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III. Eine Neulektüre des Evangeliums

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Nichts ist für das Christentum so lebens- und überlebenswichtig wie die Wiederbelebung des mit ihm verbundenen „Neuheitserlebnisses“26. Denn dieses ermöglichte ihm seinen Einzug in die antike Welt. Und nur von diesem Eindruck ist sein Überleben im begonnenen Jahrtausend zu erhoffen. Allzusehr erscheint es, wie man im Anschluß an ein berühmtes Hegelwort sagen könnte, im Abendschein des Allbekannten und zur Selbstverständlichkeit Gewordenen. Daß aber das Christentum seine ganze Existenz und Botschaft in dieser todverfallenen Welt dem Niedagewesenen im Ereignis der Auferstehung Jesu verdankt und daß es von daher im Morgenlicht des immer noch Bevorstehenden und in keiner seiner bisherigen Erscheinungsformen je ganz Eingeholten gesehen werden muß, ist seinen Anhängern kaum ins Bewußtsein gedrungen – bis auf die wenigen, darum aber umso rühmlicheren Ausnahmen, von denen hier nur Joachim von Fiore genannt sei. Doch eben darin besteht sein Vorsprung gegenüber anderen Heilsangeboten, die sich ausnahmslos auf Vorgegebenes stützen, auch wenn sie sich mit der – rasch verblassenden – Verheißung eines neuen Zeitalters tarnen.

Noch schlimmer als die verbreitete Meinung von der Antiquiertheit des Christentums, von dem keinerlei innovatorische Impulse zu erwarten seien, ist indessen die defizitäre Einstellung der Christen selbst. Längst hat sie der von Nietzsche beschworene „Geist der Schwere“ befallen27, der ihnen einredet, einer Religion der Gesetzlichkeit anzuhängen, in der das als Gott wohlgefällig gelte, was dem Menschen schwerfällt und wehtut. Alles komme auf eine möglichst verdienstliche Lebensführung an, durch die man sich diesseitige und jenseitige Belohnung einhandeln könne. Zusammen mit dem Eindruck, daß die Kirche aufgrund eines verbreiteten Fehlverständnisses auf Fragen antwortet, die niemand stellt, dafür aber die Antwort auf brennende Glaubensfragen schuldig bleibt, führte das zu einer resignativen Stimmung, die keine Kreativität und vor allem keinen Glauben an die Zukunftsfähigkeit des Christentums aufkommen läßt. Denn das Christentum hat zwar eine Moral; es ist aber im Unterschied zu Judentum und Islam keine genuin moralische Religion. Wenn es aber infolge des verbreiteten Fehlverständnisses in diesen Anschein gerückt wird, gerät es in eine Schieflage, die seine Akzeptanz behindert und seine Wirksamkeit gefährdet. Alles ist deshalb daran gelegen, daß seine Sache im Licht der „Morgenschau“, von der schon Augustinus gesprochen hatte, gesehen, entdeckt und zur Sprache gebracht wird. Wenn das gelingen soll, muß aber mit einer Neulektüre seiner Urkunde, also der neutestamentlichen Schriften, der Anfang gemacht werden, weil nur von dort die entscheidende Wegweisung zu erwarten ist. Aber steht dieser Erwartung nicht die Tatsache entgegen, daß diese Schriften, bis auf unbedeutende Restbestände, längst zu Ende erklärt sind?

Daß diese Annahme nicht zutrifft, erklärt sich schon daraus, daß die zu allgemeiner Herrschaft gelangte historisch-kritische Methode, so hoch ihre Ergebnisse zu veranschlagen sind, letztlich doch aufgrund ihrer Herkunft aus dem Geist der Aufklärung, paulinisch ausgedrückt, als eine Methode des „toten Buchstabens“ zu gelten hat. Deshalb sind, wie sich mit wachsender Deutlichkeit herausstellt, alternative Lesarten angesagt, und dies vor allem aufgrund der von Wolfgang Iser herausgestellten Erkenntnis, daß eine Theorie zum Verständnis und zur Wirkung literarischer Texte, wie sie gerade auch für die biblischen Schriften unerläßlich ist, ohne Einbeziehung des Lesers nicht auskommen kann28. Wer aber ist der Leser der neutestamentlichen Schriften?

Wie das Bekehrungserlebnis von Augustinus erkennen läßt, ist dies noch nicht der zunächst in Betracht zu ziehende Bibelleser. Denn Augustinus selbst wird dazu erst aufgrund der an ihn ergehenden Aufforderung: „Nimm und lies“29, die ihm die Augen für die ihn aktuell betreffende Stelle und ihre wegweisende Bedeutung öffnet. Ihm mochte im Sinn des Eingangswortes seiner „Selbstgespräche“ zunächst durchaus zweifelhaft sein, ob diese Stimme von außen und nicht vielmehr aus seinem Innern an ihn erging. Und im Sinn seines Zwiegesprächs „Der Lehrer“ wäre ihm schließlich sogar deutlich geworden, daß das Letztere zutraf, und daß er durch eine in ihm waltende Instanz zur entscheidenden Lektüre geführt wurde. Wer aber ist dann der gesuchte Leser?

Auskunft gibt eine Vorüberlegung, die den Akt des Verstehens und damit auch des – sinnvollen – Lesens betrifft. Um verstanden zu werden, muß sich ein Sprechender, also auch ein Autor, das, was er zum Ausdruck bringt und sagt, zunächst selbst „gesagt sein lassen“. Anders kann er nicht hoffen, von seinem „Ansprechpartner“ verstanden zu werden. Wenn Jesus im Sinn der Inspirationslehre selbst der Initiator – und Autor – der von ihm handelnden Schriften ist, muß dasselbe auch von ihm angenommen werden. Dann ist er auch der primordiale Leser der neutestamentlichen Texte. Der Akt des Lesens hat in diesem Fall – Augustinus meint sogar: in jedem – eine christologische Vorgeschichte. In einem letzten Sinn liest sich das Neue Testament somit immer schon selbst, so wie auch der von ihm geweckte Glaube eine Selbstverständigung des Geglaubten im Glaubenden zur Voraussetzung hat. Wer immer dieses „Buch der Bücher“ aufschlägt, um sich in seine Aussage zu vertiefen, begibt sich somit in den Bann dieser Vorgeschichte, die sich in seiner Lektüre spiegelt, um nicht zu sagen wiederholt.

Damit gewinnt die von der modernen Rezeptionsästhetik ins Spiel gebrachte Figur des „impliziten Lesers“30 über ihre genuine Bedeutung hinaus auch eine theologische Relevanz. Sie ist ohnehin vorweggenommen in der johanneischen Figur des Lieblingsjüngers, wie zuvor schon in der der Diotima in Platons „Gastmahl“ und danach in der der Mignon in Goethes „Wilhelm Meister“. Jetzt aber bezieht sie sich auf den, der ebenso der primordiale Leser der von ihm berichtenden Schriften wie deren entscheidende Lesehilfe ist. Denn von ihm fällt immer schon das mit ihm identische und deshalb zu deren Vollverständnis verhelfende Licht auf die Berichte. Das aber nötigt zu einer Revision des zur Selbstverständlichkeit gewordenen Leseverhaltens.

Bisher wurde Jesus im Licht der neutestamentlichen Texte und ihrer Aussagen über ihn gesehen, obwohl er mit dem Satz: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12), auch ihre Deutung für sich in Anspruch genommen hatte. Jetzt muß eine „kopernikanische Kehre“ in dem Sinn vollzogen werden, daß die Texte in Jesu Licht gelesen und aufgefaßt werden. Das setzt allerdings voraus, daß das von ihm ausgehende Licht, bildhaft ausgedrückt, in seine Spektralfarben zerlegt, also in seiner hermeneutischen Funktion aufgeschlüsselt wird. Doch wie wird der Gewußte dann zum Wissenden und – im Rezeptions- und Interpretationsakt des Lesens – zum Sich-selbst-Begreifenden?

Der Weg zur Beantwortung dieser Frage führt über die innovatorische Erkenntnis Karl Rahners, daß die Autoren der neutestamentlichen Schriften, so sehr es ihnen um die Bedeutung und Festigung des Gottesglaubens ging, doch keinerlei Anlaß sahen, sich der Existenz Gottes durch die Entwicklung eines wie immer gearteten Gottesbeweises zu versichern31. Eine Erklärung dieses befremdlichen Tatbestandes kann nur in der bis auf sie fortwirkenden Ausstrahlung Jesu bestanden haben, die den in deren Bann stehenden Jüngern den Eindruck vermittelte, dadurch in ein direktes Einvernehmen mit Gott gezogen, ja, von diesem in ihrem Meister angesprochen zu sein. Das aber mußte in ihnen einen Bewußtseinswandel nach sich gezogen haben, aufgrund dessen für sie nicht mehr die Welt in ihren unterschiedlichen, zumal auch sozialen und lebenspraktischen Erscheinungsformen, sondern Gott das Erstgegebene und Erstgewisse war, so daß für sie keine Notwendigkeit mehr bestand, sich der Existenz Gottes argumentativ zu versichern. Dadurch trat Jesus für die Jünger aus seiner anfänglichen Gegenständlichkeit hervor, um aktiv in deren Bewußtseinsbildung einzugreifen und sie in sein eigenes Gottesverhältnis hineinzunehmen.

In den Vorgang dieser Bewußtseinsbildung gewährt der Verstehensakt Einblick, so wie sich dieser in der augustinischen Frühschrift „Der Lehrer“ darstellt. Am Ende dieser Schrift versichert Adeodatus, der frühvollendete Sohn von Augustinus, daß man durch Worte nur einen kleinen Teil von dem enthüllen könne, was ein Sprechender denkt und mitteilen möchte. Wenn es dann aber doch verstanden wird, dann aufgrund der Intervention des „in unserm Innern“ wohnenden magister interior, des inwendigen Lehrers32. Neutestamentlich gesehen ist dieser sowohl mit dem den Herzen der Seinen einwohnende Christus als auch mit dem „anderen Beistand“ identisch, der nach einem Wort des johanneischen Jesus „nicht von sich aus redet“, sondern sagen wird, „was er hört“, um es den zu ihm Gehörenden mitzuteilen (Joh 16,13).

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie man sich die Bewußtseinsbildung denken kann. Als inwendiger Lehrer zieht der als Interpretament der neutestamentlichen Schriften Begriffene den Interpretationsakt an sich, um sich – im Verstehenden – mit den Aussagen über ihn zu verständigen. So wird der Interpretationsakt zum Medium der Selbstverständigung Jesu mit der Kunde von ihm. Wenn das nicht bloßes Konstrukt bleiben soll, muß es inhaltlich verdeutlicht und entfaltet werden.

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