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Einstimmung I. Die Selbstaussage

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Seit langem geht durch unsere Welt ein Appell an offene Ohren. Er gilt den vom Alltagslärm übertönten leisen Stimmen, die in dem für den Menschen lebenswichtigen Interesse der Orientierung und Sinnfindung nicht überhört werden dürfen. Dabei entspricht es dem Selbstzerwürfnis des Menschen, daß die dissonanten Töne als erste Gehör finden. Darauf baute Heinrich Heine, als er seine Leser angesichts des von ihm sarkastisch geschilderten Niedergangs des Gottesglaubens aufforderte:

Hört Ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder – Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte1.

Vernommen hat das vor allem Friedrich Nietzsche, der diesen „Abgesang“ zur Botschaft des „tollen Menschen“ vom „Tod Gottes“ steigerte. Doch sein Leser Martin Heidegger vernahm in dessen provokatorischem Rufen das Gegenteil:

Vielleicht hat da ein Denkender wirklich de profundis geschrieen? Und das Ohr unseres Denkens? Hört es den Schrei immer noch nicht? 2

Keine Zweifel hatten daran Joseph Bernhart und die ihm geistesverwandte Simone Weil, die beide das „De profundis“ auf den Todesschrei des Gekreuzigten zurückbezogen: Bernhart, der ihn in seinem titelgleichen Werk als den „im Namen aller Kreatur“ ausgestoßenen Notschrei vernimmt, gleichzeitig aber auch als ein schöpferisches „Es werde“, mit dem die gekreuzigte Kreatur, „als wenn Gott nicht wäre, ihn erschafft mit ihrem innersten Rufe“3. Und Simone Weil, die diesen Notschrei als Ausdruck der „Zerreißung“, jedoch umgriffen vom Liebesband der „höchsten Einigung“, vernimmt, die als solche „unaufhörlich durch das ganze Weltall“ hallt4. Ähnliches hatten zwei große Bibelleser vor ihr vernommen, Johann Georg Hamann, der bei der Geschichte vom ersten Brudermord eine Stimme in der Tiefe seines Herzens „seufzen und jammern“ hörte, die ihn des Brudermords an dem gekreuzigten Gottessohn bezichtigte5. Und Søren Kierkegaard der angesichts des von Jesus ausgestandenen „inwendigen“ Leidens selbst aus den freudigsten Herrenworten den Leidenston heraushörte6. Zusammengefaßt aber waren diese disparaten Zeugnisse längst in dem von Nikolaus von Kues entwickelten Theorem von der „großen Stimme“, die gleicherweise in der Tiefe unseres Herzens ertönt, wie sie von den Propheten in die Welt hineingerufen wurde7. Sie steigerte sich über Jahrhunderte bis hin zu Johannes, dem Rufer in der Wüste, um schließlich, Mensch geworden, in der Lebensgeschichte Jesu eine Reihe von Modulationen zu durchlaufen, bis sie am Ende sterbend einen großen Schrei ausstieß und verschied. Als hätte er dieses Theorem im Ohr, mahnt Augustinus in seinem Psalmenkommentar (42,1):

Gut sollten wir diese Stimme kennenlernen, diese glücklich singende, diese schmerzvoll stöhnende, diese in Hoffnung aufjubelnde, in ihrem gegenwärtigen Zustand aber seufzende Stimme, gut sollten wir sie kennenlernen, sie innerlich vernehmen und sie uns zu eigen machen8.

Doch wie sie sich verstehend zu eigen machen, wo sie doch in ihrer Schlußgestalt als unartikulierter und deshalb übersprachlicher Schrei alle Verstehenshorizonte durchbricht? Gerade so entspricht es demjenigen, der nach dem Eingangswort des Johannesevangeliums im Unterschied zu allen andern Religionsstiftern nicht nur eine Botschaft hat, sondern diese Botschaft in personaler Verkörperung ist und deshalb alles, was von ihm berichtet und ausgemacht werden kann, um eine ganze Ordnung übersteigt. Deshalb muß er selbst an diese Berichte und Aussagen nach Art eines Interpretaments herangetragen werden, weil es erst in seinem Licht deren wahre Bedeutung zu erkennen gibt. Doch auch diese Lesart muß durch eine noch angemessenere überboten werden. Und diese könnte nur darin bestehen, daß er in den neutestamentlichen Zeugnissen von und über ihn selbst zum Reden gebracht und als Interpret in eigener Sache vernommen wird. Das ist mit der „Selbstaussage des Evangeliums“ gemeint.

Heute, in dieser Stunde der sich Zug um Zug realisierenden Utopien, gilt es, diese Möglichkeit Realität werden zu lassen, weil damit ein entscheidender Beitrag zur Wiedergewinnung der Glaubwürdigkeit des Christentums geleistet würde. Mit Recht wies Milan Machoveč in seinem Jesusbuch „für Atheisten“ darauf hin, daß Jesus die Welt mit seiner Botschaft deshalb „in Brand“ setzte, weil er mit dieser Botschaft identisch und insofern das überzeugendste Argument für die Wahrheit und die Verwirklichung seiner Lehre ist9. In einer Stunde des zunehmenden Glaubwürdigkeitsverlustes geht es deshalb entscheidend darum, dieses „Selbstzeugnis“ aufzurufen. Da die in jahrhundertelanger Bemühung ausgearbeiteten Beweisgänge immer weniger verfangen, muß alles darangesetzt werden, das von Jesus mit und durch sich selbst erbrachte Hauptargument für Gott zur Geltung zu bringen und Jesus selbst für sich und seine Sache sprechen zu lassen.

Zweifellos spricht es nicht gegen, sondern für das Recht dieses Ansatzes, daß er zunächst nicht im Raum der Theologie, sondern der modernen Jesusliteratur, und hier von ausgesprochenen Außenseitern, vertreten worden ist. Damit wiederholt sich der Vorgang, der zu Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zur Neuentdeckung Jesu führte und der, erstaunlich genug, bei der durch die Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ bekannt gewordenen amerikanischen „Jesus-Bewegung“, Jesus-People, ihren Ausgang nahm10. In seinem Beitrag „Jesus im Spiegel seiner Autobiographie“ machte Georg Langenhorst darauf aufmerksam, daß zwei herausragende Autoren der Gegenwartsliteratur, José Saramago und Norman Mailer, mit Jesusbüchern hervortraten, in denen Jesus nicht mehr Gegenstand, sondern Autor und Berichterstatter seiner Lebensgeschichte ist, indem er diese durch die Leihstimme des jeweiligen Autors erzählt11. So sind diese Autoren, die sich allein auf das Recht ihrer dichterischen Intuition stützen, Pioniere dessen, was nach dem Versiegen des bisherigen Diskurses „aus der Zeit“ ist. Denn mit der Glaubwürdigkeit steht die Zukunft des Christentums auf dem Spiel.

Theologisch ausgedrückt, geht es dabei um den Versuch, die das Nachdenken über Jesus und sein Lebenswerk strukturierende Christologie in eine – von den altchristlichen Ignatiusbriefen insinuierte – Christomathie zu überführen12. Damit ist ein grundlegendes Metho-denproblem aufgeworfen. Denn die Krise des theologischen Diskurses ist nicht zuletzt die Folge der Selbsterschöpfung der bisher so gut wie ausschließlich angewandten historisch-kritischen Methode. Bei allem Wert der durch sie erhaltenen Ergebnisse ist sie aber doch, paulinisch beurteilt, die Methode des „toten Buchstabens“, die den „lebendigmachenden Geist“ des Evangeliums nicht aufzureißen vermochte und deshalb durch alternative Lesarten ergänzt werden muß. Daß dazu in erster Linie eine rezeptionstheoretische Lesart gehört, wurde bereits in aller Form von Ferdinand Hahn eingefordert13. Wenn der im Evangelium Bezeugte zu Wort kommen soll, muß die vorgenannte Lesart sodann durch eine reduktionstheoretische Lesart, welche sich auf die Mitte des Evangeliums konzentriert, fortgeführt werden. Das Ziel wäre freilich erst dann erreicht, wenn beide durch eine systematische Evokation – die Intention dieser Überlegungen – vervollständigt würden.

Das kann ein Blick auf Friedrich Nietzsches Lehre von den drei Verwandlungen verdeutlichen, zumal diese als Leseanweisung zu „Also sprach Zarathustra“, der nach Karl Löwith „antichristlichen Bergpredigt“ Nietzsches, gemeint ist: der Verwandlung des Menschen in das als Symbol des „tragsamen Geistes“ anzusehende Kamel; dessen Verwandlung in den Löwen, das Symbol des autonomen, jedoch zu ständiger Selbstbestätigung genötigten Geistes, und schließlich die Verwandlung des Löwen in das Kind, den Inbegriff des vollkommen zu sich selbst gekommenen und in sich ruhenden Geistes14.

Im Hinblick darauf können drei Schichten im Evangelium unterschieden werden: eine basale, die als Vorzugsfeld der historisch-kritischen Methode Aufschluß über die Lebensverhältnisse, Lehren, Taten und Leiden Jesu gibt; ein sich darüber wölbender Bilderfries, der in einer Folge von symbolischen Szenen die urchristliche Deutung dessen wiedergibt, und eine beide Schichten übergreifende Sphäre, in welcher der in seiner Historizität Dargestellte und bildhaft Gedeutete sich selbst zur Geltung bringt und ausspricht. So wird er in der untersten Schicht referiert, in der mittleren Schicht als Interpretament an dieses Referat herangetragen, während er zuletzt als Interpret in eigener Sache initiativ wird und seine Geschichte selbst erzählt.

Christomathie

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