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II. Die Gegenstimmen

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Im Zug seiner Christentumskritik stellte Nietzsche die Diagnose, daß es gleich allen anderen Kulturgestalten an seinen eigenen Hervorbringungen zugrundegehen müsse. So sei es infolge der Bibelkritik „als Dogma“ zugrundegegangen. So müsse es nun in einem „Schauspiel von hundert Akten“ auch noch „als Moral“ zugrunde gehen15. So hellsichtig diese Diagnose gerade auch angesichts der gegenwärtigen Selbstdarstellung des Christentums erscheint, gilt doch tatsächlich das Umgekehrte: daß es nur aus eigener Kraft und in entschiedenem Rückbezug auf seine Mitte, also auf dem Weg der Selbstaussage, den krisenhaften Zustand überwinden und seine Glaubwürdigkeit zurückgewinnen kann.

Dieser Selbstaussage fehlt jedoch der Hallraum, in dem sie vernommen, aufgenommen und umgesetzt werden könnte. Es sind vor allem epochale Gründe, die sie nicht „zu Wort kommen“ lassen. Unter diesen ist es insbesondere der sich in die Signatur der Gegenwart immer tiefer einschreibende „Reduktionismus“16. Ihm leistete Nietzsche Vorschub, sofern er darauf ausging, den „unvollständigen“ Nihilismus seiner Zeit, in den „vollkommenen“ zu überführen und den Gottesgedanken bis in seine letzten, selbst grammatikalischen Restbestände hinein aus der modernen Denkwelt zu eliminieren. Deshalb versuchte er, seine Zeitgenossen mit den Mitteln seiner vehementen Rhetorik vom zielgerichteten Geschichtsbild der jüdisch-christlichen Tradition abzubringen und mit seiner Lehre von „der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ zum zyklischen Geschichtsmodell der Antike zu überreden17. Doch damit wurde für ihn nicht nur – in Anspielung auf Richard Wagners „Parsifal“ gesprochen – die Zeit zum Raum unablässiger Wiederholungen; vielmehr ging es ihm gleichzeitig auch darum, den durch die Botschaft Jesu der Menschheit eröffneten Atemraum einzuebnen.

Dieser Raum hatte seinen Zenit in dem von Jesus entdeckten, erkämpften und erlittenen Gott der vorbehalt- und bedingungslosen Liebe, zu dem er die Seinen aufblicken und in dem er sie Halt, Hoffnung und Frieden zu finden lehrte. Erst in der Retrospektive Thomas Manns wurde klar, daß Nietzsches Attacke, mit dem Schlüsselwort des „Doktor Faustus“ gesprochen, der „Zurücknahme“ der Gottesbotschaft Jesu und der Destruktion des von ihm erschlossenen Himmels galt18. Obwohl dem Urheber dieses Vorhabens nur der Hinweis auf Ludwig van Beethovens „Neunte Symphonie“ zu entlocken ist, erhellt sich doch aus dem Kontext, daß es sich letztlich gegen den „Vater überm Sternenzelt“ richtet, dem Nietzsche den Appell: „bleibt der Erde treu“19, entgegengesetzt hatte.

Doch damit brachte der Dichter des „Doktor Faustus“ nur das auf den Begriff, was sich nach Gerhard Krüger längst schon anbahnte, nachdem bei Descartes der Gott der „undurchschaubaren Übermacht“ das Gottesbild Jesu verdunkelte20; nachdem bei Kant der sich selbst verrätselnde Gott an die Stelle dessen trat, in welchem nach 1Joh 1,5 „Licht und keine Finsternis ist“, und nachdem sich der Liebesblick des nach Nikolaus von Kues „Allsehenden“21 bei Nietzsche in einen tödlich verletzenden Pfeil verwandelte22. Und hatte dem nicht auch Goethe in seinem „Faust“ vorgearbeitet, als er das nirgendwo schöner als im Neuen Testament „brennende“ Offenbarungswort, nach stufenloser Zurücknahme zu „Sinn“ und „Kraft“, schließlich mit „Tat“ übersetzte23? Visierte er mit seinem Übersetzungsversuch nicht die Abstiegskurve an, die von der reformatorischen Inthronisation des Wortes über Idealismus und Lebensphilosophie zur Absage an die Interpretation zugunsten der revolutionären Gewalt führte? Mittelbar sind damit aber auch die Schlüsselgestalten dieser Verfallsgeschichte angesprochen: Lessing mit seiner Zurücknahme der Offenbarung auf ein göttliches Erziehungsprogramm, Kant mit seiner Einschränkung der Religion auf die Grenzen bloßer Vernunft und David Friedrich Strauß mit seiner Bestreitung eines göttlichen Eingriffs in die Menschheitsgeschichte24. Denn mit dieser Absage war auch der für das Christentum konstitutive Glaube an eine göttliche Selbstoffenbarung getroffen.

Mit der Verflachung des religiösen Lebens- und Atemraums ging aber auch eine Nivellierung des Menschen einher, die mit jener in ein verhängnisvolles Wechselspiel trat. Nachdem er nach Sigmund Freuds Theorem von den drei Kränkungen durch Kopernikus seine Zentralstellung als Mikrokosmos verloren hatte, nachdem er durch Darwin dem Entwicklungsgang allen Lebens unterworfen worden war und nachdem ihm Freud selbst das Hausrecht im Haus des eigenen Bewußtseins abgesprochen hatte, verflachte der Mensch zusehends zu der von Herbert Marcuse beklagten Eindimensionalität. So aber entsprach es aufs genaueste dem Ziel des Reduktionsprozesses, das literarisch von George Orwell und Aldous Huxley denunziert worden war und in der postmodernen Beliebigkeit seinen weltanschaulichen Ausdruck fand. In welch auswegloses Dilemma der Mensch dadurch geriet, zeigt der Zwiespalt der emotionalen Reaktionen. Der von Marcuse registrierte „Sieg über das unglückliche Bewußtsein“25 durch das „glückliche“ Einverständnis mit dem Bestehenden ging, ebenso unverkennbar wie unwiderruflich, an dessen Widersacher, den schon von Nietzsche beschworenen „Geist der Schwere“, verloren, der in Form einer depressiv-resignativen Stimmungslage die öffentliche und kirchliche Lebenswelt bestimmt.

Wenn diese Stimmung die Glaubenskraft nicht auslaugen soll, muß eine Gegeninitiative ergriffen werden. Mit Korrekturen wären freilich allenfalls kurzfristige Teilerfolge zu erzielen. Wenn das Übel an seiner Wurzel ergriffen und die unerläßliche Wende zum Besseren herbeigeführt werden soll, muß dem Reduktionismus vielmehr die schon überfällige Reduktion des Christentums auf seine ureigene Mitte entgegengesetzt werden. Denn in seiner moralischen Kopflastigkeit hat sich das Christentum bereits selbst dem von Kant bestimmten Trend unterworfen, der der Religion nur noch innerhalb der Grenzen der bloßen – und das hieß für Kant der praktischen – Vernunft, und damit als Moral ein Überlebensrecht zugestand. Damit zog es sich aber auch schon die Prognose Nietzsches zu, die es gerade „als Moral“ zum Untergang verurteilt sah. Soll diese Prognose falsifiziert und sollen das Lebens- und Überlebensrecht des Christentums gesichert werden, muß dessen mystische Mitte wiederentdeckt und zum Leuchten gebracht werden. Denn das Christentum ist im Gegensatz zum Buddhismus keine asketische, sondern eine auf die Heilung des todverfallenen Menschen bedachte therapeutische Religion. Es ist im Unterschied zum Islam keine primäre, sondern eine sekundäre Schriftreligion. Und im Vergleich zum Judentum, aus dem es hervorging, ist es keine moralische, sondern eine mystische Religion. Das resultiert aus der Tatsache, daß das Christentum seinen Ursprung und seine Mitte nicht in der Lehre seines Stifters, sondern in ihm selber hat. So unterscheidet sich Jesus von allen anderen Religionsstiftern dadurch, daß er nicht nur eine Lehre hat, sondern diese Lehre in leibhaftiger Verkörperung ist und deshalb in der Geschichte gegenwärtig bleibt; und daß er im Unterschied zu jenen nicht nur Glauben fand, sondern in den an ihn Glaubenden fortlebt. Deshalb ist er selbst sein Beweis und als solcher der Zeuge, der in der Selbstaussage des Evangeliums das entscheidende Wort zu sagen hat.

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