Читать книгу Vicky - Erich Rast - Страница 5
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ОглавлениеNiemand wusste von ihrem Hobby, nicht einmal ihre besten Freundinnen Tanxia und Sammy, und schon gar nicht ihre nichts ahnenden Eltern. Niemand sollte davon wissen; von einem sechzehnjährigen Mädchen erwartete man anderes, dass sie sich mit Jungs rumtrieb beispielsweise. Sie ging im Kopf die möglichen Kandidaten durch und verzog angewidert den Mund. Nein Danke! Nicht in Terville. Den einzigen, der sie vielleicht ein bisschen verstand, nannten sie ›Kartoffel‹, er war bestimmt zwei Jahre jünger als sie und erinnerte tatsächlich an eine Kartoffel. Aber zumindest kannte er sich mit Raumschiffen und dem Rest der Galaxis aus, was man von den anderen im Dorf kaum sagen konnte. Ein paar mochten vielleicht ganz nett sein; um die buhlten alle. Die meisten erwiesen sich jedoch bei nährem Hinsehen als blöde Arschlöcher, und zumindest Sammy und Tanxia setzten all ihre Hoffnungen aufs College in der nächstgrößten Stadt, wenn sie es im nächsten Jahr dorthin schafften. An einem Ort mit unter zweitausend Einwohnern war die Auswahl doch arg beschränkt.
Vicky öffnete einen Klappstuhl aus Plastik mit grünem Leinenbezug und machte es sich an ihrem Aussichtspunkt bequem. Aus einem kleinen roten Rucksack zog sie eine Thermoskanne, schenkte sich eine Tasse ein und legte Notizblock und Kugelschreiber bereit. Das Hobby hatte einen fragwürdigen Ruf, war wohl eher etwas für Rentner, weshalb sie es nun einmal selbst ihren besten Freundinnen gegenüber verschwieg. Sie galt schon als verschroben genug, und die Tatsache, dass sie eine Jeanslatzhose und ein rot kariertes Holzfällerhemd trug, half auch nicht unbedingt, im Dorf einen guten Eindruck zu machen. Dabei war die Hose unzerstörbar, jeder andere Stoff wäre im Gestrüpp zerrissen, und ihre Eltern konnten es sich nun einmal nicht leisten, ihrer Tochter jeden Monat neue Klamotten zu kaufen. Außerdem hielt ihr Vater als eingefleischter Farmer nicht viel von Mode, er fand, dass sie lieber ordentliche Funktionskleidung tragen sollte, schließlich musste sie auch oft anpacken, zum Beispiel bei der Ernte, wenn mal wieder einer der gigantischen Ernteroboter ausgefallen war und sie geschickt auf die Führerkanzel kletterte, die überhaupt nur in Sonderfällen per Hand bedient wurde. Vicky fand im Gegensatz zu ihren Freundinnen und einem Großteil der männlichen Bevölkerung von Terville, dass ihr Vater recht hatte und an ihren Jeans nichts auszusetzen war. Mit einem Kleid wäre sie im Zaun hängen geblieben, in den sie eigenhändig mit der Drahtschere ein Loch geschnitten hatte. Nicht besonders sinnvoll also für die Orte, an denen sie sich nach der Schule gerne herumtrieb.
Sie nippte an dem Kaffee, es war für diese Jahreszeit im September schon verdammt kalt, und warf einen Blick auf ihre Digitaluhr – ein altertümliches Modell, das noch nicht einmal ans Intergal-Netz angeschlossen war. ›Zwei Minuten‹, stellte sie zufrieden fest. Sie war rechtzeitig gekommen. Natürlich hatte sie ein paar moderne Utensilien dabei, sie mochte im Hinterland aufgewachsen sein, aber nicht hinterm Mond. (Eine veraltete Redewendung, wenn man bedachte, dass hinter dem Mond weit mehr als in Terville los war, fiel ihr ein.)
Ein Laser verriet ihr die Geschwindigkeit und ihr Interkom stellte ein kleines Hologramm ins Netz, das andere dann studierten, klassifizierten, diskutierten. Sie kannte keinen von ihnen persönlich, die Foren ließen sie insgesamt eher kalt, aber gelegentlich lieferte der eine oder andere nützliche Informationen. Ihre Tabellen über die Ziele und Ursprungsorte hätte sie ohne Hilfe aus dem Netz niemals zusammenstellen können.
Sie spürte den Zug lange, bevor er zu hören oder zu sehen war. Der Boden erzitterte, eine kaum merkliche Vibration, die Fluktuationen im Magnetfeld verursachten. Die Schwankungen waren winzig, aber wenn eine Last von Tausenden von Tonnen auf ihnen lag, dann machten sie sich über kurz oder lang im Gleisbett bemerkbar, da konnte kein Ingenieur etwas dagegen tun.
Ein Luftzug entstand, ein Sog, der ihr anfangs einen Schrecken eingejagt hatte. Alle möglichen Gerüchte und Mythen wanden sich um die angeblichen Gefahren in der Nähe der Maglevs, weshalb die Behörden um die Strecken ja auch Zäune errichtet hatten. Diese rosteten langsam vor sich hin, und in Wirklichkeit waren die meisten Horrorgeschichten falsch oder zumindest stark übertrieben. Solange man zehn Meter Abstand einhielt, blieb man sicher. Nur auf ihren Notizblock und den Kugelschreiber musste sie achten, sonst wehte der aufkommende Sturm sie weg.
Ein tiefes Brummen und ein höheres, aufdringliches Moskitosummen der elektrischen Anlagen kündigten die unmittelbare Ankunft des Zuges an. Das Gleissegment war aktiviert worden und die Magneten arbeiteten bereits. Ihr Interkom bestand größtenteils aus Plastik, ebenso die Thermoskanne, und auch sonst trug sie nichts aus Metall herum, denn das hätte bei diesem Abstand tatsächlich Probleme bereitet.
Die Triebwagen des Zugs schossen um die Biegung, drei gigantische Lokomotiven der Abramov-Bauart, silbern glänzende, haushohe Stahlkolosse, die hintereinander gekuppelt waren, um viele tausend Tonnen kilometerlang im Schlepptau hinter sich herzuziehen. Eine Druckwelle erfasste sie, der Lärm war so ohrenbetäubend, dass man sich nicht einmal geschrien hätte verständigen können. Nicht, dass hier irgendjemand nach ihr rief. Sie war allein, niemand sonst interessierte sich für die Maglev-Züge, und die Bahnmitarbeiter kamen nur alle paar Jahre vorbei, um die Magnetschienen zu prüfen. Den Zaun hatten sie jedenfalls noch nie geflickt, falls ihnen das Loch überhaupt einmal aufgefallen war.
Vicky mochte die Abramov. Besonders aerodynamisch waren sie nicht gebaut, im Gegensatz zu neueren Triebwagen hatten sie platte Nasen, was den Drucktunnel immens verstärkte, den sie vor sich herschoben. Aber sie hatten etwas an sich, eine brachiale Gewalt verbanden sie mit einer gewissen Eleganz. Dank der silbernen Metallverkleidung sahen sie eher wie klobige Raumschiffe als Züge aus.
Sie warf einen Blick auf den Geschwindigkeitsmesser. Er zeigte 304 Stundenkilometer an. Als sie wieder aufsah, waren die Lokomotiven schon weg und die ersten Güterwaggons brausten an ihr vorbei. Zwischen jedem von ihnen entstand ein Luftloch, das sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlte. Jetzt musste sie aufpassen, versuchen, wenigstens eine der Aufschriften zu erhaschen. Idealerweise gelang es ihr, aus dem Holo später die Fahrtnummer zu rekonstruieren, aus der sich meistens der Zielort schließen ließ. Oft fehlten sie leider, oder sie waren verdeckt oder zu verschwommen auf dem Holo. Dann mussten sie und ihre anonymen Helfer im Netz anhand der Logos der Frachtunternehmen raten, wohin der Zug fuhr und wo seine Segmente letztlich enden sollten. Es gab Tausende von möglichen Zielen; die Arbeit war nie fertig. Genau das gefiel ihr an dem Hobby.
Jeder Waggon war groß wie eine Scheune, ein gigantischer Container aus Stahl, und es gab Dutzende unterschiedlicher Typen und Beschriftungen. Manche rosteten vor sich hin, die Farbe blätterte ab, andere waren nagelneu, glänzten im Licht der Nachmittagssonne und transportierten Hochtechnologiegüter. Vicky wusste, dass sie an Verteilerbahnhöfen vollautomatisch umgeladen wurden, gekoppelt und rangiert, bis sie schließlich mit einem der Züge ihren Zielplaneten erreichten. Jede dieser Rangierstationen war so groß wie eine Stadt, und die meisten von ihnen verbanden dutzende von Strecken, manche sogar hunderte.
Nur auf Terra hielt kein Zug. Natürlich nicht. Die Wiege der Menschheit lag so weit abseits, dass keiner auch nur auf die Idee gekommen wäre, für eine der sechs Linien, die über die Erde liefen, einen Bahnhof einzurichten. Man hatte die Menschheit vergessen, pflegte ihr Vater immer zu sagen, aber Vicky war sich ziemlich sicher, dass niemand überhaupt je an sie gedacht hatte. An wen man nicht dachte, den konnte man nicht vergessen, und kein Außerirdischer und auch kein Mensch jenseits von Terra verschwendete einen Gedanken auf den Ort, von dem aus die Menschheit dereinst in den Kosmos aufgebrochen war. Außer die Xu’Un’Gil, wenn es darum ging, die Erde ein bisschen mehr auszubeuten oder dem Bürgermeister von Terville das Leben schwer zu machen.
Immer wieder erstaunte sie die Stille danach. Der Lärm verlief sich so schnell, wie er kam, kaum waren die vier Kilometer aus Tausenden von Tonnen Ladung und Stahl hinter der nächsten Biegung verschwunden, waren sie schon nicht mehr zu hören. Der Boden zitterte noch ein wenig, die Luft über den Magneten flirrte; dann schaltete sich das Segment ab und alles war wieder still. Aber Vicky war nicht fertig. Während sie die Zahl und Typen der Waggons in ihr Notizbuch eintrug und das Hologramm hochlud, behielt sie die Uhr im Auge. Nach exakt einer Minute einundvierzig Sekunden erklang der Donnerknall, den die Bewohner von Terville schon kaum mehr wahrnahmen, so alltäglich war er für sie. Der Zug war durch das Wurmloch gefahren und kam am anderen Ende des Universums auf einem anderen Planeten wieder heraus, und zwar zweifelsohne auf einem Planeten, auf dem mehr als in Terville los war.
Vicky seufzte und trug die Zeit ein. Das Wort ›Provinz‹ war für ihren Heimatort definitiv untertrieben. Terville lag in der Provinz von Europien, Europien lag in der Provinz von Terra, und die gute alte Erde selbst lag so dermaßen am Arsch der Galaxis, dass selbst die meisten Menschen von ihrem Heimatplaneten nie gehört hatten. Geheucheltes Interesse erwies sich noch als die beste Antwort, die man erwarten konnte, wenn man im Intergal-Netz erwähnte, wo man herkam: »Ach ja, klar! Diese ›Erde‹, da kommen die Menschen ursprünglich her, oder?« Keine Sau interessierte sich für die Menschen, kein Mensch interessierte sich für die Wiege der Menschheit, und die Tatsache, dass die Xu’Un’Gil ihren Planeten ausbeuteten und besetzt hielten, rief allenfalls ein Kopfschütteln über die Ungerechtigkeit in der Galaxis hervor. »Schlimm, schlimm. Wie heißt der Ort noch? Liegt der nicht bei Tauri? Da habe ich mal wirklich gut gegessen, die Restaurants liegen in der Hauptstadt gleich am Meer, einem purpurfarbenen Ozean, und haben einen verdammt guten Ruf. Und die Sonnenuntergänge!«
Sie war auf dem Rückweg zur Farm, als das Schiff vom Himmel fiel. Wie ein Meteor hinterließ es einen Feuerschweif, er leuchtete im Licht der untergehenden Abendsonne, und ein Donnergrollen erklang. Neugierig betrachtete Vicky das Himmelsphänomen, bis ihr klar wurde, dass es direkt auf sie zusteuerte. Sie widerstand dem Drang, wegzurennen; sie mochte nicht die Klügste in der Schule sein, aber hell genug war sie, um zu erkennen, wie sinnlos der Versuch gewesen wäre. Sie spürte die Hitzewelle, die über sie mit einem Brüllen hinwegzog, das jeden Maglev-Zug in den Schatten stellte. ›Holy Shit!‹, dachte sie noch, bevor eine Druckwelle sie zu Boden warf, Holz zersplitterte und Bäume Feuer fingen. Sie vergrub den Kopf in der Erde, Funken und Asche regneten auf sie herab. Ein glühender Ast fiel auf ihren Handrücken. Hastig schüttelte sie ihn ab. Das würde eine Brandblase geben. Eine ohrenbetäubende Explosion und ein dumpfes Beben der Erde verkündeten den Aufprall des Himmelskörpers.
Als sie sich wieder hochrappelte, war der Spuk längst vorüber. Der Meteor oder das Raumschiff hatte eine glatte Schneise durch den Wald gesprengt, Bäume wie Streichhölzer umgeknickt und am Ende ein Erdbeben verursacht. Aber sie war wohlauf, wenn man von der kleinen Verbrennung mal absah. Sie folgte der Schneise, über umgestürzte Baumstämme und glimmende Äste, doch bereits nach wenigen Metern wurden der Rauch und die Hitze unerträglich. An der Absturzstelle brannte es, dunkle Wolken stiegen in etwa zweihundert Meter Entfernung auf. Ohne Atemmaske ließ sich da kaum etwas machen und die Feuerwehr war sicher schon unterwegs. Leider kam sie aus der nächsten Stadt, aus Groß-Menlow, einem Ort mit etwa 160,000 Einwohnern. Die Autos brauchten eine gute halbe Stunde und auch ein Notfallhelikopter musste erst gerufen werden. Die Xu’Un’Gil besaßen atmosphärentaugliche Shuttles, die aus dem Orbit in ein paar Minuten vor Ort gewesen wären, aber die Besatzer tauchten nur selten auf und überließen das Tagesgeschäft den Menschen.
Vicky band sich ihren Schal vors Gesicht und versuchte, sich weiter durch das Inferno vorzukämpfen, gab jedoch nach wenigen Metern wieder auf. Sie würde sich eine Rauchvergiftung holen, und außerdem hatte sie einmal gehört, dass der hoch konzentrierte Trockentreibstoff von Raumschiffen sehr giftig sein sollte. Das war wohl doch nur etwas für jemanden mit Spezialausrüstung. Sie wollte sich gerade darauf beschränken, einen Schnappschuss ins Netz zu stellen, da fiel ihr ein grellroter Stoff auf, der im Licht der Abendsonne in den Baumwipfeln leuchtete. Ein Fallschirm! Also war tatsächlich ein Raumschiff und kein Meteor heruntergekommen.
Sie kämpfte sich durchs Unterholz auf den Ort zu, der etwa hundert Meter abseits der eigentlichen Schneise lag, und verlor nach wenigen Metern den Stoff aus den Augen. Auf gut Glück hielt sie weiter in die die Richtung, und stieß tatsächlich nach einigen Minuten auf den Ort, an dem der Fallschirm niedergegangen war. Auch hier rauchte es, an einigen Stellen züngelten noch die Flammen, und eine kleine Tanne war in der Mitte durchgebrochen. Glücklicherweise hatte es vor ein paar Tagen kräftig geregnet, im Hochsommer hätte sich rasend schnell ein Waldbrand ausgebreitet. Obwohl sie damals ein kleines Kind gewesen war, erinnerte sich Vicky bestens an die Brände vor zehn Jahren, bei denen ihre Eltern beinahe die Farm verloren hätten.
Neben der Tanne dampfte in einem Krater eine Kapsel, ein etwa zwei Meter fünfzig hoher und ein Meter fünfzig breiter Kasten aus Metall. Auf der Oberseite war er knallorange gestrichen, die Unterseite bestand aus einer matten Metalllegierung. Sie tippte auf Titan oder Aluminium mit wabenartiger Struktur; von solchen Stoffen hatten sie im Schulunterricht gehört. Der Fallschirm hatte sich in den darüberliegenden Baumkronen verfangen und war zum Teil gerissen, und überhaupt deutete der Krater zweifelsohne darauf hin, dass er den Aufprall nicht vollständig verhindert hatte. Vielleicht war er für dichtere Atmosphären als die der Erde entwickelt worden oder von vornherein bloß dazu gedacht gewesen, den Schock ein wenig abzudämpfen.
Die Vorderseite der Kapsel und die Seitenwände waren beschriftet, doch definitiv nicht auf Standard-Intergal. Die Buchstaben oder Runen sagten ihr nichts, sie hatte dieses Schriftsystem garantiert noch nicht gesehen. Ein kleines, nur etwa fünfzig auf zwanzig Zentimeter hohes Sichtfenster war in die Vorderseite eingelassen. Das Wort ›Radioaktivität‹ spukte ihr durch den Kopf, aber sie ignorierte es und trat näher. Die Kapsel lag schräg, sie konnte vom Rand des Kraters einen Blick ins Innere erhaschen. Enttäuscht stellte sie fest, dass die Scheibe auf der Innenseite beschlagen war. Da schien etwas Grünliches dahinter zu liegen, doch vor allem sah sie Wasserdampf, wie bei einer gläsernen Duschkabine, wenn sie im Winter im ungeheizten Bad als erste duschte – ein Privileg, dass ihr erst zuteilgeworden war, seitdem ihr Bruder sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet hatte. Der Idiot!
Vicky konnte sich nicht entscheiden, was zu tun war. Zwar hatte sie Erste Hilfe für außerirdische Spezies in der Schule gelernt, aber der Unterricht hatte sich auf die Xu’Un’Gil beschränkt, was man auf keinen Fall falsch machen durfte, bevor die Besatzer mit ihren Truppen und Notärzten eintrafen. Die Reptilienwesen waren zäher als Menschen, man sollte eigentlich gar nichts tun, wenn einer in Not geriet. Nur war sie sich in diesem Fall sicher, keinen von ihnen vor sich zu haben. Die Notkapsel ganz sicher nicht in der Sprache Xu’Un’Gil beschriftet, die sie sogar ein bisschen lesen konnte, und außerdem wären zusätzliche Standard-Intergal Hinweise darauf gewesen. Eine Menge Menschen halfen den Xu’Un’Gil, darunter ja auch ihr Bruder, obwohl er immer betonte, dass die Orbitalkräfte von den Streitkräften ihrer Besatzer vollkommen unabhängig seien. Was wusste er schon davon, er war ja bloß ein Rekrut!
Sollte sie die Kapsel öffnen? Was, wenn die Erdatmosphäre ihren Insassen sofort umbrachte? ›Unwahrscheinlich‹, ging es ihr durch den Kopf. In diesem Fall ließe sich der Öffnungsmechanismus gar nicht auslösen. Was sie zur wichtigeren Frage brachte: Wie brachte man das Ding überhaupt auf? Sie klopfte gegen die Metallkapsel und fluchte. Die mattschwarze Oberfläche war glühend heiß!
Sie untersuchte die Seitenwände und fand eine Vertiefung, auf die ein Pfeil und deutlich erkennbare Runen hinwiesen. Kurzerhand umwickelte sie ihre Hand mit dem Schal und drückte. Nichts geschah. Sie musterte den Mechanismus genauer, wobei sie beinahe über den Kraterrand gestolpert wäre. Er erinnerte ein bisschen an den einer Autotür. Also hakte sie die Finger ein und zog. Mit einem Zischen, das ihr einen heftigen Schreck einjagte, fuhr ein Teil der Vertiefung zur Seite und offenbarte ein Holodisplay, auf dem in schematischer Sicht ein humanoider Körper abgebildet war. Zwei Beine, zwei Füße, auch wenn die Proportionen nicht den menschlichen entsprachen. Dazu blendete es eine Unzahl von Informationen in jener Runenschrift ein, die sie nur zu gerne entziffert hätte. Rote Symbole blinkten und einige Zeichen waren fett gedruckt und eingerahmt, das konnten nur Warnhinweise sein. Unter der holografischen Anzeige prangte ein fetter, roter Knopf, für den eigentlich bloß eine Erklärung infrage kam. Die Notverriegelung.
Sie dachte nach. Die Kapsel funktionierte, zeigte entweder medizinische Daten oder irgendwelche Fehler an. Der Türmechanismus schien unbeschädigt zu sein. Die Feuerwehr kam erst in zwanzig Minuten, und weder von den Xu’Un’Gil noch von einem Rettungshubschrauber war etwas zu sehen. Der Insasse der Kapsel brauchte Hilfe, sonst wäre er schon von selbst herausgekommen. Eine Rettungskapsel ließ sich nicht so einfach öffnen, wenn die Atmosphäre tödlich war. Terranische Keime und Pilze konnten einer außerirdischen Spezies nicht zur Gefahr werden und Umweltgifte würde die Automatik ebenfalls prüfen. Und zu guter Letzt hatte sie sich gewiss schon verstrahlt, falls Radioaktivität im Spiel war. Also drückte sie den Knopf.
Zuerst geschah gar nichts. Dann nahm sie ein leises Zischen wahr, das nach und nach intensiver wurde. Instinktiv trat Vicky einen Schritt zurück, was sich als weise Entscheidung erwies, als plötzlich mit einem lauten Knalle die gesamte Vorderseite des Behälters absprang und sie beinahe erschlagen hätte. Ein Schwall einer klebrigen Flüssigkeit floss aus dem Innern, die an Honig erinnerte. Übrig blieb erst einmal nichts als weißer Rauch oder Wasserdampf, der auch das Sichtfenster beschlagen hatte. Während er verflog, traten nach und nach die Umrisse einer außerirdischen Lebensform zutage. Vickys Magen verkrampfte sich vor Aufregung. Er – oder sie oder es, fiel ihr ein – trug einen hellbeigen Raumanzug, eine Art Overall mit Gürtel und ganz gewöhnlichen Hosentaschen, dazu jedoch keinen Helm, und ein großer Teil der Arme blieb frei. Es handelte sich eindeutig um eine humanoide Lebensform, ein Zweibeiner, wie sie schon vermutet hatte. Der Kopf war grünlich, wie von der Farbe eines Grashüpfers, und auch die Arme wirkten wie die Glieder eines Insekts, schienen vier statt drei Gelenke aufzuweisen und endeten in konzentrisch angeordneten, fragil und gleichzeitig elegant wirkenden Fingern, die eher an Robotergreifzangen denn an menschliche Hände erinnerten. Zwei Fühler oder Antennen auf dem grünen Kopf verstärkten den Eindruck, einen etwa menschengroßen Grashüpfer vor sich zu haben.
Das Gesicht hingegen wirkte überhaupt nicht insektenhaft, sondern wie eine Mischung aus Mensch und Fisch. Es besaß einen Mund, der beinahe menschlich aussah, nur dass die Lippen wulstig wie die von Fischen waren und ein wenig hervorstanden, und drei Nasenlöcher, die nach unten verliefen und ziemlich exakt die Stelle einnahmen, an der auch eine menschliche Nase lag. Die Augen lagen leicht seitlich und bestanden aus nach unten lang gezogenen Ovalen, zwei dunkle Seen, die im untergehenden Licht der Abendsonne ölig glänzten. Sie waren weit größer als die eines Menschen, nahmen beinahe die gesamte obere Gesichtshälfte ein. Auf dem Kopf, zwischen zwei Fühlern, besaß das Wesen eine Art Kamm, einen bunt schimmernden Büschel, wie bei manchen irdischen Molchen und Reptilien. Ein grüner Drachen-Graßhüpfer-Olm mit Kulleraugen.
Vicky ging im Geist die vielen Bilder von außerirdischen Spezies durch, die sie im Unterricht durchgegangen waren, und musste passen. Hunderte hatten sie durchgenommen, ihre Daten auswendig gelernt und in langweiligen Xenobiologiearbeiten wieder zu Papier gebracht, und sie war sich hundertprozentig sicher, diese Spezies nie gesehen zu haben. Sie zuckte vor Schreck zusammen, als die Augen plötzlich auf beinahe menschliche Weise blinzelten.
»Hallo?«, rief sie auf brüchigem Standard-Intergal und kam sich dabei schrecklich dumm vor. »Sind sie der Pilot? Sind sie verletzt?«
Das Wesen hob die Greifhand, nestelte an einem Gurt herum, ließ sie jedoch unverrichteter Dinge wieder sinken und gab ein lautes, lang gezogenes Stöhnen von sich, bei dem es sich, da war sich Vicky ganz sicher, in der Tat um ein Schmerzlaut handelte. »Ja. Verletzt. Wo ... bin ich?
Sein Standard-Intergal klang gepflegt, wie von den professionellen Sprechern der Sprachkurse der Xu’Un’Gil gesprochen, nach denen sie im Unterricht lernten.
»Auf der Erde.«
Er neigte den Kopf und einer seiner Fühler knickte nach vorne. Vicky spürte ihr Herz pochen. Bis auf ihre Besatzer hatte sie in ihrem Leben noch nie einen Außerirdischen leibhaftig zu Gesicht bekommen. Wenn überhaupt je einer auf der Erde zu tun hatte, dann mit Sicherheit nichts in Terville.
»Terra?«, murmelte der verletzte Pilot benommen.
»Ja.«
»Sol-System. Sol 3«
Das klang eher wie eine Feststellung, aber es war wohl besser, präzise zu sein. Vicky fragte sich, ob er vielleicht einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte, falls da überhaupt sein Hirn lag, denn sicher musste er als Pilot doch eine Ahnung haben, wo er bruchgelandet war?
»Richtig. Der dritte Planet von Sol. Wir nennen ihn ›Erde‹.«
»Scheiße.«