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IV. Die Lebenstat Jesu

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Für diese Verdeutlichung und Konkretisierung bietet sich vor allem Kierkegaard als einer der sensibelsten Leser des Evangeliums an, der in seiner „Einübung im Christentum“ die Gesamtaussage des Neues Testaments auf die „Große Einladung“ Jesu an die Bedrückten und Beladenen (Mt 11,28) zurückführt, doch so, daß er sie mit den Worten vom Massenabfall (Joh 6,60-66) zusammenliest33. Da ihm die Zuordnung des Ausspruchs zu den originären Logien zweifelhaft ist, bezieht er sich auf die „schweigende und wahrhaftige Wohlredenheit“, auf die stille Beredsamkeit der Lebenstat Jesu als Quelle34. Denn mit ihr habe er nie etwas anderes als diese Einladung, durch die er sich als rettender Helfer des gebrochenen und geschlagenen Menschen erwies, zum Ausdruck gebracht. Noch bevor ihm ein Wort über die Lippen kommt, also noch vor jeder verbalen Äußerung, bekundet er durch die Sprache seiner ganzen Existenz, was sich verbal in der Einladung äußert. Damit kommt diese aber den übrigen Aussagen auch in dem Sinn zuvor, daß sie diese übergreift und in ihrem Sinn entweder verstärkt oder relativiert. Mag also im Evangelium noch so oft von Gerichts- und Drohworten die Rede sein, so bilden diese doch niemals einen Einwand gegenüber dieser allem andern vorgeordneten, sie gleicherweise übergreifenden und überstrahlenden Einladung. Sie rückt das ganze Christentum in einen menschenfreundlichen, hilfreichen und heilenden Aspekt. Denn Kierkegaards Christologie muß komplementär zu dessen „Krankheit zum Tode“ gesehen werden, die schon eingangs den Menschen als das gebrochene und mit sich selbst überworfene Wesen charakterisiert. Darauf bezieht sich die von Jesus angebotene und – nach dem Schlüsselsatz: „Der Helfer ist die Hilfe“35 – mit ihm selbst gegebene und identische Hilfe. Es ist die Hilfe dessen, der so sehr in seiner Zuwendung aufgeht, daß er geradezu als Hilfsbedürftiger, therapeutisch ausgedrückt, als „verwundeter Arzt“ erscheint. Zwar setzt er sich damit der – für Kierkegaard auch aus lebensgeschichtlichen Gründen wichtigen – Gefahr des Ärgernisses aus. Doch kann er gerade auf dem Höhepunkt des dadurch Erlittenen versichern: „Wenn ich erhöht bin, werde ich alle an mich ziehen“ (Joh 12,32). Danach erreicht die Einladung erst dann ihr Ziel, wenn der Erhöhte alle in die Lebensgemeinschaft mit sich aufgenommen und sich ihnen darin ganz als Lebensinhalt übereignet hat.

Was die Konkretisierung des Interpretaments und die Auffächerung des mit ihm gegebenen Lichts anlangt, so leistet das auf der höchsten Reflexionsstufe des Neuen Testaments stehende Johannesevangelium dazu einen spezifischen Beitrag, sofern es sich als Zeugnis von Jesus dadurch überschreitet, daß es ihn in den es strukturierenden Ich-bin-Aussagen das „Brot des Lebens“ (Joh 6,35), das „Licht der Welt“ (Joh 8,12), den „guten Hirten“ (Joh 10,11) und die „Türe“ (Joh 10,9) nennt. In den beiden ersten Motivworten bestätigt es lediglich die bereits gewonnene Erkenntnis, daß Jesus so, wie er das „Licht der Welt“ ist, auch die Erhellung ist, die durch ihn auf die Zeugnisse über ihn fällt, und daß in diesem Licht in erster Linie deutlich wird, daß er die von ihm gleicherweise Erleuchteten in die Lebensgemeinschaft mit sich aufnehmen und zu deren Lebensinhalt werden will.

Mit dem Motivwort vom Hirten, der seine Schafe anführt und vor Gefahren bewahrt, ist aber zudem gesagt, daß die von Jesus bewirkte Lichtung zugleich Wegweisung und Führung als Gesetzgebung besagt, auch wenn sich diese von den restriktiven Gesetzesformen dadurch unterscheidet, daß sie bei allem, was auch sie an Forderungen erhebt, letztlich auf Immunisierung gegen das Böse ausgeht. Denn die darin waltende Liebe ist kein Prinzip der Anarchie und Beliebigkeit, sondern der Ordnung, wie es dem mit ihr gegebenen „ordo caritatis“ entspricht.

Die Herde des guten Hirten existiert aber keineswegs in einem Ghetto, in dem man sich wie in einer Festung gegen alles Andersartige und Fremde abschirmen kann. Deshalb spricht die johanneische Hirtenrede von der „Tür“, durch welche die Schafe ein- und ausgehen, um Weide zu finden. Zusammen mit dem Wort vom Vaterhaus mit den vielen Wohnungen (Joh 10,9) ist diese Tür, anders als die Tür in Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“, kein Symbol der Abschreckung, die das, was sie verspricht, zugleich verweigert, sondern ein Symbol der Offenheit und Freiheit. Das gilt vor allem dem modernen Menschen: Er schreitet – nach einer Wendung Paul Valérys – „ ‚der Zukunft im Krebsgang entgegen‘, mit dem Rücken zu ihr“36. Er wird durch die Tür, die Jesus für ihn ist, in aller Form umgedreht und zukunftswillig, zumindest aber zukunftsfähig gemacht. Denn das Christentum steht auf der Basis eines zukunftsorientierten Geschichtskonzepts. Mit seiner Hinordnung auf das Kommende hat es das zyklische Geschichtskonzept der Antike, das Nietzsche mit seiner Lehre von „der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ wiederherzustellen suchte37, aufgebrochen und den Blick in die Zukunft freigegeben. Damit erweist es dem zukunftsfähigen Menschen dieser Zeit den denkbar größten Dienst. Denn für ihn ist alles daran gelegen, daß er seine retrovertierte Skepsis überwinden und den Glauben an seine von der Vision und Lebensleistung Jesu eröffnete Zukunft zu gewinnen lernt.

1 H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834/35), hrsg. v. J. Ferner, Stuttgart 1997, S. 90.

2 M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“ (1943), in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 4/1963, S. 193–247, S. 246f.

3 J. Bernhart, De profundis, mit einem Vorw. v. E. Biser zur Neuausgabe, Weißenhorn 5/1985, S. 191.

4 S. Weil, Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, aus dem Franz. übs. u. hrsg. v. F. Kemp, München 1990, S. 18.

5 Dazu die Abschnitte „Der Klageruf“ und „Der Leidenston“ in meinem Jesusbuch: Das Antlitz. Eine Christologie von innen, Düsseldorf 1999, S. 58ff.

6 S. Kierkegaard, Einübung im Christentum, in: ders., Werkausgabe, aus dem Dän. übs. u. hrsg. v. E. Hirsch u.a., Bd. 2: Einübung im Christentum. Der Augenblick, Düsseldorf u.a. 1971 [im Folgenden abgekürzt: Werkausgabe Bd. 2], S. 9–307, S. 102.

7 Nikolaus von Kues, Sermo XXVIII, pars 2, in: ders., Opera omnia, Bd. 17: Sermones II, Fasc. 1, hrsg. von R. Haubst u.a., Hamburg 1983, S. 15–16, S. 16.

8 Augustinus, Enarrationes in Psalmos, in: ders., Opera omnia, hrsg. v. J.-P. Migne, Bd. 4 (Patrologia Latina, Bd. 36), Paris 1861, Sp. 476.

9 M. Machoveč, Jesus für Atheisten (Jezus za ateiste, 1977), aus dem Tschechischen übs. v. P. Kruntorad, Stuttgart 5/1977, S. 93.

10 Dazu die Ausführungen meines Jesusbuchs: Der Freund. Annäherung an Jesus, München 2/1989, S. 22ff.

11 Dazu: G. Langenhorst, Jesus im Spiegel seiner Autobiographie. Schriftsteller schreiben das Evangelium aus der Perspektive Jesu neu, in: Stimmen der Zeit 2l6 (1998), S. 842–852, insbes. S. 844–850; K.-J. Kuschel, Jesus im Spiegel der Weltliteratur. Eine Jahrhundertbilanz in Texten und Einführungen, Düsseldorf 1999, S. 370–441. <Es handelt sich bei den von E. Biser genannten „Jesusbüchern“ um J. Saramagos Roman: Das Evangelium nach Jesus Christus (O evangelho segundo Jesus Cristo, 1991), aus dem Portug. übs. v. A. Klotsch, Reinbek b. Hamburg 1993, und N. Mailers fiktionale Autobiographie: Das Jesus-Evangelium (The Gospel According to the Son, 1997), aus dem Amerik. übs. v. A. Starkmann, München 1998. E. Biser nimmt Bezug auf diese literarischen Zeugnisse und „leiht“ selbst im Verlauf seiner Ausführungen seine Stimme zunächst dem Lieblingsjünger (S. 146–151 dieser Abhandlung), dann Paulus (S. 169–172) und schließlich Jesus (S. 176–182).>

12 Ignatius von Antiochien, Die sieben Briefe, in: Die Apostolischen Väter, aus dem Griech. übs. v. F. Zeller (Bibliothek der Kirchenväter – im Folgenden abgekürzt: BKV –, 1. Reihe, Bd. 35), München 1918; ferner: K. Berger u. C. Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzung und Kommentar, Frankfurt a. M. u.a. 1999, S. 775–814.

13 Näheres dazu in dem Kapitel „Zugänge“ meines Sammelbandes: Die Entdeckung des Christentums, a.a.O., S. 52–104, insbes. S. 59ff. <Wie E. Biser an dieser Stelle hervorhebt, „verwies Ferdinand Hahn bereits vor Jahrzehnten auf die Notwendigkeit, dem urchristlichen Rezeptionsprozess nachzugehen und das Methodeninstrumentarium in diesem Sinn zu ergänzen.“ Daß diese Entwicklung noch nicht zustande kam, beruht nach Biser auf „einem fundamentalistischen Verständnis der Irrtumslosigkeit der biblischen Schriften […], das sich der nur allzu offenkundigen Tatsache widersetzte, dass diese Schriften aus der Rezeption der Botschaft durch ihre Hörer, Tradenten und Autoren hervorgingen, und dass sich dabei auch Missverständnisse und Fehldeutungen einmischten“ (ebd.).<

14 K. Löwith, Nietzsches antichristliche Bergpredigt (1962), in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 6: Nietzsche, Stuttgart 1987, S. 467–484; ders., Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 4., durchges. Aufl. 1986, S. 28f.

15 F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral III, § 27, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u.a., München u.a. 1980 [im Folgenden abgekürzt: KSA], Bd. 5, S. 408–410, S. 410.

16 Dazu der titelgleiche Abschnitt meiner Programmschrift: Glaubenserweckung, a.a.O., S. 38–43.

17 Dazu: K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, a.a.O., S. 113–126.

18 Näheres dazu in meiner Schrift: Einweisung ins Christentum (1997), Düsseldorf 2004, S. 170ff.

19 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen I, Zarathustra’s Vorrede 3, in: ders., KSA 4, S. 14–16, S. 15.

20 G. Krüger, Die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins, in: ders., Freiheit und Weltverwaltung. Aufsätze zur Philosophie der Geschichte, Freiburg u.a. 1958, S. 11–69, S. 42.

21 Nikolaus von Kues, De visione Dei – Die Gottes-Schau, c. 5, n. 16, in: ders., Philosophisch-theologische Schriften, lat.-dt., hrsg. v. L. Gabriel, übs. v. D. u. W. Dupré, Bd. 3, Sonderausgabe Wien 1989, S. 112f.

22 F. Nietzsche, Nachgelassenes Fragment (Winter 1884 – 85), 31 [32], in: ders., KSA 11, S. 369; dazu ferner meine Schrift: Der schwere Weg der Gottesfrage, Düsseldorf 1982, S. 61f.

23 Dazu mein Beitrag: Der visionäre Durchblick, in: K. Hurtz (Hg.), „Faust“ in der Seele. Zeitgenossen meditieren Goethe, Regensburg 1995, S. 19–24.

24 D. F. Strauß, Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet, Leipzig 1864, S. 4f.

25 Dazu: H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (One-Dimensional Man, 1964), aus dem Amerik. übs. v. A. Schmidt, ungek. Sonderausgabe, Neuwied u.a. 1970, S. 76–102.

26 Dazu: K. Prümm, Christentum als Neuheitserlebnis. Durchblick durch die christlich-antike Begegnung, Freiburg 1939.

27 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Geist der Schwere, in: ders., KSA 4, S. 241–245.

28 Dazu: W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 4/1994.

29 Augustinus, Bekenntnisse VIII, 12, 29, aus dem Lat. übs. v. A. Hofmann (BKV, 1. Reihe, Bd. 18; Augustinus Bd. VII – im Folgenden abgekürzt: 1. Reihe, Bd. 18, VII), München 1914, S. 183.

30 W. Iser, Der Akt des Lesens, a.a.O., S. 50–67: Leserkonzepte und das Konzept des impliziten Lesers.

31 K. Rahner, Theos im Neuen Testament (1942), in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 1, Einsiedeln u.a. 1954, S. 91–167.

32 Augustinus, Der Lehrer – De magistro liber unus, 14,46, aus dem Lat. übs. u. hrsg. v. C. J. Perl, Paderborn 1959, S. 77.

33 Dazu: H. Gerdes, Søren Kierkegaards ‚Einübung im Christentum‘. Einführung und Erläuterung, Darmstadt 1982, S. 15f.

34 S. Kierkegaard, Einübung im Christentum, in: ders., Werkausgabe Bd. 2, S. 18.

35 A. a. O., S. 19.

36 Zitiert nach: K. Löwith, Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens, Göttingen 1971, S. 99.

37 Dazu: ders., Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 4/1986.

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