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3. Der Retter

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Jesus verweigert sich dem Sprung in die Tiefe, obwohl ihm der Versucher versichert, daß er von „Engelhänden“ aufgefangen und ans Ziel dieser „Reise“ gebracht werde. Und er entschließt sich damit für den harten Weg, den er von Anfang an vor sich sieht und an dessen Ende ihn, wie ihm zunehmend bewußt wird, der gewaltsame Prophetentod erwartet (Lk 13,33). Daß sich sein Weg zum Todesweg gestaltet, steht für ihn außer Frage, nachdem er sein Lebenswerk angesichts des Massenabfalls (Joh 6,60-66) scheitern sieht, nachdem sich die Front seiner Gegner zusehends verhärtet, und nachdem ihn der eigene Landesherr verfolgt und mit dem Tod bedroht (Lk 13,31). Ebenso klar liegt ihm angesichts der Prophetenschicksale vor Augen, daß ihn ein schreckliches Ende erwartet. Das gibt seiner Entscheidung erst das volle Profil. Dort der denkbar sanfteste, hier der unvorstellbar furchtbare Tod. Doch noch schrecklicher als diese Drohung ist für Jesus, wie sich aus seiner Antwort ergibt (Lk 4,12), die Vorstellung, dem Willen Gottes vorzugreifen und ihn seinerseits zu „versuchen“. Im selben Maß, wie er davor zurückschreckt, gewinnt er dann aber die Spannkraft und den Impuls, sich für den schweren Weg zu entscheiden. Dabei mißt er mit dieser Entscheidung den Raum der denkbar größten Freiheit aus, der jetzt erst zu ermessenden Bedeutungstiefe der Freiheit zum Tode. Aus ihr geht das Lebenswerk Jesu hervor. Es entstammt gleicherweise der Annahme wie der Verweigerung des Todes: der Ablehnung des leichten und der, wenngleich aufbegehrenden, Akzeptanz des schweren, ihn am Kreuz erwartenden Todes.

Nach Ausweis seines Gebetskampfs am Ölberg ist der Tod auch für Jesus – wie für jeden Sterblichen – das ebenso unumgängliche wie unannehmbare, ja nicht einmal auszudenkende Ende des Lebens. Nur ist für den Versuchten diese Aporie auf unvorstellbare Weise noch dadurch verschärft, daß ihm die Wahl des leichten, auf Engelhänden getragenen Sterbens geblieben wäre. Ausgemessen und bewältigt werden konnte diese zerreißende Spannweite nur durch eine Liebe, die nicht nur ebenso stark war wie der Tod, sondern stärker als dessen Vernichtungsgewalt. Getragen von der motivierenden und inspirierenden Kraft dieser Liebe entwarf Jesus sein Lebenswerk, das ihm aufgrund dieser Herkunft zur Utopie der Todüberwindung geriet. Im Entwurf seines Lebenswerks nahm Jesus somit das Ereignis seiner Auferstehung denkend, gestaltend und operativ vorweg. Seine gesamte Rede- und Wundertätigkeit entspringt diesem Ansatz und bewegt sich im Rahmen dieses Entwurfs. Sein Weg zum Tod ist deshalb zugleich der zu seiner Auferstehung, vorweggenommen in seinen Reden und, erkennbarer noch, in seinen Wundertaten. Wenn er der Gelähmten die Fesseln abnimmt, in die sie jahrelang geschlagen war (Lk 13,15f), geschieht das im Fernblick auf jenen Augenblick, an dem für ihn selbst „die Wehen des Todes“ gelöst werden (Apg 2,24); und wenn er den Freund Lazarus vom Tode erweckt (Joh 11,43f), ruft er sich im Grunde selbst aus Tod und Grab heraus. Doch dadurch tritt diese Szene – und mit ihr die gesamte Reihe der vom Johannesevangelium berichteten „Zeichen“ – in Beziehung zum Bericht über den Kreuzestod Jesu, mit dem die Erzählebene verlassen und der Leser in das Geschehen einbezogen wird14. Wie verhält es sich dann aber hier mit dem Leseakt und dem Einfluß des durch ihn Wahrgenommenen auf ihn?

Antwort gibt die Stelle, an der sich Paulus durch sein Theorem vom „toten Buchstaben“ und dem „lebendigmachenden Geist“ als Schlüsselgestalt im Übergang des Christentums von der Wort zur Schriftkultur erweist:

Unsere Befähigung kommt von Gott, der uns dazu befähigte, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig (2Kor 3,6)15.

Zwar vollzog sich die Wende für das Urchristentum nicht so radikal, wie der Ausdruck vermuten läßt. Denn die Christen besaßen in Gestalt der alttestamentlichen Schriften sehr wohl ein Heiliges Buch, aus dem der Lukasevangelist sogar Jesus selbst vorlesen läßt (Lk 4,16-20). Und sie entnahmen ihm auf dem Weg der von Paulus befürworteten „enthüllenden“ Lektüre sogar ein mosaikartiges, aus Psalmen- und Weisheitsworten gefügtes Jesusbild. Doch stand dieses Buch als das des Gesetzes für Paulus zugleich unter dem Verdikt, zu einem „Dienst des Todes“ anzuleiten und so ein Dokument des „toten Buchstabens“ zu sein (2Kor 3,7). Erst recht sah er in den „Archonten dieser Welt“, die er hinter den Werken der griechischen Weisheitslehre und Philosophie vermutet, Akteure des Todes, die sich dadurch als solche erwiesen, daß sie „den Herrn der Herrlichkeit ans Kreuz schlugen“ (1Kor 2,8)16.

Vor diesem Hintergrund rücken nun auch der Leseakt und seine Ermöglichung in eine Todesperspektive. Daß die Verschriftung einer „Verknappung“, wenn nicht gar einer „Kreuzigung“ des Gedankens gleichkommt, wußte schon die Vätertheologie, wenn sie von der „Abbreviatur“ und „Extension“, also von der Verkürzung und Dehnung des göttlichen Wortes sprach17. Gleichfalls sah Luther einen „großen Abbruch“ und ein „Gebrechen des Geistes“ darin, daß überhaupt Bücher geschrieben werden mußten, da das „Evangelium eigentlich nicht Schrift, sondern mündliches Wort“ sei, das „nicht mit der Feder, sondern mit dem Mund soll getrieben werden“18. Als habe er dieses Wort im Ohr, widersetzt sich Faust dem Verlangen des „Pedanten“ Mephisto nach „was Geschriebnem“ mit der Begründung:

Das Wort erstirbt schon in der Feder, die Herrschaft führen Wachs und Leder19.

Dem schließt sich Schleiermacher mit folgender Feststellung an, mit der sich wiederum der Ring zu Paulus schließt:

Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann 20 ?

Deutlicher könnte das Todesurteil über den als Inbegriff der Textualität verstandenen Buchstaben schwerlich gefällt und formuliert werden. Aus dieser Sicht hat dann aber der Akt des Verstehens und der darauf aufbauenden Versprachlichung folgerichtig den Charakter einer Erweckung, die den „eingesargten“ Geist aus dem Mausoleum der Schriftlichkeit evoziert. Das bleibt allerdings bloße Formalbestimmung, solange es nicht auf den Leser und die ihm abverlangte Aktivität bezogen wird. Dann aber genügt weder der Rekurs auf seine Kreativität noch der auf den ihm beistehenden inwendigen Lehrer, sondern erst der auf den, der dem apokalyptischen Seher erklärt:

Ich bin der Erste und Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch lebe ich in Ewigkeit und besitze die Schlüssel zu Tod und Unterwelt (Apk 1,17f).

Auch mit diesem Aufblick wäre dem Leser nicht geholfen, wenn ihm der Auferstandene das gewonnene Leben nicht mit dem Satz: „Ich lebe, und auch ihr werdet leben“ (Joh 14,19), zuspräche. Dadurch ist er in die Todesannahme Jesu und deren Frucht, die Auferstehung, hineingenommen, so daß er von nun an auch an dessen Vater partizipiert.

Wozu diese Partizipation verhilft, verdeutlicht das Neue Testament mit dem Zentralbegriff des Geistes. Es ist dies eine Formel für die Selbstmitteilung des Erhöhten an die Seinen, das Medium, durch das er sich ihnen zu verstehen gibt, durch das er sie leitet und in ihnen wirksam wird. Denn der Geist enthebt sie ihrer Schwachheit, er hilft ihnen beten, verleiht ihnen Weisheit, bewegt sie zum Zeugnis, läßt sie erglühen und bringt in ihnen Frucht. Gleichzeitig erschließt er ihren Sinn für den Reichtum Christi, in dem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis versammelt sind, so daß nun deutlich wird, wovon das Licht ausgeht, das durch ihn auf die mit seiner Hilfe gedeuteten Schriften fällt. Weil es der Geist des Auferstandenen ist, begreift der Leser vor allem aber, daß er durch ihn dem universalen Gesetz der Todverfallenheit zwar nicht faktisch, wohl aber prinzipiell überhoben ist, so daß sein ganzes Selbstverhältnis, zusammen mit seinem Denken, Fühlen und Wollen, auf eine neue Basis gelangte. War diese zuvor der Tod, so daß Franz Rosenzweig im Eingangsatz seines „Stern der Erlösung“ versichern konnte:

Vom Tode, von der Furcht des Todes hebt alles Erkennen des All an21,

so ist ihm nun das Prinzip Leben und damit zusammen das Prinzip Liebe eingestiftet. Zuvor war er lebenslang unter das Joch der Todesfurcht gebeugt (Hebr 2,15), so daß sich sein ganzes Denken und Streben im Schatten der Angst bewegte. Jetzt kann er aufatmen, weil mit dem Geist die Liebe in sein Herz ausgegossen, die Angst von ihm gewichen und Zuversicht an ihre Stelle getreten ist. Und er kann dies umso mehr, als er mit dem seinem blutigen Tod buchstäblich gegenüberstehenden Amalekiterfürsten Agag sagen kann:

Sei’s drum, schon wich des Todes Bitterkeit22.

Im selben Maß, wie dieses Seinsvertrauen von ihm Besitz ergreift, wandelt sich aber auch das Bild des Urhebers dieser Wandlung. Während das Bild des Helfers und des Befreiers in den Hintergrund tritt, zeichnet sich das des Retters mit wachsender Deutlichkeit ab. Und mit ihm zusammen stellt sich auch die Erinnerung an die Szene ein, die sich wie ein Archetyp ins christliche Bewußtsein einschrieb, so daß sie fast unverändert in den byzantinischen Osterdarstellungen wiederkehrt, in denen der Auferstandene in die Unterwelt einbrach, um die dort Gefangenen mit starker Hand in die von ihm errungene Freiheit zu führen.

Unverkennbar klingt in der Szene aber auch noch die Erinnerung an das Mosewort nach, wonach Gott sein Volk mit „starker Hand“ aus dem Sklavenhaus Ägypten, dem Land des Todes, herausführte (Ex 13,3). Thematisch bezieht sie sich jedoch auf die Rettung des Petrus, der es auf das einladende „Komm!“ hin wagte, Jesus auf dem See entgegenzugehen, der es dann aber angesichts der vom Sturm aufgepeitschten Wogen mit der Angst zu tun bekommt und zu sinken beginnt. Da ruft sein Notschrei den Retter herbei, der ihn mit ausgestreckter Hand dem drohenden Verderben entreißt, wenngleich mit dem Vorwurf: „Warum hast du gezweifelt?“ (Mt 14,28-32). In dieser von hoher Symbolkraft ausgezeichneten Szene scheint das Rettertum Jesu wie in einem Kristall auf. Vor allem wird deutlich, daß es sich, wie es im Blick auf den Auferstandenen auch gar nicht anders sein kann, primär auf die Rettung aus der menschlichen Todverfallenheit bezieht. Wie die Rettung aus der Position des Auferstandenen erfolgt, in welcher Jesus nach allen Kriterien der Szene erscheint, besagt sie nicht etwa, daß dem Geretteten die Erfahrung der durch Sturm und Wogen symbolisierten Vernichtungs- und Todesgewalten erspart bleibt; wohl aber, daß er sie „anhand“ des Auferstandenen, also im existentiellen Anschluß an ihn, überwindet. Dadurch gewinnt die Hilfe, dann aber auch der Helfer erst volles Profil: die Hilfe, die jetzt in jener eigentümlichen Dialektik erscheint, wie sie vom johanneischen Jesus, der fast durchweg aus der Position des Auferstandenen agiert, geboten wird. Er gibt zwar nicht das Brot, das die ihm in die Synagoge von Kafarnaum folgenden Menschen von ihm erwarten, sondern – in der Verwerfung des unmittelbar Erhofften – das ungleich bessere, das er mit seinem Programmwort: „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,48), umschreibt, und das, wenn es angenommen worden wäre, zumindest in dieser Perspektive tatsächlich zur Beseitigung der ökonomischen und politischen Notlage verholfen hätte23. Dem entspricht das Profil des Helfers, der so, wie er im Johannesevangelium auftritt, die ganze Not des Daseins einschließlich der des Todes schon hinter sich hat und deshalb als der große Überwinder erscheint, der die ganze Not des Daseins ausgekostet und ausgestanden hat. So gerät er selbst in die Position des sinkenden Petrus, und seine ausgestreckte Hand wird zum Notschrei, den Gott mit seinem rettenden Selbsterweis im Ereignis seiner Auferweckung beantwortet. So aber gewinnt er das Profil des geretteten Retters, der deswegen mit allen Schwachen, Versagenden und Scheiternden mitfühlen und aufgrund dieser Empathie dann auch helfen kann, weil er gleicherweise angefochten und heimgesucht wurde, die Sünde ausgenommen.

Dadurch erscheint der Helfer in einem völlig unerwarteten Blickwinkel. So sehr er dem mit der Not eines „Daseins auf Abruf“24 Geschlagenen und an den Wunden seiner Kontingenz Leidenden aus der übergeordneten, distanzierten Position des Überwinders entgegentritt, ist er ihm doch gleichzeitig unbegreiflich nah und ihm durch eben diese Verwundung verbunden, so daß hinter der Figur des geretteten Retters die des „verwundeten Arztes“ sichtbar wird. Wie aber wirkt sich das auf die Deutung des Leseaktes aus?

Christomathie

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