Читать книгу Vicky - Erich Rast - Страница 12

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Am nächsten Morgen schon zog ein Großteil der Suchkräfte ab. Das Wrack von M’xors Schiff war weggeschleppt worden und der leitende Xu’Un’Gil hielt es offenbar für unwahrscheinlich, den Piloten noch im Wald zu finden. Vicky war sich sicher, dass sie die Rettungskapsel entdeckt hatten, sie war ja kaum zu übersehen, also wussten sie, dass M’xor entkommen war. Wahrscheinlich weiteten sie die Fahndung aus, nahmen an, dass er sich bereits auf den Weg zum nächsten Raumflughafen gemacht hatte, was er ja tatsächlich vorhatte. Ob er sich darüber im Klaren war? Ob ihm bewusst war, wie dicht das Netz der Spitzel und Kollaborateure unter den Menschen geknüpft war? Wahrscheinlich wusste er Bescheid, schließlich hatte ihn Mutter in der Obhut ehemaliger Widerstandskämpfer anvertraut, die sich in solchen Fragen von allen wohl am besten auskannten.

Trotzdem beschloss Vicky nach einigen Tagen, den Hausarrest zu ignorieren und ihm einen Besuch abzustatten. Die meisten Soldaten waren schon am Morgen abgezogen, das Zelt auf der Wiese vor der Farm wurde schon wieder abgebaut, und das große Transportschiff der Xu’Un’Gil, das einen Teil des Südackers zerstört hatte, war mitten in der Nacht mit lautem Donnergetöse abgeflogen. Sie fand, dass ihre Eltern kein Recht hatten, sie auf dem Hof einzusperren, wenn sie, wie Mutter zugegeben hatte, nichts Falsches getan hatte. Noch dazu, während der letzten Tage der Sommerferien, die dieses Jahr ohnehin schrecklich spät ausgefallen waren! Eine solche Ungerechtigkeit konnte sie nicht auf sich sitzen lassen, zumal fast stündlich Nachrichten von Tanxia und Sammy eintrudelten, die beide annahmen, sie sei sauer auf sie, weil sie sich mit Matt Bröninger und Pelle herumgetrieben hatten, ohne sich mit ihr vorher abzusprechen. Als ob sie von denen etwas wollte!

Sie packte ihren Rucksack, prüfte die Wiese hinterm Haus, ob die Luft rein war, und schwang sich mit der jahrelangen Übung einer Kletterenthusiastin auf den Kirschbaum, der ans Fenster ihres Zimmers reichte. Tausendmal schon hatte sie sich über den Ast geschwungen, wenn er auch mittlerweile bedenklich ächzte, weil sie gewachsen war. Sie wog trotzdem nicht viel, war schlank, beinahe schlaksig, und er hielt ihrem Gewicht weiterhin stand.

Die Wiese hinter dem Haus war nicht geschnitten, das Gras wuchs hoch und die Spätsommerblumen blühten noch. Ein alter Holzzaun grenzte das Grundstück vom Rest des brachliegenden Ackers ab, der nach etwa hundert Metern in den Wald führte, der dem Suchgebiet der Xu’Un’Gil gegenüber lag. Ein gewisses Risiko war dabei, dort mochten durchaus Patrouillen unterwegs sein, aber sie hatte die letzten Tage über überhaupt keine Soldaten auf dieser Seite der Farm gesehen. Das Wäldchen hätte einem Flüchtling auch kaum ein Versteck geboten, es endete nach nur hundert Metern an eben der Straße, die ins Tal von Terville führte, und setzte sich hinter dem Feldweg nicht fort. Dort lag eine ehemalige Weide, eine Wiese mit ein paar Apfelbäumen, die sich leicht überblicken ließ. Ein idealer Ort, um Wachen zu postieren, aber wenn sie einer anhielt, würde sie sich einfach dumm stellen. Es war ja helllichter Tag und keine Ausgangssperre verhängt worden, und natürlich ging es die Patrouillen nichts an, ob ihre Eltern sie zu Hausarrest verdonnert hatten oder nicht.

Sie begegnete keinen Soldaten, die Suchaktion war anscheinend abgeblasen worden, kaum dass sie angelaufen war, und einen Augenblick lang fürchtete Vicky, sie haben M’xor längst gefunden. Das war Quatsch, fiel ihr ein, ihre Mutter hätte davon erfahren, denn dann hätten sie ja ihre alten Kontakte auch festgenommen.

Diesmal war sie zu Fuß unterwegs, was natürlich dauerte, aber das hatte den Vorteil, dass sie querfeldein laufen konnte und das Ortszentrum vermied, wo sie irgendjemand garantiert bemerken würde. Augenzeugen wollte sie allein deshalb vermeiden, da sie nun wusste, dass Mutter viel besser Bescheid wissen musste, was im Ort vor sich ging, als sie immer geglaubt hatte. Sicher würde einer ihrer alten Freunde wie zum Beispiel Herr Meyer, ihr verraten, wenn er ihre Tochter bei ›verdächtigen Aktivitäten‹ erwischte. Sie fragte sich, wer außer Meyer und Vieux damals noch für den Widerstand gearbeitet hatte. Brenner natürlich, der M’xor jetzt beherbergte.

Der Hof lag außerhalb, weiter von Terville entfernt als der ihrer Eltern, und zählte auch eigentlich nicht als Bauernhof, obwohl noch einige ehemalige Weiden dazugehörten. Der alte Brenner hielt kein Vieh und baute schon gar kein Getreide an, er galt als Eigenbrötler und Kauz, und Vicky hätte ihn im Traum nicht für einen Widerstandskämpfer gehalten. Für sie war er immer nur ein Rentner gewesen, der sich weigerte, in die Stadt oder auch nur ins Dorf zu ziehen, und stattdessen nur etwa einmal pro Monat von seiner Hütte herunterkam, um sich mit dem Nötigsten einzudecken. Wenn sie ehrlich sein sollte, hatte sie in ihrem Leben bisher auf den alten Brenner kaum einen Gedanken verschwendet, kannte ihn überhaupt nur mit Namen, weil sie als Kind durch die Wälder gestreift war und sämtliche Gehöfte im Umland erforscht hatte. Sie hätte sich an seine Hütte nicht erinnert, wenn ihre Mutter ihr damals nicht ausdrücklich verboten hätte, in der Nähe der Brenner-Farm zu spielen. Nicht nur ihr war jeglicher Kontakt mit ihm untersagt gewesen, auch den meisten ihrer Freundinnen und Freunde, wodurch sich im Lauf der Jahre allerlei gruselige Gerüchte um ihn gerankt hatte. Dass er ein Pädophiler sei, der sich an Kindern vergriff, dass er auf jeden schoss, der in die Nähe seiner Berghütte kam, dass er seine Frau ermordet habe und die Leiche zum Trocknen in der Scheune aufgehängt habe, dass er nachts über die Weiden streifte und Schafe abschlachtete, um ihr warmes Blut zu trinken, und dergleichen mehr. Alles Mögliche hatten die Leute im Dorf von dem faltigen alten Einzelgänger behauptet, nur nicht, dass er in der Widerstandsbewegung aktiv gewesen sei. Was, im Nachhinein gesehen wohl die bestmögliche Tarnung gewesen war, die man sich vorstellen konnte. Trotzdem fragte sich Vicky, weshalb er in eigenen Reihen bis heute so unbeliebt war, wenn er doch damals so eine Art Anführer gewesen sein sollte. Sie nahm sich vor, bei passender Gelegenheit ihre Mutter einmal ins Kreuzverhör zu nehmen. Ob hingegen Pete nun auch alles erfahren sollte, wollte sie lieber ihren Eltern überlassen. Sie hatten recht, er hatte sich in gewisser Weise für die gegnerische Seite entschieden. Da mochte es besser sein, mögliche Gewissenskonflikte im Vorfeld zu vermeiden.

Nach rund vierzig Minuten, gegen drei Uhr nachmittags, kam sie zu Brenners Hof, der etwas höher in den Bergen lag als die meisten anderen und vor langer Zeit einmal einem Kuhhirten gedient hatte. Tannen umringten das rustikal geschmückte Haus. Das Fundament bestand aus Steingemäuer, weiß verputzt, und nur der obere Teil war aus dunklem Holz gebaut. Einen Augenblick lang fragte sich, ob an all den Gerüchten nicht doch was dran war, und ärgerte sich, nicht wenigstens ein Küchenmesser eingepackt zu haben. Konnte der Alte nicht beides sein? Widerstandskämpfer und potenzieller Vergewaltiger? Dagegen sprach nichts – im Gegenteil, die Freunde der Xu’Un’Gil in der Verwaltung rückten die Rebellen von damals stets in dieses Licht.

Sie verwarf den Gedanken als unwahrscheinlich. Das wären doch zu viele Zufälle auf einmal. Zielstrebig lief sie auf die Eingangstür zu, damit sie es sich nicht anders überlegte, und klingelte mit einem flauen Gefühl im Magen. Nichts regte sich. Sie drückte erneut und erschrak, als mit einem lauten Klackgeräusch das Außenlicht vor der Tür anging, obwohl die Sonne schien.

»Wer ist da?«, rief jemand von innen, bei dem es sich um den alten Brenner handeln musste. Er klang einerseits ganz normal, andererseits ausgesprochen zornig und abweisend.

Sie nahm ihren Mut zusammen. »Victoria Hill, Aldena Hills Tochter. Ich komme, um ihren Gast zu besuchen.«

Es dauerte ein paar Sekunden länger als erwartet, bis die Antwort erklang: »Bist du allein?«

»Nur ich, ja.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und sie sah in das Gesicht des alten Kauzes. Er sah überhaupt nicht bedrohlich aus, eher amüsiert, und musterte sie neugierig. »Wissen deine Eltern, dass du hier bist?«

»Aber ja, natürlich«, log sie, dass sich die Balken bogen. »Aldena hat gesagt, dass ich mich von ihm verabschieden und mehr über seine Kultur lernen soll, damit ich weiß, warum es noch Leute gibt, die gegen unsere Besatzer kämpfen.«

Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und er ließ sie herein. Erst, als er die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fiel ihr auf, dass in der schräg gegenüberliegenden Tür Herr Meyer vom Gemischtwarenladen stand. Um eine Schulterschlaufe baumelte vor seinem Bauch ein modernes Plasmamaschinengewehr und sein Finger lag über dem Anschlag.

»Aldena, deine Tochter möchte dich sprechen!«, rief der alte Brenner, dem das Grinsen gar nicht vergehen wollte, als ihre Mutter hinter Meyer auf der Schwelle zum Wohnzimmer auftauchte. Sie lächelte, was nicht unbedingt Vickys Erwartungen entsprach.

»Davon erzählen wir deinem Vater lieber nichts, ja?«

Vicky nickte und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Ich wollte bloß –«

Sie hielt in der Hand eine Pistole, mit der sie lässig ins Zimmer hinter sich winkte. »Zweite Tür rechts. Weck ihn nicht auf, wenn er schläft. Er hat schon nach dir gefragt.«

»Hallo Vicky!«, grüßte sie M’xor. Er schien guter Laune zu sein, saß aufrecht in einem gemütlichen, rustikalen Bett mit geblümter Federdecke und verzierten Holzschnitzereien im Bettgestell und rief auf seinem hypermodernen Hologrammgerät Sternkarten ab.

»Wie geht es dir?«, erkundigte sie sich und musterte neugierig die gestochen scharf dargestellten, schematischen Karten. Sie stellten ihren Teil der Milchstraße dar, mit der Erde als Zentrum und den möglichen Routen, die wegführten. Sie glaubte, auch politische Konstellationen zu erkennen, oder militärische Zonen, jedenfalls waren einige Gebiete in pastellfarbene Wolken getaucht.

»Oh, bestens, Vicky, viel besser als vor zwei Tagen, und ich freue mich sehr, dass du gekommen bist! Ich muss schnell weiter, aber sie wollen mich hierbehalten. Vielleicht kannst du deine Mutter und ihre Freunde ja davon überzeugen, dass sie mir helfen, zum europischen Zentralflughafen bei Toulouse zu kommen.«

»Ich?« Sie lachte unwillkürlich, weil er den Vorschlag so ernst vorbrachte. »Wohl kaum.«

Er winkte mit den Fühlern, was sie als Geste nicht zu deuten vermochte. »Aber du giltst als jung, ich verstehe, dass du nach den Verhältnissen der Men-shuk noch nicht vollständig ausgewachsen bist. Sie haben ihre Leben schon zum großen Teil gelebt. Der Jugend gehört die Zukunft, die Erwachsenen werden sich also deinen Argumenten beugen, daran hege ich keine Zweifel. Bitte sprich mit ihnen und überzeuge sie davon, mich ziehen zu lassen!«

›Der Jugend gehörte die Zukunft.‹ von dieser Warte aus hatte sie das noch nie gesehen. »So funktioniert das bei uns Menschen nicht.«

Er seufzte auf menschliche Weise. »Schade. Ich muss wirklich weiter. Vielleicht könntest du sie dennoch ... fragen?«

»Wieso die Eile? Wäre es nicht besser, wenn du dich erst auskurierst? Ich glaube kaum, dass die Xu’Un’Gil dich hier finden können.«

Er wandte seinen grünen Grashüpferkopf zu ihr und blinzelte mit seinen großen, ovalen Augen. »Meine Mission ... ich kann dir und deinen Freunden keine Einzelheiten verraten. Doch steht sehr viel auf dem Spiel. Viele Leben.«

»Viele Leben?«

»Korrekt, Vicky. Möglicherweise ist es schon zu spät, oder uns bleiben noch sechs Monate. Aber die Zeit läuft, und ich muss den Auftrag so bald wie möglich erfüllen. Das würde ich deinen Freunden gerne klarmachen, doch sie wollen nicht auf mich hören.«

Sie versprach, für seine Sache ein Wort einzulegen, wusste allerdings schon, dass ihr niemand zuhören würde. Als sie sich von ihm verabschiedete, kam im Wohnzimmer ein lautstarker Streit auf.

»Ausgeschlossen!«, hörte sie Brenner, der für einen Mann seines Alters erstaunlich schreien konnte. »Wir sind zu schwach.«

»... es wichtig ist«, vernahm sie ihre Mutter. Sie sprach ruhig und vernünftig, wie Vicky sie kannte.

»... ein Gemetzel ...«

Sie öffnete die Tür und die ehemaligen Widerstandskämpfer verstummten. Auf dem Tisch vor sich hatten sie eine große Übersichtskarte von Europien ausgebreitet, eine geografische Karte mit Höhenlinien, in die neben Städten auch Flugplätze und Hafen eingezeichnet waren.

Aldena wandte sich an sie, wieder ganz die Mutter. »Hast du dich von ihm verabschiedet?«

»Ich würde ihn gerne noch einmal sehen.«

Der alte Brenner verzog missmutig das Gesicht, er schien die Gruppe tatsächlich anzuführen. Meyer biss sich auf die Lippen, auch ihm war ihre Anwesenheit wohl nicht recht.

»Sie ist dein Kind«, knurrte ihr Gastgeber mürrisch.

Mutter seufzte. »Warum nicht. Er geht erst mal sowieso nirgendwohin. Aber das nächste Mal streifst du nicht allein durch die Wälder, wo das Militär herumwuselt, sondern fährst im Jeep mit. Einmal noch. Dann verabschiedest du dich wirklich. Und jetzt fahren wir zurück.«

Ihr fiel ihr Versprechen wieder ein. Dieser Moment war wohl ebenso gut wie jeder andere. »Er sagt, dass er schnellstens weiter muss. Es stehen Leben auf dem Spiel.«

Ihre Mutter wiegelte mit der Hand ab und Meyer rollte mit den Augen, da wusste sie schon, wie nutzlos der Versuch war. »Überlass das uns. Wir fahren zurück, Victoria.«

Damit war das Thema erledigt. Sie wusste, wann es Sinn machte, mit ihrer Mutter zu diskutieren, und wann nicht.

Wie sich herausstellte, parkte Aldena den Jeep in einer Scheune, deshalb hatte sie ihn bei ihrer Ankunft nicht bemerkt. Das machte Sinn, wenn man bedachte, wie leicht es war, den Autoverkehr per Satellit auszuwerten.

Zwanzig Minuten später waren sie zurück. Vicky verzog sich in ihr Zimmer und studierte die Textnachrichten ihrer Freundinnen. Nur allzu gerne hätte sie wenigstens Sammy eingeweiht, doch hatte ihr Aldena die ganze Fahrt über in eindringlichen Worten klargemacht, wie schrecklich gefährlich es wäre, wenn sie auch nur mit irgendjemandem ein Sterbenswörtchen über diese Sache spräche. Also beantwortete sie Tanxias und Sammys Textnachrichten mit einer Lüge. Angeblich hatte sie sich eine Erkältung geholt und lag im Bett, das war ihnen beiden angesichts der Umstände als die beste Notlüge vorgekommen. Mutter, die bewaffnete Widerstandskämpferin, bereitete unterdessen in der Küche das Abendessen vor.

Vicky

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