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2. Die Lebensleistung
ОглавлениеWie kaum ein anderes führt das Wort vom dienenden Menschensohn ins Zentrum der Lebensleistung Jesu. Indem er allen andern die Absicht unterstellt, sich für ihren Einsatz entschädigen und sich in diesem Sinn „bedienen“ zu lassen, während er sich als einzigen davon ausnimmt, weil er „gekommen“ ist, „um zu dienen“, gibt er zu verstehen, daß sein Dienst nicht in kategorialen Hilfserweisen, sondern in der sich in Akten der Selbstübereignung vollziehenden Hingabe seiner selbst besteht. Was das besagt, wurde in bester Tradition, die sich, wie bereits mitgeteilt wurde, von Wrede bis auf Irenäus und Origenes zurückführen läßt und ebenso von Athanasius, Basilius, Gregor von Nyssa und Johannes Chrysostomus wie von Cyprian, Leo dem Großen, Augustin und Petrus Chrysologus bestätigt wird, in den programmatischen Irenäussatz zusammengefaßt:
Christus ist des Menschen Sohn geworden, damit der Mensch Gottes Sohn werde 27 .
Ziel der Selbstübereignung Jesu ist somit die Gotteskindschaft und er selbst, wie dieser Satz betont, deren „Quelle“, verstanden als deren Primärursache. Das kommt nahezu einer Umkehrung der alttestamentlichen Konsekution gleich. Zwar bleibt der Vatergott der Ursprung der Kindschaft; doch ist diese zunächst und entscheidend die mitgeteilte Gottessohnschaft Jesu. Jede andere Konzeption der Gotteskindschaft einschließlich der alttestamentlichen kann im Vergleich damit nur als sekundär gelten. Gotteskindschaft, daran kann nicht der geringste Zweifel aufkommen, ist ein genuin christlicher Begriff und, auf ihre Genese zurückverfolgt, das Herzensgeschenk Jesu an die mit ihm Verbundenen und durch sie an die Welt. Wenn Jesus aber die „Quelle“ der Gotteskindschaft ist, stellt sich die Frage nach deren Grund und damit die nach seiner Lebensleistung.
Wenn man das Jesuswort „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ auf seinen Sprecher beziehen und von der „Frucht“ der Gotteskindschaft auf deren Wurzel zurückschließen darf, ist damit die Frage nach dem Ursprung seines Sohnesbewußtseins aufgeworfen. Nach dem Markusbericht von der Taufe Jesu (Mk 1,11), den Lukas zu einem Gebetserlebnis stilisiert (Lk 3,21f), besteht dieser in der Zusage „du bist mein geliebter Sohn; an dir habe ich mein Wohlgefallen“, die ihn seiner Gottessohnschaft versichert. Vor dem Hintergrund der lukanischen Kindheitsgeschichte, die im Erlebnis der göttlichen Zugehörigkeit des Zwölfjährigen gipfelt (Lk 2,49ff), ist diese Zusage die Antwort auf die Sinnfrage, die sich diesem im Dialog mit der Mutter unausweichlich gestellt hatte. Diese Antwort treibt ihn, wie sich aus dem Kontext der Hinweise schließen läßt, in die Wüste, wo er, stimuliert durch die teuflischen Anfechtungen (4,3.9), sein Erlebnis verarbeitet und von wo er dann, zum Vollbewußtsein seiner Sendung gelangt, seine Reich-Gottes-Verkündigung in Angriff nimmt. Seine Sendung aber konnte nur in der Weitergabe seines Sohnesbewußtseins bestehen, für die er in dem aus prophetischer Tradition (Dan 7,14) übernommenen Motiv des Gottesreichs das sprachliche Gefäß gefunden hatte28.
Doch diese Herleitung, die im Prinzip sogar noch von Ulrich Wilckens vertreten wird, läßt sich angesicht der sekundären Herkunft der Taufszene, für die sich schon Anton Vögtle ausgesprochen hatte, nicht halten29. Sie erweist sich vielmehr – wie manches andere – als eine vorweggenommene Ostergeschichte, da die „Einsetzung zum Gottessohn mit Macht“ (Röm 1,4) erst durch die Auferstehung Jesu erfolgt. Dadurch kompliziert sich aber die Suche nach der Entstehung des Sohnesbewußtseins Jesu derart, daß auf die Frage danach nur mit Mutmaßungen geantwortet werden kann. Einen hilfreichen Hinweis bietet immerhin die Bemerkung des Lukasevangelisten:
Als die Tage seiner Aufnahme näher kamen, richtete er seinen Blick fest nach Jerusalem (Lk 9,51),
der Stadt, wie dem hinzuzufügen ist, seines vorhersehbaren Todes. Eine Motivation läßt sich der Jüngerbefragung (Mk 8,27– 30) entnehmen, die nach Martin Buber auf eine für religiöse Lehrmeister typische Lebenskrise, nach der Johannesparallele, welche die Szene in die Synagoge von Kafarnaum verlegt, auf den sich dort ereignenden Massenabfall (Joh 6,60 – 66) zurückgeht. Nimmt man hinzu, daß sich Jesus (nach Lk 13,31) von seinem Landesherrn bedroht und zur Flucht in das syrophönizische Grenzgebiet genötigt fühlt (Mk 8,27), wird die von Buber angenommene Krise verständlich, die Jesus angesichts dieser niederschmetternden Umstände zu der an die Jünger gerichteten Frage nach seiner Identität veranlaßt. Da er von ihnen keine Antwort erwarten kann – die ihm (nach Mt 16,16) von Petrus gegebene geht, schon aufgrund des Gleichklangs, nicht über die in der Taufszene vernommene hinaus –, erwartet er sie sich von dem Tod, dem er nach der angeführten Lukasstelle entschlossen entgegengeht. Wenn das nicht, wie Jack Miles annimmt, auf den Entschluß zum Selbstmord hinausläuft, muß sich auf diesem Weg das Todes- und Gottesbewußtsein Jesu grundlegend geändert haben. Der Tod, den er wie jeder Sterbliche zunächst als Schicksal und Zumutung empfindet, muß im Blick auf die von ihm erwartete Antwort seine Physiognomie für ihn grundlegend verändert haben. Die Zumutung verwandelt sich in eine Anmutung und in ein Ansinnen, um nicht zu sagen in eine Verheißung. Gleichzeitig aber ändert sich, und das nicht minder radikal, sein Gottesbild. War Gott für ihn bisher der Herr über Leben und Tod, der ihn wie alle andern dem Todesschicksal unterwarf, so wandelt sich nun sein Bild in das des Vaters, der ihn zur Rückkehr ins heimatliche Vaterhaus einlädt und dem Heimkehrer wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn mit allen Zeichen der Liebe entgegengeht (Lk 15,20 – 24). In äußerster Verknappung bestätigt dies der Hebräerbrief, wenn er die Lebensgeschichte Jesu in den – der schwierigeren Leseart entsprechenden und auf den Todesschrei des Gekreuzigten bezogenen – Satz zusammenfaßt:
In den Tagen seines Erdenlebens brachte er unter lautem Wehgeschrei und Tränen Bitten und Flehrufe vor den, der ihn vom Tod erretten konnte. Und er ist erhört und aus seiner Todesnot befreit worden (Hebr 5,7)30.
Danach antwortet Gott dem zu ihm Aufschreienden nicht im Sinn menschlicher Erwartung mit einer empirischen Hilfe, sondern mit seinem rettenden Selbsterweis im Ereignis seiner Auferstehung. Indem er den Gekreuzigten in seine Lebensfülle aufnimmt, hat er ihn auch schon der kreatürlichen Todverfallenheit entrissen und in ein transkreatürlich-genealogisches Gottesverhältnis aufgenommen, dem nur der Sohnesname gerecht wird. Dem entsprechen die Evangelien dadurch, daß sie eine ganze Reihe von Szenen als vorgezogene Ostergeschichten inszenieren. Für Jesus selbst aber gestaltet sich sein Leben zu einem fortwährenden „Vorlaufen in den Tod“ (Heidegger). So wird es ihm schon durch die lukanische Versuchungsgeschichte insinuiert, sofern sie in der als unverhohlener Anreiz zum Suizid zu verstehenden Aufforderung gipfelt: „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann stürze dich da hinab!“ (Lk 4,9)31 Danach steht sein Sohnesbewußtsein in einem unentflechtbaren Zusammenhang mit seinem Tod; mehr noch: es erscheint als die Frucht seiner Annahme des Todes, von dem er trotz der Anfangserfolge wußte, daß sein Lebenswerk auf ihn – und seine Bewältigung – hinauslaufen werde. Bewältigen konnte er den Tod aber nur, indem er ihn als ein an ihn ergangenes Ansinnen annahm und damit die Erwartung verband, damit seinerseits von Gott angenommen zu werden. Entscheidend ist dabei, daß sich dem zum Bewußtsein seiner Gottessohnschaft Erwachten die ehrfürchtig-zärtliche Anrufung „Abba – Vater“ auf die Lippen drängt, mit der er nicht nur den Gerichtsgott des Täufers hinter sich läßt, sondern mit dem ambivalenten Gott der gesamten Menschheitstradition bricht und den Tag des Heils (2Kor 6,2) im Licht des „Vaters der Erbarmungen und Gott allen Trostes“ (1,3) heraufführt32. So sehr er sich vorher in der Auseinandersetzung mit dem Tod zum Bewußtsein seiner Gottessohnschaft durchgerungen hatte, empfindet er sie jetzt als das einzigartige Geschenk des von ihm entdeckten und angerufenen Vaters. Da sie im Schatten des Todesgedankens steht, weiß er aber auch, daß er sie ebenso verkünden wie erkämpfen und erleiden muß.
Verkünden, weil ihn das empfangene und als Unterpfand der väterlichen Liebe empfundene Geschenk drängt, weltweit an die „in Finsternis und Todesschatten“ Sitzenden veräußert und weitergegeben zu werden. Weil das unmöglich im Klartext der Gottessohnschaft geschehen konnte, bedurfte es dafür eines Mittelbegriffs, der sich ihm in Gestalt des von ihm aus prophetischer Tradition, näherhin aus der Menschensohnvision des Buches Daniel (Dan 7,14) übernommenen Reich-Gottes-Motivs anbot33. Da sich aber auch dieses (nach Lk 17,20) jeder Einbeziehung in das Koordinatensystem von Raum und Zeit und zudem aller Veranschaulichung entzog, mußte Jesus eine eigene Sprachwelt schaffen, die der Einübung in das Gottesreich entsprach34. Auf die sich damit stellende Frage nach dem Sinn des von ihm ausgerufenen Gottesreichs hatte schon Origenes, wenn nicht gar schon Markion die einzig zutreffende Antwort gegeben: Er selbst, als die, wie sich Origenes ausdrückte, autobasileia, als das Gottesreich in Person. Danach ist das Gottesreich die Sozialgestalt dessen, der in einem zuständlichen Akt der Selbstübereignung sich an diejenigen hingab, die in ihm die unüberbietbare Antwort auf ihre Sinnfrage erkannt hatten.
Sie hatten diese Antwort gefunden, weil sie von seiner Selbstübereignung ergriffen und zu einer Gemeinschaft zusammengeführt worden waren: zur Gemeinschaft der Gotteskinder. Denn durch seine Hingabe waren sie das, wenngleich auf abkünftige Weise geworden, was er war: Söhne und Töchter Gottes. Darin bestand die christliche Alternative zur alttestamentlichen Rede von dem Sohn, mit dem ganz Israel gemeint war. Für das Christentum aber beginnt sich nun die kaum einmal mit hinreichender Schärfe gestellte Frage nach dem Subjekt der Gotteskindschaft zu klären. Denn das besteht, wie Johann Adam Möhler in seiner Jugendschrift „Die Einheit in der Kirche“ herausstellte, nicht in den einzelnen Gläubigen, da Gott, wie er argumentiert, als Schöpfer des Ganzen nur vom Ganzen, nicht aber, oder doch nur bedingt, vom Einzelnen erkannt werden könne; denn: „nur das Ganze erfaßt Gott“35. Subjekt des Christentums ist somit die Gemeinschaft der Gotteskinder, da Gotteskindschaft nie das Privileg einzelner ist, sondern die Qualität derer, die durch sie in einem gegenseitigen Verweisungszusammenhang stehen, wie es Paulus in seinem Theorem vom mystischen Leib Christi von den Gliedern dieses Leibes annimmt:
Denn wie der Leib einer ist, aber doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl es viele sind, einen einzigen Leib bilden, so verhält es sich auch mit Christus (1Kor 12,12)36.
Franz von Baader hat das in seinem Begriffsbild vom „Zentralherzen“ nachgedacht, in dem alle in einem Lebens- und Geistesaustausch miteinander stehen37. Darin wird er von Paulus und seiner Schule bestätigt. Von dieser, sofern der Epheserbrief den Sinn der kirchlichen Dienstleistung darin erblickt, „daß wir alle zur Einheit des Glaubens und zur Erkenntnis des Gottessohnes gelangen, zur vollen Mannesreife und zum Vollalter Christi“ (Eph 4,13). Von Paulus selbst, sofern er nach Alfred Wikenhauser mit der vielfach wiederholten Formel „in Christus“ die Vorstellung von einer alles umgreifenden Sphäre erweckt, die alle von ihr Umgriffenen zu einer Lebens- und Geisteseinheit zusammenschließt38.
Wenn Jesus die von ihm an die Seinen übereignete Gottessohnschaft aber nicht nur als Künder, sondern im Wortkampf mit seinen Gegnern auch kämpferisch behaupten und schließlich sogar (nach Hebr 5,8) leidend „erlernen“ mußte, stellt sich am Ende dieses Einblicks in seine Lebensleistung die Frage nach der sie ebenso krönenden wie letztlich begründenden Tat und damit die Frage nach seiner Passion und seiner Auferstehung.