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2. Der Befreier

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Nur am Rand streift die Versuchungsperikope die anderen Dimensionen des Helfertums Jesu, von denen nur noch die therapeutische zu erwähnen ist, da die Initiative in Gestalt des inwendigen Lehrers in den Leseakt selber einging. Stattdessen wendet sie sich in jähem Ortswechsel, der aus der Wüste auf die Höhe des „Weltenberges“ führt, der Möglichkeit der politischen Anfechtung des Versuchten zu. Mit der Wendung, daß ihm „in einem einzigen Augenblick“ alle Reiche der Welt mit ihrer Macht und Herrlichkeit vor Augen geführt werden, läßt sie an dieser Stelle auch ihr surrealistisches Gepräge durchscheinen. Tatsächlich geht es dabei um eine Versuchung, die sich auf das Ziel des Lebenswerkes Jesu bezieht. Weil es Jesus – in der Vorstellung des Versuchers – offensichtlich zu wenig war, nur als der große Nothelfer in Fragen materiellen Mangels in die Geschichte der Menschheit einzugehen, richtet sich dessen Absicht auf Größeres und Größtes, das schließlich nur in einer von ihm erstrebten Weltherrschaft bestehen kann. Tatsächlich trifft das satanische Kalkül hier wiederum, wenngleich in radikal pervertierter Form auf die Intention Jesu, dem es um nichts Geringeres als um die Gewinnung der ganzen Welt für die Sache Gottes gehen kann. Freilich könnte die Differenz der beiden Konzepte nicht größer sein. Denn die satanische Herrschaft kommt nur auf dem Weg der Unterdrückung, des Terrors und der Gewalt zustande, die von Jesus angezielte auf dem diametral entgegengesetzten Weg der Freiheit. Dies bestätigt nach Art eines kongenialen Kommentars die „Legende vom Großinquisitor“ aus Dostojewskijs unvollendet gebliebenem Roman „Die Brüder Karamasow“, in der die dämonische Titelfigur dem wiedergekehrten Christus vorwirft, die Menschen durch die von ihm gewährte Freiheit derart überfordert zu haben, daß sie dieses höchst unwillkommene Geschenk nun mit Freuden ihm, dem kirchlichen Machthaber, zu Füßen legten8. Doch wodurch überfordert?

Das ist die Frage nach dem Wesen der von Jesus eröffneten und verkörperten Freiheit. Auch sie ist, schon angesichts der repressiven Verhältnisse seiner Zeit, zunächst die emanzipatorische der aufgehobenen Zwänge und der gesprengten Fesseln. So sieht sie Paulus, der sie als Gegenbegriff zum jüdischen Gesetz (Gal 3,23) und zu den kosmischen „Mächten und Gewalten“ (Gal 1,4), den „Elementarmächten“ des Daseins (Gal 4,3.9) versteht. Denn durch den in der Auferstehung Jesu errungenen Sieg wurde der von ihm auf das Weltgeschehen ausgeübte Bann gebrochen. In die Mitte dieses Freiheitsbegriffs führt jedoch erst die Einsicht, daß dadurch dem Menschen die Möglichkeit eröffnet wurde, die in ihm schlummernden Fähigkeiten freizusetzen und sich zum Ziel der Gotteskindschaft hin zu erheben. Insofern ist diese Freiheit eine primär elevatorische, die den Einzelnen wie die Gesellschaft einem nur durch sie erreichbaren Werdeziel entgegenführt. Um in diesem Sinn wirksam zu werden, muß die Freiheit jedoch aus dieser abstrakten Bestimmung in ihren lebendigen Selbstvollzug überführt werden9. In einem ersten Schritt gelingt dies, wenn man die Freiheit aus der ihr eingestifteten Dynamik erhebt und begreift, daß sie wie nur noch die Liebe für sich einsteht und zu sich provoziert. Das verdeutlichte Bultmann, indem er den Stoiker mit Paulus konfrontierte:

Denn darin liegt der Unterschied: der Stoiker ist frei kraft seiner Vernunft, auf die er sich im Rückzug von allen Begegnungen und Ansprüchen konzentriert, – er ist damit frei von der Zukunft, geflüchtet aus der Zeitlichkeit des Seins; Paulus ist frei, indem er sich, durch die Gnade Gottes befreit, der Gnade frei gibt, frei von allen Ansprüchen, die ihn an das Gegenwärtige, Vergehende und schon Vergangene fesseln wollen, frei für die Zukunft, für die Begegnungen, in denen er Gottes Gnade immer aufs neue als die auf ihn zukommende erfahren wird 10.

Durch sein Widerstreben gegen die Mystik ist Bultmann dann allerdings außerstande, den zweiten und entscheidenden Schritt mit der Einsicht zu tun, daß die mit der Freiheit gebotene Hilfe, der Kierkegaardschen Gleichsetzung zufolge, in ihrer Identität mit dem Helfer gesehen, gesucht und angenommen werden muß11. Nicht am platonischen Ideenhimmel oder in dem im Sinne Hegels gedeuteten Weltgeschehen, sondern in ihm, der ebenso wie das Person gewordene Wort und das Reich so auch die durch ihn verkörperte und eröffnete Freiheit ist, wird sie gefunden und zum Besitz des ihm in Glaube und Liebe Verbundenen. In der „Kontaktmetamorphose“ mit ihm wird sie zu dem das Denken des Empfängers entschränkenden und dessen Wollen stimulierenden Ereignis. In diesem Sinn überredet und provoziert sie zu sich selbst.

In der Korrespondenz mit Korinth wandte Paulus dieses Freiheitserlebnis auf den Leseakt an, wobei er sich auf das als einzige „Schrift“ vorliegende „Alte Testament“ bezog, das an dieser Stelle erstmals, wenn auch nicht schon in Buchform, als solches bezeichnet wird (2Kor 3,14). Weil es ihm als ein „verhülltes“ Christuszeugnis gilt, besteht für ihn die „befreiende“ Lesart in einem Akt der Enthüllung, der die verschleierte Wahrheit zum Vorschein bringt:

Sobald sich einer zum Herrn wendet, wird die Hülle weggenommen. Denn der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn waltet, da ist Freiheit (2Kor 3,16f).

Was das für die Lektüre des Neuen Testamentes besagt, wird im Blick auf die Mitbeteiligung des inwendigen Lehrers am Leseakt deutlich. Je spürbarer er die Regie übernimmt und als eine Art „Über-Ich“ des Lesers tätig wird, desto klarer gestaltet sich der Leseakt, wie sich schon bei der Beteiligung des „Helfers“ zeigte, als Forum der Selbstverständigung Jesu mit dem, was die neutestamentlichen Texte von ihm berichten und über ihn sagen. Dabei geht aber die von Paulus hervorgehobene „enthüllende“ Wirkung nicht verloren. Vielmehr gewinnt sie jetzt jenen „diakritischen“ Charakter, den er als eine eigene Geistesgabe bezeichnet (1Kor 12,10). Zwar bezieht sich der Ausdruck, dem noch schriftlosen Stadium des Urchristentums entsprechend, auf die Situation, die der johanneische Brief mit der Warnung anspricht:

Traut nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in der Welt aufgetreten (1Joh 4,1).

Das ist vor allem im Blick auf die gnostische Verformung und Umdeutung der Botschaft gesagt, in der, verglichen mit der Unterdrückung und Verfolgung durch die römische Staatsgewalt, die kaum weniger schwere Herausforderung bestand, vor die sich die Christenheit der ersten Stunde gestellt sah. Daß sich aber nach dem Eintritt des Christentums in seine textuale Phase, also nach Entstehung der „christlichen Urliteratur“, die Notwendigkeit ergab, aus der Gemengelage der nach Form, Inhalt und Qualität höchst unterschiedlichen Schriften die gültigen von den „apokryphen“ zu sondern, beweist die sich über Jahrhunderte erstreckende Kanonbildung12. Indessen war es damit nicht getan. Wie sich im Zug der im Entstehen begriffenen rezeptionsgeschichtlichen Methode zeigte, bieten auch die kanonischen Schriften eine Gemengelage von Texten, in denen sich Verständnis und Mißverständnis, wenngleich in unterschiedlichem Umfang, spiegeln13.

Einzig verläßliches Kriterium in der dafür erforderlichen Unterscheidung ist derjenige, der im Zuge seiner Selbstverständigung allein darüber entscheiden kann, was in den Texten auf wirkliches Verständnis seiner Botschaft zurückgeht und was infolge von Mißverständnissen und von Fehldeutung in sie eingedrungen ist und als solches gekennzeichnet werden muß. So wird der inwendige Lehrer zum Selektionsprinzip, welches das ihm Ungemäße und Widersprechende verdunkelt, das ihm und seinen Intentionen Entsprechende dafür aber umso heller hervortreten läßt. Damit stellt sich dann aber die unumgängliche und doch schon halb beantwortete Frage nach der zentralen Lebensleistung und dem Heilswillen Jesu. Denn mit seiner Qualifizierung als inwendiger Lehrer ist bereits eine Vorentscheidung über sein Verhältnis zum Menschen und damit, zumindest indirekt, über sein Gottesverhältnis getroffen. Noch einmal drängt hier das Motiv der Freiheit in den Vordergrund. Denn sie besteht in der Freiheit Jesu, jenseits aller menschlichen Vorurteile und Voreingenommenheit in die „Tiefen der Gottheit“ (1Kor 2,10) vorzudringen, ebenso wie in der Freiheit, unabhängig von allen Informationen über den Menschen um dessen Innerstes zu wissen (Joh 2,25). Das aber ist in letzter Konsequenz die Freiheit, um die es in der dritten Versuchung geht: die Freiheit zum Tode.

Christomathie

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