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Kapitel 6
ОглавлениеDie Kälte kroch ihr in die Knochen, schien sie zu durchdringen. Als Ersatz für Erdnussflips und Müsliriegel träumte sie bald von einer heißen Suppe, von einem dampfenden Becher Kaffee mit Zucker, von einem Kohleofen. M’xor ging es nicht besser, er begann, sich am ganzen Körper zu schütteln und lief blau an. Er wurde lethargisch, jede Antwort schien ihn große Anstrengung zu kosten. Sie teilte die Decken mit ihm und stellte fest, dass seine Außentemperatur nahe des Gefrierpunkts liegen musste.
»Du bist ja kalt wie ein Eisklotz!«, flüsterte sie und hustete. Der Wasserdampf aus ihrem Atem schien in der Luft zu gefrieren.
Mühsam presste er die Worte heraus: »Das ... ist normal. Ich halte ... Kerntemperatur aufrecht.«
Sie versuchte, ihn durch Anhauchen aufzuwärmen, doch nützte das nichts, und die Temperatur fiel weiter. Sie hatten bestimmt schon zwanzig, dreißig Grad unter Null, dafür waren die Decken, die er eingepackt hatte, nicht geeignet. Sie wollte einen Schluck Wasser nehmen und stellte fest, dass es in der Plastikflasche eingefroren war.
Sie zitterte nun ebenfalls am ganzen Körper. »Wir erfrieren.«
»Bald ... wieder wärmer«, keuchte M’xor. Dann legten sich seine Fühler und der bunte Drachenkamm zurück, er rollte sich beinahe zu einer Kugel zusammen und blieb still liegen. Sie tastete nach ihm und fühlte keine Regung. Die merkwürdigen, heißen Wallungen unter seiner Haut hatten aufgehört.
»Wir müssen ein Feuer machen«, sagte sie zu sich selbst. Sie suchte in ihrem Rucksack nach einem alten Feuerzeug, das sie glaubte, einmal eingepackt zu haben, konnte es jedoch nicht finden und fühlte sich außerdem schrecklich schwach. Sie bekam kaum mehr die Reißverschlüsse auf. Sie gab den Versuch auf, ein Feuer zu entfachen, rollte sich stattdessen selbst zusammen und fiel in ein Wachdelirium.
Wenig später wurde es wärmer, und zwar nicht langsam, sondern schlagartig. Es fühlte sich an, als habe jemand am Eingang zum Waggon einen gigantischen Föhn angeschaltet, der von einer Sekunde auf die andere mit voller Heizkraft lospustete. M’xor erwachte aus seiner Starre und putzte mit den Greifzangenhänden seine Fühler, die wahrscheinlich von allen Körperteilen am empfindlichsten waren.
»Wie geht es dir?«, erkundigte er sich.
»Ganz okay, erfroren bin ich noch nicht, aber ich hatte Angst um dich.«
»Wir beginnen bei minus 10 Grad zu hybernieren, ein Zustand, in dem wir Temperaturen von bis zu minus 60 Grad aushalten können. Leider sind wir dann auch nicht mehr besonders handlungsfähig.«
»Es wird wärmer«, stellte sie fest und schlug die Decke beiseite. »Verdammt schnell.«
»Wir müssen dem Ausgang nahe sein. Warme Luft strömt ins Innere und erzeugt mit der kalten heftige Turbulenzen.«
Das Wasser in den Flaschen taute bereits auf, und schon zwei Minuten später zog Vicky ihre Winterjacke aus und inspizierte Nase und Hände. Sie hatte einmal ein Holo über Bergsteiger gesehen und fürchtete, Frostbeulen bekommen zu haben.
»Siehst du irgendwelche dunklen Stellen?«
Er musterte sie mit seinen schwarzen, ovalen Augen, die wie menschliche blinzelten, und schüttelte den Kopf. »Du bist rötlicher als zuvor.«
Sie kicherte vor Erleichterung etwas hysterisch. »Das ist normal.«
Der Zug trat mit einem Fauchen aus dem Wurmloch, und Vicky stellte einen Druck auf den Ohren fest, wie wenn man mit dem Flugzeug flog. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich der Waggon von einem Kühlwagen in eine Sauna. Hätte sie gewusst, was auf sie zukam, dann hätte sie ein Thermometer eingepackt, dachte sie sich und fand, dass sich die Temperatur um sechzig Grad geändert haben musste, denn sie schätzte sie nunmehr auf über dreißig Grad plus. Die Luft war stickig, kam ihr dicker vor als die Erdatmosphäre und roch nach Erde und Metallen, nach einer Mischung aus verrottetem Laub und dem Geruch, wie wenn jemand mit einer Flex von einer Stahlkonstruktion den Rost entfernte.
»Das muss Thraxos sein!«, rief sie hocherfreut und rannte zur Tür. »Da wolltest du hin, oder?«
»Hm«, murmelte er und folgte ihr ein wenig schwerfällig. Sobald der Hybernationsprozess begonnen hatte, dauerte es eine Weile, bis er ›auftaute‹.
»Es riecht nicht wie Thraxos.«
Vicky konnte es kaum fassen. Eben noch hatte sie geglaubt, sterben zu müssen, und nun war es heiß und sie heilfroh, nicht inmitten eines Hyperraumtunnels ein Feuer angezündet zu haben. Die Feuerwehr würde doch wohl kaum versuchen, in ein Wurmloch zu fahren, um es zu löschen? Soweit sie wusste, waren die Züge mit einem komplizierten Löschmechanismus ausgestattet, also wären sie wahrscheinlich von Stickstoff erstickt oder bei minus sechzig Grad mit kaltem Wasser eingedeckt worden. Beides kein angenehmes Schicksal. Aber sie hatten überlebt und waren auf einem fremden Planeten!
Die Landschaft, die vor ihnen vorbeizog, enttäuschte ein wenig, wenn sie ehrlich sein sollte. Vor ihnen lag eine beige Steinwüste, die sich bis an den Horizont erstreckte. Der Himmel war blaugrün, eher wie das Wasser in der Karibik als wie der terranische Himmel, und keine Wolke trübte ihn. Sie hätten in Arizona gelandet sein können, wenn da nicht diese merkwürdige Himmelsfarbe und ein paar weitere Details gewesen wären, die definitiv nicht auf die Erde passten. Alle dreihundert Meter zischte ein kegelförmiger umgedrehter Pilz an ihnen vorbei. Sie mochten etwa vier Meter hoch sein und waren beigegrau gefärbt, kaum anders als der Wüstenboden.
»Wir haben’s geschafft!«
»Das ist nicht Thraxos«, stellte M’xor enttäuscht fest. »Vicky, das ist nicht Thraxos ...«
Sie zog eine Grimasse und zuckte mit den Schultern. »Du wolltest unbedingt nachts fahren. Ich habe dir gesagt, dass meine Aufzeichnungen für Nachtzüge ungenau sind.«
»Hast du eine Ahnung, wo wir uns aufhalten könnten?«
Sie holte ihr Notizbuch, dessen Seiten im Wind so heftig flatterten, dass sie Angst bekam, sie könnten sich losreisen und auf dem fernen Planeten auf Nimmerwiedersehen davonflattern. Mit beiden Händen hielt sie die Stelle fest, um ihre Notizen lesen zu können. »Hm, circa 22 Uhr 40 terranische Zeit.« Ihr Finger fuhr die Tabelle entlang und befand, sehr professionell: »Oops.«
»Was meinst du? Wo sind wir, Vicky?«
»Wir haben Waggons von ›Organik Petrol‹ gesehen, oder?«
»Das ist korrekt, meine liebe Vicky. Ich erinnere mich distinkt an diese Tankwagen, die sich gleich hinter uns befinden.«
»Dann sind wir möglicherweise auf einem Planeten namens ›Pradawa‹. Scheint gut verbunden zu sein, viele Verbindungen gehen von ihm ab. Extrem viele.«
M’xor legte die Fühler zurück und schüttelte sich schnell und kurz, eine Art Zucken des Körpers, was entweder Angst oder Missbilligung bedeutete, wenn sie sich nicht arg täuschte. »Oje.«
»Kein guter Planet?«
»Er wird von den Prãnã bewohnt, intelligenten Insektenwesen, die mit dem Rest der Galaxis nicht viel zu tun haben. Hier kann ich unmöglich ein Raumschiff chartern. Außerdem ist Pradawa ein gigantisches Stellwerk. Der Zug wird gar nicht halten. Hast du eine Ahnung, wohin er weiterfährt?«
Der Fahrtwind riss die Seite des Notizbuchs beinahe heraus. Sie hatte einige Linien eingezeichnet, die von Pradawa abgingen, dann hatte sie jedoch die Geduld verloren und nichts weiter als drei Punkte druntergemalt, mit dem Zusatz: »>80 Abzw.« Sie schüttelte den Kopf.
»Hoffen wir, dass wir nicht doch noch im Vakuum landen.«
Sie lachte. Vielleicht lag es daran, dass die Luft auf diesem Planeten einen höheren Sauerstoffgehalt hatte, jedenfalls packte sie ein Hochgefühl: »M’xor, mein Freund!«, rief sie und hob die Hand zum Einschlagen. »High Five!«
Er verstand nicht, also musste sie ihm die Geste erst erklären. Zögerlich schlug er ein. »Ich verstehe die Freude nicht, Vicky. Unsere Lage sieht nicht viel rosiger aus als kurz zuvor.«
»M’xor! Wir sind nicht im Vakuum gelandet und sind nicht erstickt! Die Xu’Un’Gil haben uns nicht festgenommen und gefoltert, und wir sind nicht erforen!«
Seine Fühler bewegten sich im Kreis, was ziemlich lustig aussah. »Ich verstehe! Du hast recht, meine liebe! High Five!«
Sie schlugen ein zweites Mal ein, und dann verköstigten sie sich an den restlichen Sachen, die sie eingepackt hatten. Vicky hängte die Beine aus der Tür auf die Metallbrüstung und knabberte an ihren Erdnussflips, die ständig wegzufliegen drohten, und M’xor machte es sich neben ihr bequem und schlürfte an seinem Proteinshake. Gemeinsam betrachteten sie die Landschaft, die ihr mit jeder vergangenen Minute fremdartiger als zuvor vorkam. Drei Monde schwebten am Himmel, die alle auf subtile Weise dem Erdmond ähnelten und doch anders aussahen. Zu den Pilzgewächsen gesellten sich rot-grüne Schlingpflanzen, die von ihnen herabhingen, was so gar nicht ins Wüstenklima zu passen schienen. Geflügelte Insekten, die an Libellen erinnerten, machten sich ab und dann einen Spaß daraus, neben dem Zug herzufliegen, oder sie nutzten den Fahrtwind aus, was wohl wahrscheinlicher war. Eine gigantische, etwa zehn Meter hohe, seepferdchenähnliche lila Ringelpflanze rauschte an ihnen vorbei, und nach einiger Zeit bemerkte Vicky in der Ferne eine Ansammlung von blasenförmigen, schwarzen Kuppeln, die sie für eine Siedlung der Prãnã hielt, obwohl es sich genauso gut um große Pflanzen oder natürlich entstandene geologische Formationen handeln mochte.
»Wie lange wir wohl fahren?«
M’xor zuckte mit den Schultern. Ihm schien es ebenso Spaß zu machen wie ihr, an der offenen Tür zu sitzen, obwohl die Landschaft genau genommen ja eher monoton war. Er hatte sich von seiner halben Hybernation gut erholt.
»Keine Ahnung, meine liebe Vicky. Stunden. Tage. Pradawa ist groß und ein gigantisches Stellwerk, daran erinnere ich mich distinkt. An viel mehr kann ich mich nicht entsinnen, nur dass man mit den Prãnã nicht viel anfangen kann.«
»Sollten wir abspringen, wenn er hält?«
Er schüttelte den Kopf und schlürfte mit dem Strohhalm den Rest aus seinem Proteingetränk. »Auf keinen Fall. Es gibt, glaube ich, bloß einen Raumflughafen und kein Transportsystem, um dorthin zu gelangen. Wir würden in der Wüste verdursten.«
Nach einigen Stunden Fahrt im erstaunlich hellen Licht der drei Monde fielen M’xor die Augen zu, er schien eingeschlafen zu sein. Ihre Gedanken wanderten zu ihren Eltern und ihren Freundinnen in Terville. Seit ihrer Ankunft hatte sie die Aufregung wachgehalten, nun hingegen übermannte auch sie die Müdigkeit. Sie mussten auf Erdzeit umgerechnet etwa fünf Uhr morgens zählen. Sie lehnte sich an ihren außerirdischen Begleiter und schlief ein, sobald sie die Augen geschlossen hatte.
M’xor rüttelte sie wach und sie stellte fest, dass er sie in eine Decke gehüllt hatte, sie jedoch weiterhin an der Tür saßen. Sie rieb sich die Augen.
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Sechs, sieben Stunden.«
»Warum weckst du mich?«
Er wies aus der Tür. Die drei Monde standen weiterhin am Himmel, sorgten beinahe für Tageshelligkeit. Wie an einem diesigen Tag im Hochsommer, wenn Gewitterwolken die Sonne verdunkelten. Die Landschaft hatte sich verwandelt, während sie geschlafen hatte. Nun fuhren sie durch eine Industrieanlage, sie sah mit ihren Gastanks und Rohren wie eine Erdölraffinerie aus, und der Zug hatte deutlich abgebremst. Sie schätzte die Geschwindigkeit dennoch als zu hoch ein, um abzuspringen, etwa dreißig bis fünfzig Stundenkilometer. Der Geschwindigkeitsmesser aus ihrem Rucksack fiel ihr wieder ein. Sie holte ihn und maß 44 Kilometer pro Stunde. Gut geschätzt.
»Wir sind in einem Stellwerk, Vicky. Bald entscheidet sich unser Schicksal.«
Leider plagten sie andere Probleme, denen sie nachgehen wollte, bevor sie im nächsten Wurmloch erfroren. M’xor folgte ihr mit neugierigen Blicken, als sie das Metallgitter austestete, das um den Waggon führte. Es kam ihr trotz der niedrigen Geschwindigkeit zu unsicher vor, also verzog sie sich kurzerhand in den Wagen und pinkelte in die hinterste Ecke auf der anderen Seite an den Rand einer Palette. Glücklicherweise schien M’xor den Grund ihrer Abwesenheit zu erraten, denn er folgte ihr nicht. Für das große Geschäft würde sie wohl das Gitter um den Waggon verwenden müssen, und sie hoffte, dass es nicht dazu kam. Das war allerdings ihr geringstes Problem. Das Wasser ginge ihnen bald aus, sie hatte bloß noch eineinhalb Liter übrig. Und einen Müsliriegel.
Als sie zurück an die Tür kam, fuhren sie unterirdisch, durch ein System spärlich erleuchteter Fabrikhallen und Tunneln, die sich fortwährend verzweigten. Selbst wenn sie versucht hätte, den Weg zu kartografieren, hätte sie nach kurzer Zeit aufgegeben. Einmal passierten sie ein Prüfgerät, dass jeden Waggon mit einem hellen Lichtblitz abtastete und M’xor war ein paar Minuten lang blind, bis seine empfindlichen Augen den Schock überwunden hatten. Auf dem zerstörten Heimatplaneten der X’ur hatte es keine plötzlichen Helligkeitsübergänge gegeben, erklärte er ihr. Sanfte Hügel und ein gemäßigtes Wetter hatten dafür gesorgt, dass die X’ur es niemals nötig gehabt hatten, in selbst gebauten Höhlen zu leben. Das X’ur Wort für ›Haus‹ bedeutete wörtlich übersetzt folgerichtig ›künstliche Höhle‹.
»Hoffentlich sind wir nicht verstrahlt worden«, merkte Vicky an, nachdem sie ein weiterer Scanner überrascht hatte..
»Hoffentlich nicht, meine liebe Vicky«, pflichtete er ihr bei. »Oder zumindest nicht tödlich.«
Sie lachten beide, jeder auf seine Art und Weise, und schlugen zum High Five ein.
Diesmal bemerkten sie den Übergang kaum. Nur ein kurzes Flackern deutete den Eingang zum Wurmloch an, und schon umgaben sie die psychedelischen Muster und Kreise. Vicky erwartete eine Kältewelle, die jedoch nicht kam. Stattdessen schien sich die Temperatur zu halten, fiel höchstens um fünf Grad ab. Dieser Tunnel mochte Lichtjahre durchs All führen, er führte trotzdem eine erdähnliche Atmosphäre mit sich und fühlte sich wie eine warme Mittsommernacht an, nur dass sich der Sternenhimmel in ein Gewirr von komplizierten vieldimensionalen Formen verwandelt hatte, in ein abstraktes, bewegtes Kunstwerk aus bunten Streifen und Lichtern, Kugelschnitten und regelmäßigen Vielecken.
»Warum wird es nicht kälter?«, wunderte sie sich.
»Das Glück ist uns hold«, stellte M’xor zufrieden fest. »Dieser Tunnel muss so kurz sein, dass entropische Dissipation in ihm keine Rolle spielt.«
»Die Art von Wurmloch, die mir gefällt.«
Bereits nach fünfzehn Minuten schossen sie am anderen Ende heraus und kamen auf einen Planeten, der zumindest entfernt an die Erde erinnerte. Die Bahnstrecke führte durch eine Gegend voller tannenähnlicher Bäume mit dunkelgrün bis purpur schimmernden Nadeln. Es war Nacht, doch ein Mond erhellte die Landschaft; er mochte zweimal größer als der Erdmond sein, war rötlich gefärbt und tauchte die Wälder in ein sanftes dunkelrotes Licht.
Die Nadelbäume sahen so terranisch aus, dass sie angenommen hätte, dass die Produzenten ein Holo von der Erde mit einem billigen Purpurfilter bearbeitet hätten, um einen fremden Planeten vorzutäuschen, wenn sie den Anblick in einer Holoserie gesehen hätte.
»Ich kenne diesen Ort«, stellte M’xor mit grüblerischen Tonfall fest. »Das ist Kanria im Pelegor System.«
»Bist du dir sicher?«
»Sicher nicht, aber ich habe davon Holos gesehen. Viele Orte auf Kanria sehen so aus, und vor allem der Mond ist ziemlich unverwechselbar.«
»Warst du schon mal hier?«
»Nein. Trotzdem sollten wir aussteigen, wenn wir die Gelegenheit bekommen. Das ist ein relativ zentraler Multispezies-Planet. Von hier aus kannst du zurückreisen, und ich kann meine Mission fortsetzen.«
»Gut«, pflichtete sie ihm bei und doch enttäuschte sie seine Bemerkung. Natürlich, ihre Eltern machten sich sicher schon schreckliche Sorgen. Sie konnte froh sein, die Reise bisher überlebt zu haben und war ja auch nicht wirklich freiwillig mitgekommen. Sie musste auf die Erde zurückreisen und er seine wichtige Mission fortsetzen. Was sonst?
»Leider glaube ich, dass Kanria an ein Multiplexer-Wurmloch angeschlossen ist.«
Das war, erklärte er ihr, ein Wurmloch-System, in das viele herkömmliche Hyperraumtunnel führten, aber aus dem nur ein einziges, spezielles Wurmloch herausführte – nämlich ein sogenannter ›Multiplexer‹, über den die Verbindungen in die halbe Galaxis geleitet wurden. Der Hyperraum selbst fungierte als Stellwerk, verteilte eingehende Züge auf dutzende, vielleicht sogar hunderte Ausgänge. Warum diese Konstruktion bloß für herausführende Strecken und nicht für einkommende möglich war, konnte er ihr nicht erklären. Trotzdem war er sich seiner Sache sicher, denn die Hyperraumtopologie, die diese Multiplexer ermöglichte, sorgte auch dafür, dass Planeten wie Kanria Raumfahrern als wichtige Knotenpunkte dienten.
»Wie du sicher weißt, können die Schiffe ja nicht beliebig springen, obwohl sie die Löcher selbst erzeugen. Die Struktur des Hyperraums um Kanria ist einer jener Punkte, an dem besonders viele und lange Sprünge möglich sind. Ich kenne Kanria aus den Raumkarten und bin schon oft über das System gesprungen, hatte allerdings bisher keinen Anlass, auf dem Hauptplaneten zu landen.«
»Also wissen wir wieder nicht, wo wir enden?«
»Wer weiß das schon«, merkte M’xor in einem Anfall von philosophischer Grübelei an. »Jedoch beabsichtige ich, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und vor dem Multiplexer vom Zug zu springen.«
»Wir könnten ihn anhalten«, schlug sie vor.
»Wie? Den Disruptor habe ich verbraucht.«
»Keine Ahnung. Ein Feuer vielleicht, oder eine technische Fehlfunktion an einem Wagen?«
Seine Fühler wippten vor und zurück, was den menschlichen Grübelfalten auf der Stirn entsprechen durfte. »Das kommt mir zu gefährlich vor. Die Wahrscheinlichkeit, dass man uns erwischt, wäre hoch. Und was, wenn man uns nicht entdeckt und wir das Feuer nicht mehr löschen können?«
Daran hatte sie nicht gedacht. »Der Zug hat bestimmt eine Sprinkleranlage«, wandte sie ein.
Nachdenklich betrachtete er die nächtliche Landschaft. Die Wälder im Mondlicht strahlten eine majestätische Ruhe aus. Ab und dann passierten sie Schranken, oder eine Straße führte längs der Strecke und verriet ihnen, dass sie auf Kanria nicht allein waren.
»Du hast recht, das Risiko kommt mir vertretbar vor. Also dann! Wie gedenkst du, ein Feuer zu machen, meine liebe Vicky?«
Sie wies mit dem Finger auf sich. »Ich?«
Damit hatte sie nicht gerechnet. Das war ja wie in der Schule! Sie kramte das Feuerzeug aus ihrem Rucksack und reichte es ihm. Sie hatte es vor ihren Eltern stets geheimgehalten, damit sie nicht auf die Idee kamen, sie würde rauchen. Ihren Freundinnen hatte sie es ab und dann ausgeliehen, doch sie selbst hatte der Versuchung bisher widerstanden. Krebs mochte heutzutage leicht heilbar sein, angenehm war die Therapie trotzdem nicht, und ihre Mutter hatte sie als Ex-Raucherin durchaus glaubhaft vor der Sucht gewarnt. Die Vorstellung, dass ihre sonst so stolze Mutter noch kurz, bevor sie mit ihr schwanger gewesen war, Zigarettenkippen aus dem Aschenbecher gelesen hatte, weil der Nachschub an Tabak ausgegangen war, hatte bei Vicky einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
»Das erzeugt eine Flamme«, erklärte sie ihrem außerirdischen Begleiter.
Er betrachtete es von allen Seiten und schnippte es daraufhin fachmännisch auf, als habe er es schon tausendmal bedient. X’ur standen zurecht in dem Ruf, ausgesprochen intelligent zu sein, das war in dem Eintrag von Herrn Meyers Buch ausdrücklich erwähnt worden. Sie fragte sich, zu was er sonst noch fähig war.
Der Fahrtwind pustete die Flamme gleich wieder aus. »Wir brauchen einen Brandbeschleuniger«, stellte M’xor fest und sah sich im Abteil um. Die Plastikplanen verwarf er nach kurzer Inspektion. Sie bestanden aus einem schwer entflammbaren Material.
»Heiliger Strohsack!«, rief er plötzlich auf Deutsch-Europisch und hielt das Feuerzeug von sich, als übertrage es eine ansteckende Krankheit. Vicky wunderte sich über den anachronistischen Ausdruck. Wo hatte er bloß Terranisch gelernt?
»Was ist?«
»Hinter uns fahren mehrere dutzend Tankwagen mit fossilem Brennstoff mit! Angesichts dieser Tatsache, die wir bisher nicht in Erwägung gezogen haben, erscheint mir der Plan doch als riskanter, als wir ursprünglich annahmen.«
Sie fluchte, und zwar auf eine Weise, die ihr Freund trotz seiner Kenntnisse des Terranischen wohl noch nicht gehört hatte. »Du hast recht. Das war keine gute Idee.«
»Jede Idee ist in der Not besser als überhaupt keine«, merkte er an, und sie fand, dass sie ihm da auch nicht widersprechen konnte.
Er erzitterte triumphierend mit den Fühlern und stellte seinen bunten Drachenkamm auf. »Aber natürlich! Ich habe die Lösung!«
Er machte sich an dem Tippschloss neben der Tür zu schaffen, die nicht mehr zugehen wollte, bis er den passenden Code gefunden hatte. Ein lautes Krackeln kam aus einem unsichtbaren Lautsprecher, und Vicky zuckte zusammen. Dann räusperte er sich und ihr wurde klar, dass seine Stimme verstärkt über die interne Sprechanlage kam.
»Hallo! Wir sind die blinden Passagiere, die auf Terra eingestiegen sind! Wir würden gerne auf Kanria aussteigen!«
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu und er blinzelte. Leider kam nicht gewünschte Antwort. Stattdessen meldete sich einer der Bahnmitarbeiter mit dem eigentümlichen Akzent: »Bei Groblot! Wir sind kein verdammtes Taxi und wegen euch sind wir sowieso schon verspätet! Wir halten nicht an, und übergeben euch beim nächsten regulären Stop den Behörden!«
M’xor zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Einen Versuch war es wert.«
Woran es ebenfalls nichts auszusetzen gab. Selbst hätte sie sich zwar nicht getraut, aber sie kannte ja auch die Zahlencodes dieser Anlage nicht. »Wenigstens wissen wir jetzt, dass sie nicht durch Vakuum fahren. Sie würden ja wohl kaum absichtlich unseren Tod in Kauf nehmen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher ... besonders erfreut klangen sie nicht.«
Nach etwa einer Stunde fuhr der Zug durch ein Wurmloch, nichts hatte eben noch darauf hingedeutet, und ein Chaos brach aus, das Vicky nicht in Worte fassen konnte. Die hyperdimensionalen Muster und Kreise änderten sich in diesem Tunnel jede Sekunde, alles sah aus wie eine einzige optische Täuschung, alles drehte und bewegte sich, und sie hatte das Gefühl, aus dem Zug in den Hyperraum gezogen zu werden. Instinktiv griff sie nach M’xors Zangenhand, der ein wenig gefasster wirkte. Der Raum begann, sich zu drehen, das Zugabteil wand sich in unendlichen Schleifen im Kreis, verbog sich, ihre Körper zogen sich in die Länge, die Sicht verschmälerte sich gleichzeitig und verbreiterte sich und ein Kaleidoskop aus psychedelischen Mustern und Farben schien sie zu verschlingen.
Ein Schrei erklang aus ihrer Kehle, obwohl sie sich gar nicht bewusst war, dass sie schrie, und auch M’xor gab einen lang gezogenen ›Ah‹-Laut von sich. Dann zerhackten sich die Klänge, verdoppelten und vervielfachten sich, einige kamen wie langsame Echos zurück, andere beschleunigten und schienen sich um ihre Köpfe herum zu bewegen.
Ein lautes ›Tonk, Tonk, Tonk‹ erklang und Vicky hatte das Gefühl, gleichzeitig zu hüpfen und zu fallen, sich im Kreis zu drehen, Achterbahn zu fahren und vom Zehnmeterbrett zu springen, was sie sich im Freibad niemals getraut hätte. Eine Kältewelle schwappte über sie herein, doch diesmal vermengte sie sich mit heißer Luft. Sie hatte das Gefühl, zur Hälfte geröstet und zur anderen tiefgefroren zu werden. Dann packte sie eine Riesenhand und schleuderte sie mehrmals im Kreis herum, wobei die Muster und Wölbungen des Raums in entgegengesetzte Richtungen rotierten.
Der Spuk endete mit einem lauten Knall und einem Blitz, und von einem Augenblick auf den anderen flutete gleißendes Sonnenlicht durch die offene Tür und sie fuhren durch eine staubige, dicht bewachsene Prärielandschaft ähnlich wie der von Pradawa, nur deutlich heißer. Hohes Steppengras flog vor ihnen vorbei, hie und da von merkwürdigen, tief stehenden, verknorpelten Pflanzen unterbrochen, die nicht wie Bäume, sondern eher wie verkehrt herum gewachsene Wurzeln aussahen. Die Luft roch komischerweise nicht nach Wüste, vielmehr nach Metall und frischen Sägespänen.
Vicky fiel aufs Gitter vor dem Eingang zum Waggon, wollte noch wegkriechen, aber schaffte es nicht mehr rechtzeitig, und kotzte sich vor Ort die Eingeweide aus dem Leib. Als sie fertig war, fühlte sie sich besser, nur sehr schwach.
»Ist diese Reaktion normal?«, erkundigte sich M’xor besorgt.
Sie wischte sich das Erbrochene vom Mund und spülte ihn mit dem restlichen Wasser aus, das ihnen noch geblieben war. »Ich würde mal sagen, ja.«
»Ich gebe zu, diese Fahrt war gewaltsam. So ein Multiplexer ist doch ein ganz besonderes Erlebnis.«
»Kein Wunder, dass sie auf dieser Route nur selten Passagiere transportieren. Wie halten das die Bahnmitarbeiter aus?«
»Das sind Attrax, glaube ich. Ihre Sinnesorgane sind für den Umgang mit dem Hyperraum besonders gut geeignet. Angeblich können sie den Mustern sogar Sinn abgewinnen.«