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Einführung
ОглавлениеDas Christentum hat unsere Welt in den letzten zweitausend Jahren auf beispiellose Weise geprägt. Als bis in die entlegensten Winkel der Erde verbreitete und auch heute noch an Mitgliederzahlen mit Abstand größte Religion hat es die kulturell-zivilisatorische Entwicklung der Menschheit nachhaltig beeinflusst. Dadurch hat es das Leben auch jener Menschen verändert, die keiner christlichen Kirche angehören und sich nicht bewusst an der christlichen Botschaft ausrichten. Während diese Tatsachen wohl unbestreitbar sind, bleibt die Frage kontrovers, wie diese Wirkung des Christentums zu beurteilen ist und ob es unter den gewandelten Bedingungen der Gegenwart noch eine Zukunft hat oder haben sollte. Die Antwort hängt ganz davon ab, was als der eigentliche Wesenskern des Christentums betrachtet wird. Wie der Name schon sagt, definiert sich das Christentum vom Bezug zu Jesus Christus her. Was aber dieser identitätsstiftende Bezug bedeutet, worin er inhaltlich besteht und welche Konsequenzen daraus folgen, daran scheiden sich die Geister. Es mag überraschen, dass offenbar noch kein Konsens darüber gefunden wurde, obwohl die herausragendsten Denker der abendländischen Geistesgeschichte sich von Anfang an darum bemühten.
Dies hat seine Ursache vielleicht darin, dass das Grundphänomen, welches mit dem Christentum in die Welt tritt, mit keiner der bisher verfügbaren Denkkategorien angemessen erfasst und zum Ausdruck gebracht werden konnte. In Jesus Christus erscheint Gott als Person, das transzendent-geistige „Wort“, das als ewige Wahrheit und schöpferische Allmacht bei Gott war, wird Mensch in der Endlichkeit der geschichtlichen Zeit. Der Gedanke, dass die absolute Wahrheit mit einer individuellen, in Raum und Zeit existierenden Person identisch ist, kann zunächst nur paradox klingen, denn Wahrheit ist doch etwas Allgemeingültiges und daher Überindividuelles, eine geschichtliche Person hingegen ist in ihrer Konkretheit einmalig und nicht auf eine abstrakte Universalität reduzierbar.
Aus dieser Spannung ergaben sich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung des Christentums nicht geringe Schwierigkeiten. Einerseits musste der Glaube, besonders im Zuge seiner Verbreitung über den engeren jüdischen Entstehungskontext hinaus, durch eine rationale Reflexion verstehbar gemacht werden, andererseits standen dafür mit der antik-griechischen Philosophie nur Kategorien zur Verfügung, welche Wahrheit mit abstrakter Allgemeinheit identifizierten und in deren Kontext eine Offenbarung der absoluten Wahrheit in einer konkreten geschichtlichen Person eigentlich nicht denkbar war. Dies hatte zur Folge, dass die personale Offenbarungsgestalt Jesu Christi zunächst auf abstrakte Begriffe und diese dann in ein System gebracht wurden. Das Wahrheitsverständnis wurde nicht prinzipiell verändert, aber mit neuen, eben christlichen Inhalten gefüllt, es wurde eine „christliche Wahrheit“ entfaltet. Die trinitätstheologischen und christologischen Definitionen der alt-kirchlichen Konzilien, die großen theologischen Summen des Mittelalters und die lehrbuchartigen Dogmatiken und Katechismen auch noch des neuzeitlichen Katholizismus geben ein breites Zeugnis davon. Die durch Martin Luther 1517 ausgelöste Reformation kann auch als kritischer Einspruch gegen diese Entwicklung hin zu einem auf begriffliche Systematisierung reduzierten Christentum gedeutet werden. Die Rückbesinnung auf das Zeugnis der Heiligen Schrift ist auch eine Wiedergewinnung jenes personalen Heilsbezuges, der durch Jesus Christus eröffnet wurde. Freilich stellt sich dann die Aufgabe, den so reformierten Glauben rational zu verstehen und zu verantworten, mit neuer Dringlichkeit.
Im Kontext dieser skizzierten Entwicklung zeigt sich die epochale Bedeutung von Eugen Biser (1918–2014). Mit seiner hier posthum veröffentlichten Christomathie verfolgte er nichts weniger als den Anspruch, von der „christlichen Wahrheit“ zur „Wahrheit Christi“ – zurück – zu finden und so jenem Sinn der Offenbarungswahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, der ihr ebenso unverwechselbar wie ursprünglich eigen ist. Für diese Wiederentdeckung ist eine „Neulektüre des Evangeliums“ unverzichtbar. Das Spezifikum Jesu Christi sieht Biser darin, dass er „nicht nur eine Botschaft hat, sondern diese Botschaft in personaler Verkörperung ist“. Daraus folgt, dass die Wahrheit seiner Lehre nur von seiner Person her verstanden werden kann. Die Person Jesu muss als Interpretament, als Schlüssel, an alle biblischen wie theologischen Aussagen herangetragen werden. Das Evangelium und die Theologie sind daher nicht Aussagen über Jesus, sondern eigentlich die Selbstaussage Jesu.
Freilich ergibt sich aus einer solchen Vorentscheidung ein gewichtiges hermeneutisches Problem: Wie soll der heutige Leser der Heiligen Schriften einen Zugang zum Selbstverständnis Jesu bekommen, das ihm ja eigentlich durch die Evangelien erschlossen werden sollte? Den Ausweg aus diesem hermeneutischen Zirkelschluss findet Biser in seiner Sicht des Christentums als einer nicht doktrinär-moralischen, sondern mystisch-therapeutischen Religion. Zum Spezifikum des Christentums gehört es auch, dass sein Stifter nicht nur eine prophetische Gestalt der Vergangenheit ist, sondern durch die Auferstehung in den Herzen der Seinen gegenwärtig fortlebt. Durch diese mystische Präsenz Jesu Christi kann jeder Glaubende in den Verstehensakt der Selbstaussage Jesu hineingenommen werden. Diesen grundlegenden Gedanken bindet Biser zurück an das schon in der Patristik entfaltete Bild von Jesus Christus als dem inwendigen Lehrer. Im auf Ignatius von Antiochien zurückgehenden Begriff der „Christomathie“ (vom griechischen manthanein, lernen) wird das Verhältnis zwischen Jesus und den Glaubenden am Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler verdeutlicht. Ebenso wie der Lehrer seinen Schüler, so nimmt auch Jesus den Glaubenden in seinen eigenen Verstehensprozess mit hinein. Und ebenso, wie der Lehrer einen Schüler nicht nur intellektuell informieren, sondern existenziell bilden will, so wirkt auch das Wort des inwendigen Lehrers Jesus Christus nicht nur informativ, sondern performativ, lebensgestaltend und lebensverändernd. Mehr noch: Weil das innere Wort Jesu das Leben des Auferstandenen mitteilt, überwindet es die Angst vor dem Tod und wirkt daher befreiend und heilend.
In der „Christomathie“ kulminieren zahlreiche Vorstudien Eugen Bisers zum Thema „Jesus Christus“. Mit diesem Werk führt er seine Reflexionen auf das Ursprungsprinzip jeder traditionellen Christologie zurück. Aus einer immer intimer werdenden Christusbeziehung heraus öffnet der Glaubende sich für das Wort, das sich selbst als die Liebeszusage Gottes zu verstehen gibt.
Dieser theologische Neuansatz kann nicht ohne Konsequenzen für die konkrete Gestalt der Kirche bleiben, sowohl formal-strukturell als auch inhaltlich. Das Christentum wird dadurch erneut befähigt, seinen Weltauftrag zu erfüllen, d.h. zeitgemäße Antworten auf die Probleme der Gegenwart zu geben – und damit einen Beitrag für die Zukunft der Menschheit zu leisten.
Prof. Dr. Martin Thurner
Vorsitzender des Stiftungsrates der Eugen-Biser-Stiftung