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III. Das Eigenleben

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Wenn Albert Schweitzer der wissenschaftlichen Jesusforschung zugute hält, daß es ihr gelungen sei, Leben in die vom Felsen der Kirchenlehre losgekettete Gestalt Jesu zu bringen, stellt sich nunmehr diese Aufgabe neu. Denn als Interpretament kann Jesus nur unter der Bedingung wirksam werden, daß von ihm mehr gewußt wird als das, was die neutestamentlichen Aussagen von ihm erkennen lassen. Die Schwierigkeit besteht dann allerdings darin, daß dafür keine Quellen außer diesen kanonischen herangezogen werden können, da sich die Suche sonst im trüben Gewässer der apokryphen Überlieferungen verlieren würde. So aber stellt sich die Frage, ob sich nicht Sachverhalte nachweisen lassen, in denen Jesus ein Eigenleben der vermuteten Art bewies, und zwar unabhängig von dem, was die wissenschaftlich orientierte Lektüre der neutestamentlichen Schriften von ihm erkennen ließ. Das setzt allerdings voraus, daß die Grenzen der historisch-kritischen Methode erkannt und damit auch überschritten werden. Worin bestehen diese Grenzen?

Wie nur staunend vermerkt werden kann, bestehen die Grenzen dieser Methode weniger in ihrer kritischen Funktion, als vielmehr in ihrem Verständnis von historischer Faktizität. Im Sinn des Hegelschen Regelworts von der erst in der Abenddämmerung fliegenden Eule der Minerva13 geht es ihr dabei um die begrifflich feststellbare Gestalt des jeweils Gewesenen, nicht jedoch um die fortwirkenden Folgen des Geschehenen. Das verengt den rückschauenden Blick in einer Weise, daß das von den neutestamentlichen Berichten Gemeinte buchstäblich aus ihrem Horizont herausfällt. Denn ihnen geht es, bei aller Historizität des jeweils Berichteten, stets um dessen Fortwirken in die Zukunft hinein. Das gibt den Weg zu „transkritischen“ Lesarten frei, die sich auf den in der Tiefenschicht der Texte waltenden Geist beziehen. Insbesondere aber wird jetzt ein „Eigenleben“ der Gestalt Jesu jenseits dessen denkbar, was die text- und buchstabenbezogene historisch-kritische Methode den Texten zu entnehmen vermag. Doch worin besteht dieses Eigenleben?

Eine erste Antwort ergibt die Frage nach dem Sinn der Wunder Jesu. Im Zug der historisch-kritischen Analyse ergab sich nach dem Ausscheiden der Dubletten und der Übertragungswunder, in denen Wunder der Mose- und Prophetengeschichten auf ihn als den neuen Mose und den Propheten der Endzeit übertragen werden, ein Restbestand von Exorzismen und Heilungswundern, die Jesus umso weniger abgesprochen werden können, als er seine Wundertätigkeit nach Lk 17,20 ausdrücklich als eine Form seiner Reich-Gottes-Verkündigung begriff. Doch klafft zwischen diesen Berichten und dem heutigen Leser der von Lessing – im Vorgriff auf die historische Kritik – beklagte „garstige breite Graben“ des Zeitenabstands14, der in der Wunderfrage umso mehr zu Buch schlägt, als Wunder, wie schon der frühe Augustinus erkannte, nur für die Augenzeugen, nicht jedoch für jene evident sind, die von ihnen nur durch Berichte erfahren.

Für den heutigen Leser ergibt sich allerdings eine völlig andere Sachlage, wenn er sich von James M. Robinson darüber belehren läßt, daß schon die Logienquelle – und infolgedessen erst recht das Neue Testament insgesamt – als das literarische Osterwunder zu gelten hat, weil es als das „Testament“ eines vermeintlich Gescheiterten und nach Gal 3,13 dazu noch von Gott Verworfenen ohne den Initialstoß der Auferstehung Jesu niemals zustandegekommen wäre. Deshalb stehen alle Aussagen und Berichte über Jesus im Licht der Auferstehung. Was die Wunderberichte betrifft, so ist die Auferstehung, wie Klaus Berger zeigte, der Schlußstein, der die übrigen Wundertaten erst zu einem stabilen Ganzen zusammenfaßt15. Doch nicht nur dies: Die Auferstehung überbrückt, in ihrer Konsequenz ausgeleuchtet, auch den von Lessing beklagten Zeitenabstand. Denn in ihrem Licht wird nicht nur der Zusammenhang der Wunder deutlich, sondern auch die Tatsache, daß sie auf Jesus hin erzählt sind. Wie Jesus nach Eduard Schweizer als „das Gleichnis Gottes“ zu gelten hat16, so im Sinn der Wunderberichte auch als das große, das Dunkel erhellende und alle Not bezwingende Gotteswunder. In ihm und im Ereignis seiner Auferstehung brach das immer schon Ersehnte, jedoch nie Erreichte, das Niedagewesene in diese von „Finsternis und Todesschatten“ verdunkelte Welt ein, mit ihm brach „die Zeit der Huld und der Tag des Heils“ (2Kor 6,2) in der Geschichte an.

Das aber kann nicht beschreibend festgestellt, sondern nur staunend und bewundernd angenommen werden. Und das in einem Akt, der sein Begreifen als Reflex eines vorgängigen Ergriffenseins erfährt. Denn das „Christusereignis“ gilt nach Hebr 13,8 „gestern, heute und in Ewigkeit“. Deshalb gibt es ihm gegenüber kein distanziertes Verhältnis. Es kann nur angenommen oder abgelehnt werden. Wenn aber das erste geschieht, zieht es den Rezipienten unaufhaltsam in seinen Bann. Dann wird sein ganzes Dasein von dessen Licht durchdrungen und von dessen Lebenskraft erfüllt. Denn der Auferstandene verdeutlicht seine Gegenwart mit der Zusicherung: „Ich lebe, und auch ihr werdet leben“ (Joh 14,19), die keineswegs futurisch, sondern als präsentische Gewährung und als die sich jetzt schon ereignende Einbeziehung in seine Lebenswirklichkeit gemeint ist. Denn nur so entspricht es der von Paulus bezeugten Tatsache, daß er bei aller Entrückung zugleich in den Seinen gegenwärtig ist und fortlebt: gegenwärtig als ihr wahrer Identitätsgrund und fortlebend als ihr inspirierender und insinuierender Beweggrund.

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