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IV. Die Vergewisserung

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Wie ein Damoklesschwert hängt über dem Neuen Testament – und darauf bezieht sich die zweite, noch wichtigere Antwort – die Frage nach dem Zustandekommen der von ihm in jedem Satz vorausgesetzten Gottesgewißheit. Als Buch, das seiner ganzen Zielsetzung nach zum Gottesglauben zu bewegen sucht und in allen Propositionen von ihm lebt, müßte es, so der nur allzu naheliegende Einwand, seine Leser doch zunächst einmal von der Existenz des Gottes überzeugen, dessen Heilsbotschaft es auszurichten vorgibt. Abgesehen von verschwindend wenigen Ansätzen, findet sich in dieser Hinsicht jedoch nichts. Da die wissenschaftliche Exegese auf diese Frage niemals einging, stellte sich ihr der Dogmatiker Karl Rahner in seinem denkwürdigen Beitrag „Theos im Neuen Testament“, einem Höhepunkt des Eingangsbandes seiner „Schriften zur Theologie“17.

„Eine Qual, erst nach Gott fragen“ und sich den Boden einer Vergewisserung Gottes schaffen zu müssen, so Rahner, kannten die Autoren des Neuen Testaments ebenso wenig wie „eine Furcht, ob Gott am Ende doch nichts sei als eine ungeheure Projektion der Sehnsüchte und Nöte des Menschen“ oder gar „ein Leiden an der Gottfrage“. Zwar kenne das Neue Testament „eine an sich bestehende Möglichkeit der Gotteserkenntnis aus der Welt“, da für Paulus aber „der Geschaffenseinscharakter der Welt“ für den Menschen immer schon offen- und feststeht, wird die Existenz des schaffenden Gottes vorausgesetzt. Nirgends aber werden „Gottesbeweise“ geführt. Nirgends ist eine Anleitung, wie der Mensch von sich aus ein Gottesbewußtsein entwickeln könne, nirgends eine Berufung auf ein Gottesbedürfnis zu dem Zweck, sich dadurch die Überzeugung von der Existenz Gottes bewußt zu machen. Demgemäß richtet sich ihr Wort auch nicht an einen Leser, der erst noch von der Existenz Gottes überzeugt werden muß, sondern an „einen Menschen, der schon irgendwie von Gott etwas weiß, wenn er auch diese Wahrheit nicht wahrhaben will, wenn sie auch in ihm noch so sehr überlagert ist durch ein nur scheinbar in sich beruhigtes Nichtwissen“18.

Innerster Grund dieser „Selbstverständlichkeit des Gottesbewußtseins“ ist Rahner zufolge für die neutestamentlichen Autoren die „gewaltige Tatsache“ der Selbstoffenbarung Gottes in der von ihnen erlebten Geschichte, konkret in der von ihnen erfahrenen „Wirklichkeit Christi“, die deren Gottesbewußtsein ebenso verursacht wie prägt19. Indessen muß dieser Ansatz weitergedacht werden, weil er nur das Faktum, nicht die Entstehung dieses Wissens um Gottes Dasein erklärt. Den Schlüssel dazu könnte man in der Zentralaussage von Platons Siebtem Brief (341c-d) finden, wo es heißt:

Vielmehr entsteht im beständigen Ringen mit dem Problem und im Zusammenleben plötzlich ein wie von einem überspringenden Funken entfachtes Licht in der Seele, das dann weiter um sich greift20.

Ebenso muß es der Jüngergruppe in ihrem täglichen Umgang mit Jesus ergangen sein. Im Zusammensein mit ihm sah sie sich in das Licht seines Gottesbewußtseins aufgenommen und von dessen Gewißheit durchdrungen. Das führte zu einer Umkehrung ihrer anfänglichen Denkrichtung. Kamen die Männer, die Jesus in seine besondere Nähe gezogen hatte, anfänglich in ihren Überlegungen – wie alle andern – von der Welt zu Gott, so sahen sie sich jetzt auf den entgegengesetzten Weg verwiesen, denn Gott wurde für sie zunehmend zum Erstgegebenen und Erstgewissen. Im selben Maß wandelte sich aber auch die Art dieses Gegebenseins, das zunehmend personalen Charakter annahm. Denn sie fanden die Existenz Gottes nicht wie ein Faktum vor, und noch weniger ergab sie sich für sie wie das Resultat einer Schlußfolgerung. Vielmehr fühlten sie sich in und durch Jesus von Gott angesprochen und so nach Art einer dialogischen Vergewisserung zur Überzeugung von seinem Dasein gebracht. Es war somit eine von Jesus ausgehende „Suggestion“, die sie zur Vergewisserung Gottes führte.

Mit einem psychischen Einfluß hatte diese allerdings nichts zu tun. Zu ihrer Erklärung bedarf es vielmehr der Rückfrage nach dem Existenzakt Jesu. Nach allen Anzeichen bestand dieser nicht wie im menschlichen Normalfall in der Resultante aus Akten der Abgrenzung und Unterscheidung, sondern im Falle dessen, der nicht gekommen war, „um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen“ (Mk 10,45), in einer dazu gegensinnigen Selbstfindung, die aus Akten der Hingabe und Selbstübereignung hervorging. Der Entäußerung, die dem zugrundelag, entsprach die entgegengesetzte Wirkung, die sich vielfach in einem faszinierenden Eindruck auf Jünger, Kranke und Gegner bekundet. Die Hörer seiner Verkündigung reagieren mit dem erstaunten Ausruf:

Eine neue Lehre, und sie wird mit Vollmacht vorgetragen! (Mk 1,27)

Die Abgesandten der Pharisäer entschuldigen ihre Untätigkeit mit dem Hinweis:

Noch nie hat ein Mensch so geredet (Joh 7,46).

Und die Gegner können sich seiner Faszination nur dadurch entziehen, daß sie ihn des Teufelsbundes bezichtigen (Mk 3,22).

Den stärksten Beweis seiner Ausstrahlung bildet jedoch die ihm zu Gebote stehende Heilkraft. Durch sie kommt das in ihm anbrechende Gottesreich und seine Segensfülle am fühlbarsten auf die ihrer am meisten Bedürfenden zu. In ihr legt Gott nochmals Hand an seine Schöpfung, um sie ihrer Leid- und Todverfallenheit zu entreißen und um das – sie aufgrund ihrer Kontingenz durchherrschende – Unheil zu minimieren. Die durch ihn wirksam werdende Gottesmacht zieht aber auch das Bewußtsein der Menschen im Umfeld Jesu in ihren Bann. So erklärt sich die von Rahner vermerkte Umpolung des denkerischen Grundverhältnisses, infolge deren Gott für die Jünger und, vermittelt durch sie, für die neutestamentlichen Autoren zum Erstgegebenen und Erstgewissen wurde.

Jetzt wird aber auch die von Jesus ausgehende Suggestion einsichtig. Sie ist die Folge seiner konstitutiven Hingabe an Gott, die seiner Selbstübereignung an die Menschen ermöglichend zugrundeliegt. Sie schlägt nun auf sein Verhältnis zu diesen durch, so daß sie tendenziell in sein Gottesverhältnis einbezogen und so zur Umgewichtung ihres Bewußtseins gebracht werden. So behauptet Jesus dann auch seine Dominanz gegenüber allem, was Menschen von ihm wissen, bezeugen und überliefern können. Wie er in der Sicht Kierkegaards größer ist als jede von ihm ausgehende Wirkung, so überragt er auch den von ihm ausgeübten Einfluß und damit alles, was jemals über ihn berichtet und dokumentiert werden kann. Was die Berichte über ihn besagen, bleibt nicht nur in quantitativer, sondern insbesondere auch in qualitativer Hinsicht hinter dem, was er verkörpert und ist, zurück. Deshalb ist er das unüberbietbare Interpretament der von ihm handelnden Schriften.

Umgekehrt bleiben diese von der von ihm ausgehenden Suggestion durchstrahlt. Das bringt es mit sich, daß sie mehr besagen als das, was ihr Wortlaut enthält. Die in ihnen fortwirkende Ausstrahlung Jesu qualifiziert sie zu einer den Rezipienten in ihren Bann ziehenden Gottessuggestion. Wer sie liest, erlebt jenseits ihrer jeweiligen Inhalte jene Umpolung seines Bewußtseins, das ihn der Existenz Gottes auf suggestive Weise vergewissert. Das steht im Hintergrund der durch Bibellektüre ausgelösten Bekehrungserlebnisse, angefangen bei der Szene mit dem äthiopischen Kämmerer bis hin zu der durch das „tolle lege“ bewirkten Lebenswende in der Biographie von Augustinus. Das ist die ihre divergierenden Aussagen übergreifende und zuletzt doch zusammenstimmende Botschaft, und ebenso der Grund ihrer Unabgeschlossenheit, die kein distanziertes Verhältnis zu ihr zuläßt, sondern den Leser zur Entscheidung zwischen Akzeptanz und Verweigerung nötigt. In dieser Alternative aber stellt sich definitiv die bereits anstehende Frage nach der Physiognomie des Gottes, dessen Existenz nun außer Zweifel steht. Ist es, wie das Spannungsfeld der biblischen Aussagen und wie insbesondere die Rede von der Gerechtigkeit und dem Gericht Gottes vermuten lassen, der ambivalente Gott der Menschheitstradition oder der Gott, der der Neuheit dieser Vergewisserung entspricht?

Christomathie

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