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1. Der Helfer

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Wenn Jesus mit Kierkegaard unter dem Gesichtspunkt seiner stillen Beredsamkeit gesehen wird, fällt von seiner Gestalt vor allem Licht auf alle Stellen, die seine Menschlichkeit und sein Wissen um das, „was im Menschen war“ (Joh 2,25), belegen. Im schriftgelehrten Disput der beiden in der Versuchungsszene aufeinanderstoßenden Kontrahenten zeigt sich dann eine überraschende Übereinkunft: Was den Menschen ebenso bewegt wie peinigt, ist der Hunger. In der Frage nach dessen Deutung und Beseitigung gehen sie dann freilich umso weiter auseinander. Denn Jesus sieht darin so sehr das nur von Gott zu befriedigende Elementarbedürfnis, daß er das Problem der leiblichen Sättigung zu übergehen scheint. Doch sein „nicht vom Brot allein“ schließt so wenig die Sorge um das tägliche Brot aus, wie das „nicht mehr ich lebe“ des Galaterbriefs (Gal 2,20) das im Identitätstausch verbleibende Selbstbewußtsein des Apostels verneint.

Was Jesus unter Hunger versteht, ist somit die elementare Bedürftigkeit des Menschen, der bei der Befriedigung seiner leiblichen und geistigen Bedürfnisse, ja sogar beim Vollzug von Lebensakten wie Sprechen und Arbeiten auf die Kooperation mit anderen und damit auf ihre Hilfe angewiesen ist. Er begreift den Menschen somit als das Wesen der Kontingenz, der konstitutiven Hinfälligkeit, die ihn nach dem Helfer Ausschau halten läßt, der ihm aus dieser Seinsschwäche aufhilft. Und er hebt darauf ab, daß dieser Helfer zunächst in Gott und ihm, dem an Gottes Stelle Handelnden5, gesucht wird. Alle anderen Hilfen kommen aus seiner Sicht, auch wenn sie noch so naheliegen, nur subsidiär ins Spiel. So entspricht es, wie Karl Rahner deutlich machte, auch dem Gottesbegriff Jesu. Denn Gott ist für ihn gegenüber den andringenden Gegebenheiten des Daseins so sehr der Erstgegebene und Erstgewisse, daß dieses Bewußtsein sogar auf seine Jüngerschaft übergriff und sie, mit Einschluß der sich auf sie begründenden neutestamentlichen Autoren, jeder Form der Gottsuche überhob6. Deshalb gibt es für den, dessen Leben ohnehin die Signatur eines Vorlaufs in den Tod als dem Ort der definitiven Gottesbegegnung aufwies, auch in den Fragen der Lebenspraxis und Lebensbewältigung nur den allen anderen Beanspruchungen vorangehenden Rekurs auf Gott. Das spiegelt sich in seiner lakonischen Antwort auf den ihn zum Brotwunder auffordernden Versucher:

Nicht nur vom Brot lebt der Mensch (Lk 4,4).

Da sich Jesus aber gleichzeitig als der größte Realist erweist, der dem Antlitz der Welt unverwandt ins Auge schaut, darf daraus keinesfalls auf eine Gleichgültigkeit gegenüber den Lebensnöten mit dem Hunger an deren Spitze geschlossen werden. Im Gegenteil, wie die von ihm aufgenommenen Fragen der um Essen, Trinken und Kleidung besorgten Menschen und das Wort von dem um Brot, Fisch und Ei bittenden Kind – und das in der Kornkammer des römischen Reiches und bei dem der damaligen Welt bekannten Fischreichtum des Sees – beweist, weiß er sehr wohl um die Bedrängnis des durch die rigorose Steuergesetzgebung Roms verarmten Volkes. Und die Vaterunserbitte um das tägliche Brot macht die tägliche Brotsorge sogar zu einem Gebetsanliegen! Anders, als es der Versuchung entsprochen hätte, geht er darauf aber nicht mit einer ökonomischen, sondern mit einer ihn selbst einfordernden Aktion ein, die sich auf den durch Hunger und Entbehrung in Sorgen gestürzten Menschen bezieht. Ihm gilt seine spektakuläre Einladung.

In dem Bedürfnis nach Nahrung und Kleidung bekundet sich in der Sicht Jesu jedoch nicht nur die Hinfälligkeit und Seinsschwäche dessen, der seinem Leben „keine Elle“ hinzuzufügen vermag (Lk 12,25), sondern, radikaler noch, die dem Menschen geschlagene Todeswunde, die sein ganzes Dasein verstört und ihn zu einem sorgenden Außer-sich-Sein verurteilt. Sorgend ist er, anstatt bei sich selbst, stets bei anderen und anderem, besonders bei dem, was der nächste Tag bringen mag, obwohl doch der gegenwärtige genug an Plage mit sich bringt (Mt 6,34). In Gestalt der Sorge frißt sich die Kontingenz des Daseins in das Denken und Fühlen hinein; deshalb ist sie der Herd des Problems, der Hunger dagegen Folge und Epiphänomen.

In diese Not greift Jesus ein, indem er unter Hinweis auf die ihn selbst bewegende Sorge zu einem Sorgentausch einlädt:

Sorgt euch um das Reich Gottes, dann wird euch das andere dazugegeben (Lk 12,31).

Damit wird das sorgende Außer-sich-Sein nicht verurteilt, wohl aber auf ein neues, unvergleichlich großes Ziel ausgerichtet: auf das von Jesus verkündete, heraufgeführte und verkörperte Gottesreich. Verkündet: denn im Bestreben, den für Jesu Botschaft unerläßlichen Zentral und Mittelbegriff zu finden, stößt der Mensch durch seine Identifikation mit dem Menschensohn auf den des Gottesreichs. Heraufgeführt: denn Jesus versteht seine Verkündigung ebenso wie seine Wundertätigkeit als Weg, diesem Ziel im Denken und Verhalten der Menschen Raum zu schaffen und es nach Lk 17,20 inmitten von ihnen zu vergegenwärtigen. Und verkörpert: denn bei dessen Inhaltsbestimmung verblassen alle bedeutungsgeschichtlichen Herleitungen vor der Erkenntnis des Origenes, der das Gottesreich in Jesus selbst – als dessen soziale Selbstdarstellung – verkörpert sah7.

Wenn es sich nicht schon aus der Einladung zum Sorgentausch ergäbe, würde hier nun klar, daß sich Jesus dabei als die leibhaftige Alternative zur Sorge selbst ins Spiel bringt. Damit erhebt er sich über die Ordnung des kontingenten Daseins mit all dessen Ängsten und Sorgen. Und gleichzeitig klärt sich, warum es in der Versuchungsszene zu keiner wirklichen Auseinandersetzung mit dem Angreifer kam, so daß dessen Invektiven wirkungslos an ihm abglitten. Der Grund kann nur darin bestehen, daß er in dieser Szene gerade nicht als der begegnet, „der mit unseren Schwächen mitfühlen kann, weil er in allem gleich uns versucht wurde, jedoch sündelos blieb“ (Hebr 4,15), sondern als der Erhöhte und darum allen Anfechtungen Entrückte. Nun klärt sich gleichfalls, weshalb die Szene auf ähnliche Weise wie die der Ostergeschichten surrealistisch anmutet und somit schon von ihrem Aufbau her an die Osterszene erinnert. Nicht zuletzt erinnert sie aber auch an die byzantinischen Darstellungen der Höllenfahrt Christi mit dem besiegten Hades und dem niedergetretenen Satan, so daß der Weg Jesu in ihr tatsächlich so beginnt, wie es in Umkehr der ursprünglichen Angabe in Goethes „Faust“ zum Ausdruck gebracht werden kann: von der Hölle durch die Welt zum Himmel.

Wenn Jesus nun aber die Sorgen dessen übernimmt, der sich mit ihm um die Heraufkunft des Gottesreiches sorgt, führt von hier schon ein kleiner Schritt zu seiner johanneischen Selbstbezeichnung, mit der er, auf dem Höhepunkt seines Widerspruchs, nominell auf das satanische Ansinnen eingeht, indem er sich „das Brot des Lebens“ nennt (Joh 6,48). Das ist zugleich das Äußerste, was er der Brotversuchung entgegenzusetzen hat. In diesem Wort konvergieren aber auch alle anderen Formen seines Helfens, in erster Linie die offenbarende und die therapeutische, die in den Selbstbezeichnungen als „Licht der Welt“ (Joh 9,5) und als „Arzt“ (Mk 2,17) angesprochen sind.

Doch damit ist die Erzählebene der Versuchungsgeschichte definitiv verlassen. Im selben Maß ändert sich dann das Verhältnis des Lesers zum Text, und das in einer Weise, die an die von Paulus eingenommene Position erinnert. Zwar ist er keineswegs wie der Apostel Autor, doch auch nicht bloßer Rezipient, da der Versuchte längst aufgehört hat, für ihn nur Gegenstand der Erzählung zu sein, sondern mit ihm, vorausgesetzt, daß auch er in den von Jesus geforderten Sorgentausch eintrat, die Sorge um das rechte Verständnis teilte. Deutlicher als je zuvor trat er jetzt aus dem Schrein seiner doktrinalen Vergegenständlichung hervor, in den er durch die österliche Verwandlung des Glaubenden zum Geglaubten, des Botschafters zur Botschaft und des Lehrers zur Lehre eingeschlossen worden war. Wie das Kollektiv, das zu Beginn des johanneischen Briefs das Wort ergreift, bekommt ihn der Leser zu hören, zu sehen und zu fühlen (1Joh 1,1ff), wenngleich – im Gegensatz zu den Augen- und Ohrenzeugen der ersten Stunde – auf eine nur abkünftige und doch das Leseverhalten zum Kreativen hin bestimmende Weise. Es ist die Stimme des inwendigen Lehrers, die ihm dazu verhilft, sich das in den Texten Gesagte konstruktiv und nachschaffend gesagt sein zu lassen. Damit ist ihm Jesus aber tatsächlich, wenngleich auf die einzige, intentionale Weise, zum Lesemeister geworden. Und im selben Umfang, wie dieser die Regie übernimmt, wurde der Leseakt zum Ort der Selbstverständigung dieses Lesemeisters mit dem von ihm in den Texten Gesagten.

Christomathie

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