisten waren mit Planen überdeckt und aufwendig verzurrt; Halteseile aus Stahldraht hielten die Konstruktion nach allen Seiten fest. Die einzelnen Transportbehälter waren zusätzlich mit durchsichtigen Plastikfolien bezogen, wahrscheinlich um sie vor Feuchtigkeit zu schützen. M’xor wies auf einen engen Gang zwischen den Paletten. »Hier lang!«, flüsterte er.

Sie zwängten sich durch die Lücke, Vicky passte kaum zwischendurch, und tasteten sich um Halbdunkeln an einem jener gigantischen Container entlang, bis sie in den nächsten Zwischenraum kamen. Eine Plane war wie ein Zelt über eine weitere Palette gespannt worden. Die Stahlseile endeten in Schlaufen, die mit Vorhängeschlössern in handtellergroßen Karabinerhaken verankert waren. Die Tür des Waggons öffnete sich mit einem lauten Zischen hinter ihnen, Bahnarbeiter und Soldaten strömten in den Raum, und leider fand einer von ihnen den Lichtschalter, von dem sie nichts geahnt hatten. Natürlich hatte so ein hausgroßer Wagen auch Licht!

Vicky kroch in Windeseile unter die Plane, und M’xor folgte ihr. Die Soldaten stritten sich weiterhin mit den Bahnarbeitern, hatten sich aber offenbar durchgesetzt.

»Da, sehen sie! Wir transportieren Fracht, keine Menschen! Überhaupt, sind diese Waggons keine Druckbehälter und nicht mit Sauerstoff versorgt. Hier mitzufahren wäre lebensmüde.«

»Die Tür war offen«, beharrte einer der menschlichen Soldaten, und dann schlug Vickys Herz schneller, als sie eine Stimme hörte, die eindeutig einem Xu’Un’Gil gehörte. Ob es derselbe war, der sie zuhause befragt hatte, konnte sie nicht erkennen; sie klangen alle gleich, wenn sie Intergal sprachen.

»Wir müssen den Container durchsuchen, sowie die übrigen. Dieser Zug hat scheinbar ohne jeden Grund gehalten.«

»Fehler im Leitwerk, das kommt schon vor.«

»Ich muss dennoch kraft der Autorität der Streitkräfte der Xu’Un’Gil und gemäß des Vongul-Vasallenvertrages darauf beharren.«

»Das ist gegen die Intergal-Verordnungen, die auch die Vongul unterschrieben haben!«, beschwerte sich der Bahnarbeiter. Die Stimmen näherten sich und die Lichtkegel von kräftigen Taschenlampen wanderten über die Plastikplane vor ihrem Versteck, obwohl das Deckenlicht den Waggon ohnehin taghell ausleuchtete.

»Ich bestehe darauf!«

»Wenn sie das auf ihre Kante nehmen. Alle Wagen können sie sich sowieso nicht ansehen, wir müssen innerhalb von fünfzehn Minuten weiter, sonst stören wir die nachgehenden Züge, dafür wollen auch sie nicht verantwortlich sein, glauben sie mir!«

»Durchsucht den Wagen!«, befahl der Xu’Un’Gil seinen überwiegend menschlichen Untergebenen barsch. »Und zwar flott!«

Der höhere Offizier und die Bahnarbeiter entfernten sich wieder, doch die Soldaten blieben. Vicky wagte kaum, zu atmen. Vor dem Zug hätte sie sich vielleicht noch herausreden können, besonders auf der anderen Seite des Zauns, aber wenn man sie hier zusammen mit dem X’ur fand, dann sah die Lage nicht allzu rosig aus. Und nicht bloß für sie, sondern wie Vater und Mutter ihr eindringlich klargemacht hatten, für die ganze Familie. Eine Weile lang hörte sie gar nichts, dachte schon, dass sich die Soldaten mit der anderen Hälfte des Wagens zufriedengaben, da plötzlich erklang dicht neben ihr ein Keuchen. Sie warf einen ängstlichen Blick auf M’xor, der die Fühler und den Kamm zurücklegte, als habe er sich frisiert. Er zitterte.

»Mann, das ist eng!«, beschwerte sich ein Soldat. Es klang, als stünde er direkt neben ihrem Versteck. Er musste sie jeden Moment sehen, die Plane bot bei diesem Licht kaum Schutz, denn sie ließ die Ecken offen, an denen die Stahlseile befestigt waren.

»Das ist doch Scheiße«, merkte einer an. Vicky lugte aus ihrem Versteck und sah keinen halben Meter vor sich einen großen schwarzen Springerstiefel. Der Mann leuchtete die andere Seite ab, wo zwischen den Containern eine dunkle Lücke war, in die allerdings selbst sie nicht gepasst hätte.

»Mach hin!«, meldete sich ein zweiter Soldat, der offenbar schon weitergelaufen war. »Er hat gesagt, dass wir uns beeilen sollen!«

»Der Echsenarsch könnte selbst mal einen von seinen Krüppelfingern bewegen.«

»Pass lieber auf, dass du durchs nächste Screening kommst, du Psycho!«

Die Stiefel wandten sich ihnen zu, jetzt wäre wohl der Augenblick gewesen, an dem sie herausspringen sollten, um ihn bewusstlos zu schlagen. Statt jedoch wie erwartet einen Blick unter die Plane zu werfen, lief er an ihrem Versteck vorbei, zwängte sich an der Kante mühsam durch den Zwischengang und schloss wenig später zu seinem Kollegen auf. Ein Zischen verriet ihnen, dass auf der anderen Seite des Waggons eine zweite Tür eingebaut sein musste, und die kalte Abendluft zog durch den Wagen.

»Hier ist niemand«, stellte einer der beiden fest, und die Tür glitt, ob per Knopfdruck oder automatisch, hinter den beiden zu. Sie waren wieder allein, doch wagte Vicky nicht, etwas zu sagen, und auch M’xor schwieg. Die Soldaten hatten das Licht angelassen.

»Du musst aussteigen«, meldete sich nach einiger Zeit M’xor zu Wort. »Vom Zug runter, meine liebe Vicky!«

Sie gab vor lauter Anspannung ein nervöses Lachen von sich, das ziemlich irre klang. »Was du nicht sagst ...«

Sie zwängten sich aus ihrem Versteck und stellten fest, dass sie im Halbdunkel den falschen Weg gewählt hatten. Auf der anderen Seite der Paletten verlief ein komfortabler Gang mit Gitterboden, über den man bequem an der Außenseite der verzurrten Fracht vorbeilaufen konnte. Er war leicht erhöht, zwei Metallstufen führten trennten ihn vom Rest des Waggons. Darunter zogen Leitungen und Rohre.

»Kein Sauerstoff«, flüsterte Vicky.

»Das habe ich mir auch gerade gedacht ...«

Als sie an die hintere Tür des Wagens kamen, lief mit einem Mal ein heftiger Ruck durch den Zug, der Vicky beinahe von den Füßen geworfen hätte.

»Oh jemine«, murmelte M’xor, wie immer auf etwas altertümlichem, aber fehlerfreiem Intergal. Hastig fummelte er an dem Türpanel herum, das wie ein Tippschloss aussah, doch er vertippte sich.

»Er fährt los!«, kommentierte Vicky das Offensichtliche und spürte die Panik in sich aufsteigen. Sie war sich nicht sicher, ob sie nicht lieber den alten Echsenköpfen in die Hände fallen sollte. Immer noch besser, als zu ersticken? Wahrscheinlich. »Beeil dich doch!«

Er tippte erneut, und das Display zeigte an: »Öffnen während der Fahrt verboten.«

Das Gefühl der Beschleunigung war eindeutig. Entweder waren die fünfzehn Minuten bereits um, oder das Zugpersonal hatte sich durchgesetzt. Immerhin waren die Zugverbindungen durch spezielle Verträge geschützt, das hatten sie sogar in der Schule gelernt. Sie bildeten ja auch das Rückgrat des intergalaktischen Handels – zumindest für diejenigen Planeten, für die man einen Bahnhof eingerichtet hatte.

M’xor tippte in Windeseile eine Kolonne unverständlicher Zahlen ein, und die Anzeige schaltete mit einem laut hörbaren Klicken um. »Notfallentriegelung«, las das Display. Diesmal glitt die Tür nicht, sondern sprang mit einem Knall auf. Weißer Rauch aus der Hydraulik nahm ihnen einen Augenblick lang die Sicht. Der Wind verwirbelte ihn und trieb ihn ins Innere, und sie sahen die Schatten der Bäume an sich vorbeiziehen.

M’xor sprang auf die Brüstung und zog sie hinter sich her. Sein Griff war hart wie Stahl und tat ihr weh. »Vicky, du musst abspringen!«

»Er ist zu schnell!«, rief sie. Der Fahrtwind war bereits mächtig, sie konnte die Geschwindigkeit nicht schätzen, dazu war es zu dunkel, man sah ja kaum den Bahndamm, doch die Bäume bewegten sich viel zu schnell. Sie schätzte mindestens zwanzig, vielleicht dreißig Stundenkilometer, und sie erkannte die Stelle wieder. Bald kamen sie an ihren Lieblingsplatz.

»Du musst dich abrollen!«, rief M’xor.

Einen Moment lang hatte sie den Verdacht, er wolle sie über die Brüstung stoßen, dann ließ er sie los und leuchtete mit der Taschenlampe neben die Gleise.

»Er ist schon zu schnell«, stellte sie fest. Und er beschleunigte rapide, sie schätzte ihre Fahrt auf mindestens sechzig Stundenkilometer.

Mx’or wedelte mit den Fühlern hin und her, was ihm im Mondlicht und auf einem Maglev-Zug ein ausgesprochen außerirdisches Aussehen verlieh.

»Ich verstehe. Ihr Men-shuk seid körperlich weniger widerstandsfähig. Nun, ich schlage vor, wir begeben uns wieder ins Innere. Du kommst auf den nächsten Planeten mit und dann bringen wir dich zurück. Kein Problem, meine liebe! Mach dir keine Sorgen!«

»Ich mache mir trotzdem Sorgen«, erwiderte sie kaum hörbar. Der Fahrtwind übertönte sie bereits.

»Was?«

»Ich mache mir trotzdem Sorgen«, wiederholte sie, diesmal geschrien. »Kein Sauerstoff ...«

»Richtig, eine bedenkenswerte Äußerung. Hoffen wir das Beste.«

Sie kletterten ins Innere zurück und M’xor versuchte, die Tür wieder zu schließen, die sich jedoch mit dem Hinweis ›notfallentriegelt‹ weigerte. Der Fahrtwind wurde unerträglich, schien sie aus dem Waggon ziehen zu wollen, also verzogen sie sich in die Mitte, in den Gang zwischen den Paletten.

»Was ist das Beste?«, erkundigte sich Vicky, die noch Schwierigkeiten hatten, diese unvorhergesehene Wendung der Dinge zu verarbeiten. Sie befand sich auf einem Maglev-Zug, der auf fremde Planeten fuhr. Sobald sie in das Wurmloch eintraten, trennten sie augenblicklich Lichtjahre von ihrer Heimat, von ihren Eltern, von ihrem gemütlichen Zimmer, von ihren Freundinnen und von allem anderen, was sie in ihrem bisherigen Leben als selbstverständlich hingenommen hatte.

»Dass der Zug nicht durchs Vakuum fährt«, erklärte M’xor, und fügte, wohl angesichts ihres wenig erfreuten Gesichtsausdruckes mit gespielter Zuversicht hinzu: »Aber keine Sorge! Nur selten fahren Züge ohne Druckkabinen durch den leeren Raum. Nehme ich an. Das kann der meisten Fracht nicht allzu gut tun.«

Wie oft hatte sie sich ausgemalt, in einem Maglev mitzufahren! Und wie sich doch mal wieder die Wirklichkeit von der Fantasie unterschied! Zum Beispiel hatte sie sich den Höllenlärm nicht vorgestellt, den eine offene Zugtür verursachte. Der Wind bretterte wie ein Orkan an der entriegelten Tür, zerrte an den flatternden Planen und die Paletten samt ihrer Fracht begannen nach wenigen Minuten, als der Zug seine reguläre Fahrtgeschwindigkeit erreichte, zu vibrieren und zu rattern, als drohten sie sich jeden Moment aus ihren Verankerungen zu lösen und die illegalen Fahrgäste zu erschlagen. Die Maglev-Züge waren nicht für den Personenverkehr ausgelegt, jedenfalls nicht diese Güterzüge mit ihren abgenutzten Frachtwaggons. War überhaupt jemals jemand erfolgreich als schwarzer Passagier auf einem mitgefahren?

»Wir sollten unter eine der Planen«, schlug M’xor vor, »um wenigstens ein bisschen den Wind abzuhalten. Immerhin haben wir Licht, das ist schon etwas.«

Wenn er versuchte, ihr die Furcht vor der Zugfahrt zu nehmen, dann gelang ihm das nur mäßig, denn er legte bei allen seinen aufmunternden Kommentaren die Fühler zurück oder erzitterte kurz am ganzen Körper, und sie war sich verdammt sicher, dass diese unbewussten Signale Stress und Angst bedeuteten.

Sie richteten sich unter einer der Abdeckplanen ein, wo es weniger zog, und er holte aus seinem Koffer zwei dicke, geblümte Decken und ein Kissen. Die Sachen musste er Brenner geklaut haben. Außerdem hatte er zwei 1,5 Liter Flaschen und zwei Proteinrationen für seine Spezies eingepackt. Vicky prüfte den Inhalt ihres kleinen roten Rucksacks und stellte fest, dass sie nicht wirklich für interstellare Reisen ausgerüstet war. Er enthielt eine Tüte Erdnussflips, den Klappstuhl aus Plastik, für den sie wohl keine Verwendung finden würden, ihre leichte Winterjacke, in die sie sich sofort einpackte, einen halben Liter Wasser, zwei Müsliriegel, ihr Notizzeug und den üblichen Kleinkram, zu dem wenigstens ein Aspirin und drei Tampons zählten. Einen Schlafsack und eine Isomatte hätte sie einpacken sollen. Und auf jeden Fall mehr Wasser. Massiv mehr Wasser. Definitiv auch selbstwärmende Mahlzeiten, eine Erste-Hilfe-Ausrüstung, Wasserdesinfektionsmittel, eine wirklich warme Jacke, Ersatzklamotten, Handschuhe, und so weiter. Sie zog eine unglückliche Grimasse. Oder nichts dergleichen und stattdessen eine große Sauerstoffflasche mit zugehöriger Atemmaske.

Der Eintritt ins Wurmloch überraschte sie beide, sie hatte in der Aufregung vergessen, die Minuten mitzuzählen. Der Übergang fühlte sich wie nichts an, was sie je zuvor erlebt hatte. Als falle sie nach vorne, ein schrecklicher Eindruck, bei dem der Körper ganz automatisch schlussfolgerte, dass er im Sterben lag. Das Herz hämmerte, der Puls raste, und sie dachte kurz, sie ersticke. Der Fahrtwind ließ nach und die Lautstärke der Fahrtgeräusche nahm sehr plötzlich ab.

»Da ist kein Sauerstoff drin!«, japste sie.

M’xor legte seine warme Greifzangenhand auf ihren Arm, was sie erstaunlicherweise beruhigte. »Sei unbesorgt, Vicky, die Luft ist bloß ein wenig dünner, doch die beiden Planeten, die das Wurmloch verbindet, besitzen beide eine atembare Atmosphäre.«

»Woher willst du das wissen?«

»Deine Lungen wären sonst zerplatzt und auch mir ginge es nicht gut, und außerdem wäre der Eingang durch ein stärkeres Flirrfeld geschützt worden. Sonst entwiche ja die ganze Erdatmosphäre in den Hyperraum.«

Richtig, richtig. Sie hatte keine Ahnung, was ein Flirrfeld sein sollte, aber die Erklärung klang plausibel. Der anfänglichen Panik wich die Neugier.

»Können wir rausschauen?«

»Ja, obwohl es generell nicht empfohlen wird. Nimm die Decken mit. Es wird kalt sein.«

Der Wind vor der Waggontür hatte trotz der dünneren Luft an Heftigkeit nicht nachgelassen. Aus Angst, ins Freie gezogen zu werden, hielt Vicky einen ordentlichen Sicherheitsabstand. Außerdem war es bitterkalt, die Temperatur musste seit ihrer Abfahrt um fünfzehn Grad gesunken sein und schien weiter zu fallen. Sie sah den Atem vor sich und packte sich in die beiden Decken ein, die M’xor ihr ohne Wenn und Aber zur Verfügung stellte. Er hatte sie für sich eingepackt, musste also selbst frieren.

»Was zum –«, entfuhr es ihr, als sie zum ersten Mal aus der offenen Tür sah, und sprach den Rest des Satzes nicht zu Ende. Der Anblick entsprach überhaupt nicht den Holos von Hyperraumfahrten, die sie im Netz studiert hatte, offenbar waren gewöhnliche Kameras nicht in der Lage, die Szenen einzufangen. Auf den Holos hatte das bloß wie eine farbige Schmiere ausgesehen. In Wirklichkeit zogen komplexe Muster in allen Farben an ihnen vorbei, psychedelische Wellen und Blasen, die ihrerseits tausend Muster ›enthielten‹, und so weiter bis ins Unendliche, was den Eindruck erzeugte, man sähe in alle Richtungen wie in eine Röhre aus bewegten Kaleidoskopen, nur dass diese sich mitbewegte, wohin man auch sag, und alles sich ständig änderte.

»Vieldimensionale fraktale Dekompositionen des Sternenlichts im Normalraum«, erklärte ihr M’xor. »Unsere Gehirne übersetzen die Mehrdimensionalität in Bewegungen, wir nehmen ja bloß eine vierdimensionale Raumzeit wahr. Es wird im Allgemeinen empfohlen, nicht stundenlang hineinzustarren.«

»Das ist wunderschön ...«

»Ich sehe mir die Muster auf Raumflügen gerne an. Nach einer Weile, finde ich, bekommt man ein gewisses Gefühl für ihre statisch geordnete elfdimensionale Struktur. Oder zumindest bilde ich mir das ein, meine liebe Vicky. Zugegebenermaßen kenne ich mich mit der zugrundeliegenden Theorie nicht aus.«

Sie wollte den Platz vor der Tür nicht verlassen, aber die Kälte biss sich geradezu durch ihre Knochen und sie hatte Angst, allein beim Zusehen zu erfrieren. »Warum ist es so kalt?«

»Das Weltall ist kalt, meine liebe, kalt und unbarmherzig. Nur an den beiden Enden wird dem Wurmloch Temperatur zugeführt. In der Mitte hingegen dissipiert es Entropie in den Normalraum.«

Sie hauchte sich in die Hände und rieb sie, um sie warm zu halten, jedoch mit nur mäßigem Erfolg. »Das verstehe ich nicht.«

»Irgendwo im All wird es den Bruchteil eines Bruchteils eines Grads wärmer. Dafür wird es bei uns kalt.«

»Wie kalt?«

Er zuckte in einer sehr menschlichen Geste mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich fliege normalerweise in einem gut beheizten Raumschiff. Ich schätze, das hängt von der Länge des Wurmlochs ab ...«

Vicky

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