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Einstimmung

1. Der Horizont

Wenn der Glaube (nach Röm 10,17) aus dem Hören kommt, ist es angebracht, nicht nur auf den Sinn einer Aussage, sondern auch auf den Klang zu achten, mit dem sie vorgetragen wird. Wenn Paulus sein alternativeloses Evangelium den vom Abfall bedrohten Galatern mit dem zustoßenden Ruf „Kein anderes Evangelium!“ in den Ohren dröhnen läßt und diesen mit einem Menschen wie Engel bedrohenden Fluch unterstreicht (Gal 1,6ff), setzt er damit einen den ganzen Brief bestimmenden Akzent. Wenn Jesus in seinem Abschiedsgebet mit dem fordernden „Ich will“ die Rolle des Fürbitters mit der des gleichrangigen Sohnes vertauscht (Joh 17,24), läßt dieses Machtwort das ganze Johannesevangelium erbeben1. Und wenn der Erste Johannesbrief seine Leser geradezu jubelnd auffordert:

Seht doch, welch große Liebe der Vater zu uns hat; denn wir heißen nicht nur Kinder Gottes, wir sind es! (1Joh 3,1),

erhebt er das Motiv der Gotteskindschaft zu einer Spitzenaussage seiner Instruktion. Dabei hat der Brief, gleichgültig ob er, wie früher angenommen wurde, das Begleitschreiben des Evangeliums ist oder nicht, dessen Rückendeckung in dem das Thema der Neugeburt umkreisenden Nikodemusgespräch, dessen Fragesteller unverzüglich auch den die gesamte Interpretationsgeschichte verschattenden Einwand formuliert:

Wie kann ein Mensch, wenn er schon alt ist, geboren werden? Kann er denn in den Schoß seiner Mutter zurückkehren, um ein zweites Mal geboren zu werden? (Joh 3,4)2

Es handelt sich um den nur mit Mühe auszuräumenden Einwand, als werde mit dem Motiv einem regressiven Menschsein, wenn nicht gar einer Infantilisierung des Menschen das Wort geredet, wie es schon die Herrenworte von der Modellhaftigkeit des Kindseins, erst recht aber die pädagogischen und asketischen Auswertungen des Motivs nahelegen3. So gebietet Jesus dem Rangstreit der Jünger mit dem Hinweis auf das ihrem Ungeist widersprechende Verhalten der Kinder Einhalt:

Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen (Mt 18,3)4.

In vertiefter Form wiederholt das die szenische Entfaltung dieses Drohworts:

Jesus wußte, was in ihren Herzen vorging. Deshalb nahm er ein Kind, stellte es neben sich und sagte zu ihnen: Wer dieses Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat (Lk 9,47f)5.

Das kommt deshalb einer Vertiefung gleich, weil Jesus damit das an seine Seite gestellte Kind als Interpretament heranzieht, um in dessen Licht gesehen und angenommen zu werden. Abgesehen davon, daß er sich dadurch selbst in eine kindliche Perspektive rückt, fällt nun auch ein starker Akzent auf seine – im Grunde nur von Therese von Lisieux ausgelotete und nachgelebte – Kindheit6. Sofern er sich damit aber auch mit Nachdruck auf die Seite der von der antiken Gesellschaft weithin vernachlässigten Kinder stellte, gewinnt sein revolutionäres Sozialverhalten einen zusätzlichen und für die vom Christentum praktizierte Aufwertung und Betreuung der Kinder grundlegenden Aspekt. Doch so bedeutungsvoll dieser Gesichtspunkt in „kultur- und sozialgeschichtlicher“ Hinsicht auch ist (Lutterbach), hat er doch mit dem als Spitzenbegriff der christlichen Anthropologie einzuschätzenden Motiv der Gotteskindschaft nichts zu tun.

Worin diese besteht, verdeutlicht dagegen, wenngleich aus atheistischer Sicht, dafür jedoch mit größtem Nachdruck, Nietzsche in seiner zu Beginn von „Also sprach Zarathustra“ vorgetragenen Lehre von den drei Verwandlungen: „Wie der Geist zum Kamele ward, und zum Löwen das Kamel, und der Löwe zuletzt zum Kinde“7. Karl Löwith, der darin den „einheitsstiftenden Grundgedanken in Nietzsches Philosophie“ entdeckte, erblickt diesen zunächst in der Befreiung vom „Du sollst“ zum „Ich will“, sodann – und entscheidend – in der Befreiung vom „Ich will“ zum „Ich bin“ des Weltenkindes8. Um dieses Ziel zu verdeutlichen, beschwor Nietzsche in dem auf den Schluß von Hölderlins „Hyperion“ zurückblickenden Kapitel „Mittags“ den zeitlosen Augenblick der geglückten Übereinkunft von Welt und Selbst; sodann, um es von allen niedrigeren Zielsetzungen abzugrenzen, die Figur des „Übermenschen“, die er dann aber, kaum daß er sie „vom Wege aufgelesen“ hatte, wieder fallen ließ9. Im Grunde hatte er das in seiner Verwandlungslehre bereits vorweggenommen. Wenn er dort fragt, „was das Kind vermag, das auch der Löwe nicht vermochte“, und darauf antwortet:

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen,

nähert er sich unwillkürlich dem Motiv an, dem sein Konzept des Weltenkindes ursprünglich entstammt und das er damit in atheistischer Brechung – und Aufwertung – wiederherstellte. Das aber ist, wie Nietzsche in seiner Deutung der Worte Jesu „zum Schächer am Kreuz“ zu verstehen gibt, das Motiv der Gotteskindschaft. Denn auf dessen Bekenntnis: „Das ist wahrlich ein göttlicher Mensch gewesen, ein Kind Gottes!“ antwortet der Erlöser:

Wenn du dies fühlst …, so bist du im Paradiese, so bist du ein Kind Gottes10.

Doch wie gestaltet sich die Motivgeschichte aus christlicher Sicht, also von ihren neutestamentlichen Anfängen her bis zu dieser extremen Wiederholung?

Gotteskindschaft

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