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VI. Die stille Beredsamkeit

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Das ist die Frage nach der Person, konkreter noch: nach der personalen Aussagekraft Jesu. Grundsätzlich kann darauf mit der Erkenntnis geantwortet werden, daß Jesus nach Joh 1,1 seine Botschaft in personaler Wirklichkeit ist. In seiner Person ist er das Medium der an die Welt ergangenen Gottesoffenbarung. Daß darauf aber auch konkret geantwortet werden kann, ist das Ergebnis von Kierkegaards Neulektüre des Evangeliums. Denn ihm war durchaus zweifelhaft, ob die von ihm als Schlüsselwort des Ganzen ausgemachte Einladung an die Bedrückten und Beladenen als Wort des historischen Jesus erwiesen werden könne. Selbst wenn er dieses Wort – so die Lösung – niemals gesprochen hätte, stünde doch seine ganze Lebenswirklichkeit für die Authentizität dieses Wortes ein. Mit der stillen Beredsamkeit seiner Lebenstat hätte es niemals etwas anderes gesagt als dieses: „Kommet her zu mir“29.

Wenn Kierkegaard, wie dem Wortlaut seiner These zu entnehmen ist, dabei die Wundertätigkeit Jesu vor Augen stand, ergibt sich die Antwort aus dem Rückschluß von diesem Wirken auf seine Person. Es wurde in aller Form vom Johannesevangelium vollzogen, sofern die großen Zeichenhandlungen Jesu wiederholt in seinen das ganze Evangelium erhellenden und strukturierenden Ich-bin-Aussagen gipfeln: das Brotwunder in dem Wort „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35.48); die Heilung des Blindgeborenen in dem Wort „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 9,5), und die Auferweckung des Lazarus in dem Wort „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25). Das aber ist ein Fingerzeig, wie auch die von den Synoptikern überlieferten und von der Apostelgeschichte (Apg 10,38) erwähnten Wunder zu verstehen sind: als vielfältiger Hinweis auf das in ihm bestehende Gotteswunder und, rückläufig gesehen, als seine lebenspraktische Selbstauslegung.

Wie im johanneischen Brotwunder erscheint er auch hier als der um die Sättigung der notleidenden und hirtenlosen Volksscharen Bemühte (Mk 6,34.36ff), als der um das Fortleben des dem Tod entrissenen Mädchens Besorgte (Mk 5,43), als der von den Tränen der verzweifelten Mutter Erschütterte (Lk 7,13) und in alledem als der von dem Leid der Hilfesuchenden Mitbetroffene. Das unterstreicht der Matthäusevangelist mit dem von ihm auf Jesus bezogenen Jesajawort:

Er hat unsere Leiden auf sich genommen und sich unsere Krankheiten aufgebürdet (Mt 8,17).

Jesus erscheint somit als der göttliche „Atlas“, der „die ganze Welt der Schmerzen“ zu tragen hat30, biblisch ausgedrückt, als das „Lamm“, das die „Sündenlast der Welt“ (Joh 1,29) wegträgt. In alledem erscheint Jesus nicht nur als der große Therapeut, der das Leid der Welt von dessen eindeutiger Ursache, von ihrer Todverfallenheit beseitigt, sondern als der, der darauf so, wie es der Figur des „verwundeten Arztes“ (Lk 4,53) entspricht, stellvertretend und mitleidend eingeht. Doch dadurch gewinnt seine Person ein vielgesichtiges Profil, das unwillkürlich an das der „vielfarbigen Weisheit“ erinnert, von der im Epheserbrief (3,10) die Rede ist. Daß damit eine richtige Spur aufgenommen ist, bestätigt wiederum das Matthäusevangelium, wenn sich Jesus von dem wankelmütigen, an launische Kinder erinnernden Volk mit dem Wort distanziert:

Doch die Weisheit wurde durch ihre Werke gerechtfertigt (Mt 11,19).

Mit seinen Wundertaten erbrachte er den vom Volk freilich nicht gewürdigten Wahrheitsbeweis für den von ihm erhobenen Anspruch. In seinen Werken leuchteten die Gottesweisheit und er selbst als ihr personaler Inbegriff auf. Das besagt, Weisheit besteht nicht in der Überschreitung der Welt und im Aufstieg zum „überhimmlischen“ Ideenreich, sondern im Abstieg zu den vom Leid der Welt Betroffenen und in der Solidarisierung mit deren Not. Gerade die Niederungen des Daseins und die in sie Verstoßenen sind das Medium, in dem sich die zu ihnen herabsteigende Weisheit in ihrer Vielfalt auffächert. Darin beweist sich dann auch die stille Beredsamkeit der helfenden Lebenstat Jesu. Darin gewinnt das in ihm gesprochene und doch übersprachliche Wort eine verständliche Sprache. Und gleichzeitig zeigt sich jetzt, in welcher Weise der als Interpretament an das Neue Testament Herangetragene dieses neu zur Sprache zu bringen vermag.

Doch damit ist noch keineswegs das letzte Wort in diesem Entwurf einer christozentrischen Hermeneutik gesprochen. Denn auch in dieser Hinsicht muß die Sache Jesu mit Edward Schillebeeckx im Sinn der „Geschichte von einem Lebenden“31, von einem in den Seinen Fortlebenden, verhandelt werden. So fordert es insbesondere auch die gegenwärtige Phase der Glaubensgeschichte, die ihre Achse darin hat, daß der Geglaubte aus dem Schrein seiner dogmatischen, kerygmatischen und kultischen Vergegenständlichung hervortritt, um aktiv, wenngleich vermittelt durch die mit ihm Geeinten, ins Glaubens- und Lebensgeschehen einzugreifen. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, den Theorieansatz in einer Weise auszuwerten, daß er der Eigeninitiative des von ihm Gedeuteten Raum bietet. Das aber gelingt, wenn er so gesehen wird, wie ihn der frühe Augustinus in seiner Schrift „De magistro“ entdeckte: als den am Rezeptions- und Verstehensakt aktiv beteiligten „inwendigen Lehrer“32.

Schon in seinen „Selbstgesprächen“ berichtet Augustinus von einer Stimme, die er vernommen hatte, wobei er im Zweifel war, ob diese Stimme von außen oder aus seinem eigenen Inneren kam. Jetzt, im Gespräch mit seinem früh vollendeten Sohn Adeodatus, begreift er deren Herkunft. Dabei würdigt er den Gesprächspartner auf bewegende Weise dadurch, daß er ihm das Schlußwort des Dialogs überläßt:

Ich habe jedenfalls durch das, was mir deine Worte zu verstehen gaben, gelernt, daß der Mensch durch Worte allein nur die Anleitung empfängt, wie er sich belehren soll, und daß es nur ein kleiner Teil ist, den die Sprache zu enthüllen vermag von dem, was sich ein Sprechender denkt. Klar geworden ist mir aber, daß, wenn ein Lehrer etwas Wahres sagt, d e r allein uns lehrt, der uns durch die äußeren Worte von Seinem Wohnen in unserm Inneren benachrichtigt. Er ist es, den ich, wenn mir seine Gnade hilft, lieben will mit einer um so heißeren Glut, als ich Fortschritte machen werde in der Lehre33.

Auf der Höhe des Mittelalters griff Philipp der Kanzler das Motiv aufs neue auf, indem er es auf das – nun auf die Intervention des inwendigen Lehrers begründete – Zustandekommen des Glaubensaktes bezog34. Indessen hat der Gedanke seine Grundlage bereits in der paulinischen und johanneischen Geistlehre. So entwickelt Paulus, komplementär zu der zeitgenössischen Vorstellung von einem Himmelsbrief, in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, die er mit Empfehlungsschreiben für sich einzunehmen sucht, das Konzept des „Herzensbriefs“, indem er seinen korinthischen Adressaten versichert:

Unser Brief seid ihr, eingeschrieben in unsere Herzen, von allen Menschen verstanden und gelesen. Denn vor aller Augen steht ihr da als der von uns ausgefertigte Brief Christi, der nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist Gottes geschrieben ist, und dies nicht auf Tafeln aus Stein, sondern auf Herzenstafeln aus Fleisch (2Kor 3,2f)35.

Obwohl das Bild des Herzensbriefs aus der Position und Sicht des Missionars entworfen ist, entstammt es doch zu sehr der Erfahrungswelt des Schriftstellers, als daß er nicht auch auf diese und damit auf das Problem der schriftlichen Mitteilung bezogen werden könnte. Dann aber erscheint der Schriftsteller in einer engen Affinität zur Konzeption des inwendigen Lehrers, so daß nun der mit diesem gegebenen Verstehenshilfe eine „sachliche“ gegenübertritt, und zwar in Gestalt des dem Herzen des Mitteilenden eingeschriebenen „Briefs“. Das Bindeglied zwischen beiden Motiven besteht dann in der hermeneutischen Grundeinsicht, daß nur das verstanden wird, was sich der Mitteilende selbst „gesagt sein läßt“. Wenn das aber einem Akt der Selbstaneignung gleichkommt, bedarf es dabei der Intervention jener transzendenten Entgegenkunft, die Nikolaus von Kues mit dem Schlüsselwort seiner Schrift „De visione Dei“ – sis tu tuus et ego ero tuus: sei dein eigen, dann bin auch ich dein eigen36 – zur Sprache bringt. Für die mündliche Mitteilung ist das Augustinus zu Folge der „inwendige Lehrer“, für die schriftliche nach Paulus der mit diesem identische „Herzensbrief“, in dem das ermöglichend vorweggenommen ist, was sich im dokumentierenden Text niederschlägt.

Als johanneisches Pendant entspricht dem der in den Abschiedsreden verheißene „andere Beistand“, der die Gläubigen an alles „erinnert“, was Jesus verkündete, und der sie so „in die volle Wahrheit“ einführt (Joh 16,13). Darin erweist sich Paulus als der, mit einem mittelalterlichen Ausdruck gesprochen, „Lesemeister“, der die Botschaft Jesu, indem er sie in Erinnerung ruft, vor der Gefahr des Vergessenwerdens bewahrt, und indem er ihre volle Wahrheit gewährleistet, vor der Gefahr der Verfälschung schützt. Das aber klingt ganz so, als habe das Johannesevangelium bereits das Lutherwort im Ohr, wonach es „ein großer Abbruch und ein Gebrechen des Geistes“ war37, daß überhaupt Bücher geschrieben werden mußten, weil das in keiner Weise der mündlichen Urform des Evangeliums entsprach. Danach war die Abfassung der neutestamentlichen Schriften die Folge der zweifachen „Not“, die ebenso durch den Tod der Augenzeugen und Garanten der Authentizität wie durch die rapide Ausweitung des Kommunikationsraums eingetreten war, der nur durch schriftliche Mitteilungen zu überbrücken war. Das aber heißt, daß die Funktion des Lesemeisters ausgesprochen nachösterliche Verhältnisse voraussetzt, zumal Jesus selber weder schrieb noch irgendjemanden mit der Aufzeichnung seiner Botschaft beauftragte. Wie aber ist dann diese Funktion zu beurteilen?

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