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1. Der erkenntnistheoretische Weg

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Das Wort Gotteskindschaft bedarf zunächst einer semantischen Klärung1. Wenn Jesus den ihn nach dem Größten im Himmelreich befragenden Jüngern entgegenhält: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen“ (Mt 18,3), entsteht der Eindruck, als erhebe er das Kindsein zum Maß und Zielbegriff seiner Ethik. Unter dieser Einschätzung leidet der Begriff trotz aller Berichtigungsversuche, wie gerade die neueste Rezeptionsgeschichte (Lutterbach) beweist, noch immer. Wenn er aber dem Vater in seinem Jubelruf dafür dankt, daß er seine Offenbarung „den Weisen und Klugen verborgen, Unmündigen dagegen erschlossen“ habe (Mt 11,25), wird nicht nur deutlich, daß mit den Unmündigen seine Jünger gemeint sind, sondern daß sich das im ersten Logion als Modell aufgerichtete Kindsein nicht auf den infantilen Status der „Kinder“, sondern auf das kindliche Proprium bezieht, das der von ihm abgelehnten „Klugheit“ entgegensteht: der noch von keiner Voreingenommenheit und Verbildung, am wenigsten der, die er an den Schriftgelehrten kritisierte, verstellten Offenheit und „Gläubigkeit“ des Kindes. Kindsein, wie es Jesus im Auge hat und fordert, ist somit an keine Altersstufe gebunden: vielmehr bezeichnet es eine noch von keinerlei Vorurteilen, Indoktrinationen und Verbildungen bestimmte Grundeinstellung zu Welt und Menschen. Weithin entspricht das dem von Schiller in die Diskussion eingeführten, aber erst von Kleist voll ausgeleuchteten Begriff der Naivität, den Peter Wust in seiner Opposition zu Reflexion und seiner Verknüpfung mit Weisheit und Liebe herausstellte2. So verstanden ist Kindsein mehr noch ein Zielbegriff als ein Ausgangsdatum. Nicht umsonst setzt sich der emphatische Ausruf des johanneischen Briefs:

Seht doch, welch große Liebe der Vater zu uns hegt: daß wir Gottes Kinder nicht nur heißen, sondern sind. (1Joh 3,1)

in die vorbehaltliche Aussage fort:

Jetzt sind wir Kinder Gottes; doch ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden (1Joh 3,2).

Dann aber ist damit ein erkenntnistheoretisches Problem erster Ordnung aufgeworfen. Darum weiß schon der Entdecker der Gotteskindschaft, Paulus, wenn er fragt: „Wer von den Menschen weiß, was im Inneren des Menschen ist als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist?“ (1Kor 2,11) und wenn er darauf antwortet:

Der geisterfüllte Mensch beurteilt alles; er selbst aber wird von niemand beurteilt (1Kor 2,15)3.

Das setzt eine pneumatische Begabung des Beurteilenden voraus, konkreter bestimmt, die Charismen der Unterscheidung der Geister und der Hermeneutik, die Paulus zu den in seinen Gemeinden wirkenden Geistesgaben zählt (1Kor 12,10)4. Diese aber stehen in einem geradezu diametralen Gegensatz zu den rückwärts gewandten Kategorien der dem antiken Wesensdenken entstammenden Denkwelt, die im Gang der Geistesgeschichte immer wieder hinterfragt wurden. So auf der Höhe der Patristik durch Maximus Confessor, der in weitem Vorgriff auf Kleist den Menschen dazu verurteilt sah, den von ihm verlassenen Ursprung auf dem Weg zu dem ihm weit vorausliegenden Ziel anzustreben, da er das ihm gesetzte Ziel „nicht aus dem Ursprung zu erkennen vermochte“5. Im erkenntnistheoretischen Sinn hatte das schon Augustin mit seiner Unterscheidung einer auf das Licht des Schöpfungsmorgens gerichteten cognitio matutina von der abendlichen Wesenserkenntnis der metaphysischen Reflexion, der cognitio vespertina, vorweggenommen; denn es bestehe, so versichert er in seinem Genesiskommentar, ein großer Unterschied zwischen einer Suche im Wort Gottes und der Erkenntnis in ihrer Natur:

Mit vollem Recht kann man das eine mit dem Tag, das andere mit dem Abend vergleichen. Denn jenem Licht gegenüber, das im Worte Gottes erblickt wird, ist jede Erkenntnis, durch die wir einer Kreatur in ihrem Wesen ansichtig werden, geradezu Nacht zu nennen6.

Diese Einsicht des „ersten modernen Menschen“ (Harnack) bestätigt Hegel gegen Ende der Neuzeit mit seiner geradezu selbstkritischen Beobachtung:

Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden. Und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug7.

Das hatte Kleist in seiner profunden Studie „Über das Marionettentheater“ im Wissen um die verlorene Naivität mit der Einsicht vorweggenommen:

Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist8.

Weit reichen aber auch die Spuren zurück, die auf eine Alternative hinführen. So diagnostiziert schon die „Trösterin Philosophie“ bei ihrem im Kerker von Pavia leidenden Schüler Boethius die bei irregeleiteten Geistern übliche Lethargie als die pathologische Folge eines Denkens, wie es die sein „Krankenbett“ umstehenden Musen verkörpern9. Denn diese repräsentieren, wie ihre Mutter Mnemosyne erkennen läßt, eine unterschwellige, aus der Erinnerung geschöpfte Welt, die dem vorempirischen Zusammenhang und Zusammenklang des Seienden entstammt. Mit ihrem therapeutischen Zuspruch versucht die himmlische Besucherin ihren Adepten von der Verfallenheit an diese Vorwelt abzubringen. Wie weit ihr das gelingt, muß allerdings schon angesichts der offensichtlich aufgrund der bevorstehenden Hinrichtung des Verfassers zu früh abgeschlossenen „Consolatio Philosophiae“ offenbleiben10.

Was sich hier nur ankündigt, wurde erst nach dem sich in der Romantik, am krassesten in den „Nachtwachen des Bonaventura“ ankündigenden Verfall der idealistischen Denkform und jetzt am entschiedensten durch Franz Rosenzweig aufgenommen. In seinem als nachgereichte Prolegomena zum „Stern der Erlösung“ gedachten, aber erst posthum veröffentlichten „Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand“ übt er Kritik am klassischen Wesensdenken, indem er in seinem Ursprung, dem philosophischen Staunen, das in der Redewendung „starr vor Staunen“ angesprochene Moment der „Erstarrung“ entdeckt11. Damit komme zwar der Strom des Geschehens zum Stehen, so daß ihm begrifflich definierbare Gegenstände entnommen werden können; doch käme es darauf an, die Dinge aus seinem ungehinderten Fortgang zu erheben. In Erinnerung an den alttestamentlichen Schöpfungsbericht, nach dem der Mensch beauftragt ist, die ihm zuerschaffenen Tiere zu benennen und dadurch in ihre Bestimmung einzusetzen (Gen 2,19), plädiert Rosenzweig für ein benennendes Denken, das die Dinge aus dem Strom des Geschehens erhebt und dadurch in den Blickpunkt des erkennenden Interesses rückt, ohne sie diesem jedoch wie das Begriffsdenken zu entreißen und zu vergegenständlichen. Nicht minder entspricht es der hintergründigen Weisheit des biblischen Schöpfungsberichts, wenn er die Forderung erhebt, die Was-Frage, die ein jeder, als sei sie selbstverständlich, an die Menschen und Dinge zu richten pflegt, zu „verlernen“12. Denn der Schöpfer ruft den sündig gewordenen Menschen aus seinem Versteck mit der Frage: „Wo bist du?“ (3,9) heraus, mit der er ihn, tiefer besehen, nach dem Ort seiner primordialen Geborgenheit und damit nach seinem Lebenssinn befragt. In dieser Vehemenz wurde die Paradiesesfrage wiederum erst nach dem Verfall der idealistischen Denkweise begriffen, am klarsten von Kierkegaard, der auf einem Höhepunkt der „Wiederholung“ seinem „stummen Mitwisser“ gesteht:

Mein Leben ist zum Äußersten gebracht, ich ekle mich am Dasein, es ist geschmacklos, ohne Salz und Sinn … Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Land man ist. Ich stecke den Finger ins Dasein. Es riecht nach – Nichts. Wo bin ich?13

Zwar bezieht sich diese Orientierungsfrage zunächst auf das Land, in dem sich der Fragesteller „vorkommt“ und damit, wie im Fortgang der Stelle deutlich wird, auf die „Welt“, in die er sich „hineingelockt und stehen gelassen“ sieht14. Beim Versuch, sich dort zu verorten, wird ihm aber klar, daß er dabei nach jener Selbst-Vergegenwärtigung strebt, die er nur im nennenden Umgang mit den Dingen erlebt und die Rosenzweig als „Geistesgegenwart“ bezeichnet. Dabei geht es um den Akt der Konzentration, in dem die „Annahme seiner selbst“ (Guardini) erstrebt und erreicht wird. In frühem Vorgriff darauf hatte der große Interpret der Gotteskindschaft, Gregor von Nyssa, erklärt:

In gewisser Hinsicht sind wir unsere eigenen Väter, indem wir uns zu dem zeugen, was wir sein wollen und durch den freien Willen zu dem gestalten, was wir zum Guten wie zum Bösen erwählen15.

So aber hätte er nicht sprechen können, wenn er den Menschen nicht als Ort jener Zeugung empfunden hätte, die er in seinem Hoheliedkommentar als den Ort des „uns eingeborenen Kindes“ Jesus und damit der mystischen Gottesgeburt beschrieb16. Damit ist aber auch schon gesagt, daß dem Akt der Selbst-Vergegenwärtigung und Selbst-Annahme ein ermöglichendes Angenommensein durch Gott zuvorkommt. Das spricht schon aus der – im Licht des alttestamentlichen Sprachgebrauchs verstandenen – mystischen Stelle des Ersten Korintherbriefs, in der Paulus versichert:

Wenn jemand zu wissen meint, hat er noch nicht begriffen, wie man erkennen muß. Wer aber Gott liebt, ist von ihm erkannt (1Kor 8,2f)17.

Vor allem aber spricht es aus dem Widmungsschreiben der „Docta ignorantia“, in dem Nikolaus von Kues erklärt:

Wer in Jesus eingeht, dem gelingt alles, so daß ihm weder die Schriften noch die Welt irgendwelche Schwierigkeiten bereiten, weil er kraft des in ihm wohnenden Geistes Christi in Jesus umgewandelt wird, der das Ziel alles geistigen Verlangens ist18.

Der Kusaner ließ auch keinen Zweifel daran, daß er damit ein Ziel anvisierte, das er wenig später in seiner Abhandlung über die Gotteskindschaft thematisierte. Dort erhebt er sich zu dem Gedanken, daß deren Ziel darin besteht, in die mit dem Sohn Gottes gleichgesetzte „schöpferische Seins- und Wissensfülle“ einzugehen:

Dann nämlich ist man zur Gotteskindschaft gelangt, wenn man jene wissende Seinsumfassung erreicht, in der und durch die alles ist, ja wenn man im Maß dieser Meisterschaft selbst zu Gott geworden ist19.

Mit dieser überaus steilen Zielsetzung ist die für den Kusaner selbstverständliche Forderung der Selbstaufgabe verbunden, weil der Denkende nur so „in Jesus eingehen“ und dieser in ihm überhand nehmen kann. Darauf hatte in der Frühpatristik schon Cassiodor im Schlußgebet seiner Schrift „De anima“ bestanden, als er an Christus die Bitte richtete:

Entreiße mich mir selbst und bewahre mich in dir. Bekämpfe, was mein eigenes Werk ist, und hole dein eigenes Werk zurück. Denn mein bin ich nur, wenn ich Dir gehöre … Laß mich einsehen, wie nichtig ich bin ohne dich, und laß mich begreifen, was ich mit dir sein kann. Wissen will ich, was ich bin, um zu erreichen, was ich nicht bin20.

Auf der Höhe des Mittelalters unterstreicht das Meister Eckhart mit der Mahnung:

Darum mußt du entsinken deiner Deinheit und zerfließen in seine Seinheit, und sollen dein Du und sein Ich so gänzlich ein Ich werden, daß du nur mehr sein ungewordenes Sein, sein unsagbares Überwesen vor Augen habest21.

Und dem stimmt gegen Ende des Mittelalters die „Theologia Deutsch „mit den Sätzen zu:

Der Mensch soll an ihm selber sterben, das ist, des Menschen Selbstheit und Ichheit soll sterben. Davon spricht Paulus: Legt ab den alten Menschen mit seinen Werken, und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen und gebildet ist. Wer in seiner Selbstheit nach dem alten Menschen lebt, der heißt und ist Adams Kind, er mag noch so sehr und wesentlich darin leben, und er ist auch des Teufels Kind und Bruder. Wer aber im Gehorsam und im neuen Menschen lebt, der ist Christi Bruder und ein Kind Gottes22.

Vor dem Hintergrund dieser Zeugnisse läuft der erkenntnistheoretische Zugang auf das Postulat einer Denkwende, mit Theodor Steinbüchel gesprochen, eines „Umbruchs des Denkens“ hinaus, auch wenn dieses, wie Cassiodors Gebet zu verstehen gibt, zunächst nur in deprekativer Form zur Sprache gebracht werden kann23. Um kompetent davon sprechen zu können, bedürfte es eines Wissens um jene Inversion, um die sich die gegenwärtige Glaubenswende wie um eine Achse dreht. Nach der zuvor schon in Gang gekommenen Wende vom Gehorsams- zum Verstehensglauben betrifft diese die Kehre vom Gegenstands- zum Identitätsglauben24. Die aber besteht, in ihrem Kern begriffen, darin, daß der durch das Osterereignis vom Glaubensstifter zum Glaubensinhalt, vom Botschafter zur Botschaft und vom Lehrer zur Lehre Gewordene aus dem Schrein seiner dogmatischen, kerygmatischen und kultischen Vergegenständlichung hervortritt, um sich als Glaubensgrund in den Glauben, als Mitgestalter in die Botschaft und als inwendiger Lehrer in die Lehre einzumischen und so das religiöse Leben an sich zu ziehen25. Im Maß, wie dies geschieht, wird der Glaube, wenngleich nur in seinem mystischen Hintergrund, zu seiner Selbsterkenntnis, die Schrift, vor allem in ihren johanneischen Teilen, zu seiner Selbstaussage und das spirituelle Leben zu seinem Selbstzeugnis. Doch davon kann so lange nur in Form einer Spurensuche (Berger) die Rede sein, als das Subjekt noch nicht voll zum Vorschein kam, auf das sich dieser erkenntnistheoretische Anlauf zubewegt: die Gotteskindschaft26.

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