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1. Die Übereignung

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Wer in das „Geheimnis Jesu“ eindringen will, von dem Pascal auf einem Höhepunkt seiner „Pensées“ sprach, muß versuchen, seiner Identitätsfindung auf die Spur zu kommen1. Dazu können ihm zwei Kontrastbilder verhelfen. Das erste besteht in dem anthropologischen Zielbild, in welchem Freuds Zeitanalyse gipfelt. Das zweite entdeckt er beim Nachdenken über seine eigene Identitätsfindung. Vor dem Hintergrund dieser beiden Gegenbilder wird sich ihm die Selbstfindung dessen klären, der nach eigenem Bekunden

nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen (Mk 10,45).

Wenn die Brisanz dieses Wortes zum Vorschein kommen soll, muß es zunächst in seinem Kontrast zur Selbsteinschätzung des neuzeitlichen Menschen und deren Entstehung gesehen werden. Wie es ihm durch den rebellischen Subjektivismus vorgegeben war, setzte er nach Walter Rehm das „experimentum suae medietatis“, verstanden als sein Versuch, sich ins Zentrum des Seins und Geschehens zu positionieren, ins Werk, von dem schon Augustin im zwölften Buch von „De trinitate“ gesprochen hatte2. Über Fichtes These von der sich über die Kontingenz des Menschen hinwegsetzenden „Selbstsetzung“ führte das geradlinig zu dessen hybrider Selbstüberhöhung, der Nietzsche mit der Bemerkung das Wort redete:

Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur … Hybris ist unsere Stellung zu Gott … Hybris ist unsere Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns … und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf 3.

Dem stimmte Marx zuvor schon in seiner Dissertation zu, als er im Blick auf Epikur, den größten griechischen Aufklärer, Prometheus zum „vornehmsten Heiligen und Märtyrer im philosophischen Kalender“ erklärte4. Dasselbe meinte er aber auch, als er sich in einem Briefwort zu der Aufgabe bekannte, den zum „Warenproduzenten erniedrigten und entfremdeten Menschen zum Menschen zu machen“5. Geradezu enthusiastisch stimmte dem, jenseits aller Differenzen, Nietzsche in seinem „Zarathustra“ mit seiner Lehre vom Übermenschen zu, den er den „Blitz“ seiner Verkündigung und den „Sinn der Erde“ und des menschlichen „Seins“ nannte6.

War Nietzsche der Schöpfer der Idee, so war Freud der Theoretiker ihrer Verwirklichung, als er in dem von jenem verkündeten „Tod Gottes“ den Hebel des gegenwärtigen Zeitgeschehens erkannte. Dabei knüpfte er an die Behauptung Nietzsches an, wonach durch den Tod Gottes die Attribute, die der Mensch nach Feuerbach in Akten der Selbstverschwendung an Gott abgetreten hatte, freigesetzt wurden, so daß sie für den Menschen „als seine schönste Apologie“ zurückgewonnen werden konnten7. Das aber ist nach Feuerbach die Position des „gewöhnlichen“ Atheismus, der zwar das Subjekt der göttlichen Prädikate wie Liebe, Weisheit und Gerechtigkeit leugnet, diese selbst aber beibehält8. Dieses „Beibehalten“ steigert sich nach Freud im Zeitalter der Hochtechnik zur Beanspruchung und Usurpation. Denn durch die Raumfahrt gewann der heutige Mensch, wie sich bereits zeigte, einen Anteil an göttlicher Allgegenwart, durch die Nachrichten- und die Evolutionstechnik sogar an göttlicher Allwissenheit und Schöpferkraft9. Doch wohin führte diese technisch vermittelte „Apologie“?

In der Beantwortung dieser Frage ist Freud zurückhaltend. Zwar sieht er den Menschen mit Hilfe der ihm von der Hochtechnik gebotenen Prothesen über sich hinauswachsen, jedoch nur zu der bizarren und an das Ideal des Übermenschen nicht wirklich heranreichenden Figur eines „Prothesengottes“, so daß sich in seine Vision ein Moment unverkennbarer Skepsis einmischt. Darauf hebt eine kritischere Zeitdiagnose unter dem Eindruck der waffentechnischen und militärischen Entwicklung noch nachdrücklicher ab. Sie verweist darauf, daß der erste Einsatz der Nuklearenergie im Abwurf der Atombombe auf japanische Städte erfolgte, daß die Raketentechnik das Schreckgespenst eines „Kriegs der Sterne“ heraufbeschwor und daß die zu befürchtende Klonierung des Menschen zu völlig unabsehbaren Folgen philosophischer, anthropologischer, psychologischer und sozialer Art führen wird. Zwar würdigt diese Diagnose die Gegenwart als die Zeit der sich Zug um Zug realisierenden Utopien, dies jedoch mit dem Zusatz, daß sie selbst und vollständig als die utopisch-rückschlägige Zeit begriffen werden muß.

Gleiches gilt aber auch von der Selbst- und Identitätsfindung des Menschen. Wenn er aus anfänglicher Traumverlorenheit zu sich selbst erwacht, sieht er sich zunächst einer unheimlichen Wildnis gegenüber, die ihn ins Nichts zurückzustürzen droht. Sobald er aber Stand gefaßt hat, lichtet sich das Chaos zur Welt, die ihm in zwei Grundformen, als Kosmos und Gesellschaft, entgegentritt. Nach der Frühschrift Martin Bubers „Ich und Du“ gibt es kein „Ich an sich“, sondern nur das aus der Beziehung zum personal oder welthaft Anderen Gewonnene10. Dem entsprechen die beiden Grundworte „Ich-Du“ und „Ich-Es“:

Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Das Grundwort Ich-Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden11.

Danach kommt der zu sich erwachende Mensch in der Abgrenzung von dem ihm personal oder welthaft entgegentretenden Gegenüber zum Bewußtsein seiner selbst. Vorausgesetzt ist dabei freilich, daß die Konfrontation einen jeweils anderen Charakter hat und aufgrund einer zwiespältigen Affinität in dieser Unterschiedlichkeit wahrgenommen wird. Deshalb gibt es für Buber kein „Ich an sich“, sondern nur das sich aus den beiden Beziehungsweisen je anders konstituierende. Diese „gegensätzlichen Pole des Weltseins“ entdeckt Buber auch schon im jahwistischen Schöpfungsbericht, wo sich der Mensch von den ihm zuerschaffenen Tieren unterscheiden lernt (Gen 2,19f), um sich dann im Erlebnis seiner Nacktheit in seinem Anderssein (3,7) und seiner Verantwortlichkeit zu erfahren (3,8f)12. Vollends neigt sich die Waagschale der personalen Selbsterfahrung zu, wenn Buber am Schluß seines Essays „Urdistanz und Beziehung“ erklärt:

In seinem Sein bestätigt will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein des andern eine Gegenwart haben. Das Tier braucht nicht bestätigt zu werden, denn es ist, was es ist, unfraglich. Anders der Mensch: Aus dem Gattungsreich der Natur ins Wagnis der einsamen Kategorie geschickt, von einem mitgeborenen Chaos umwittert, schaut er heimlich und scheu nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann; einander reichen die Menschen das Himmelsbrot des Selbstseins13.

Dem war Ferdinand Ebner schon Jahrzehnte früher mit der Bemerkung zuvorgekommen:

Ohne dieses Brot müßte er verschmachten in der geistigen Wüste dieser Welt14.

Neutestamentlich entspricht dem der Ausklang der lukanischen Kindheitshalacha mit der Szene des Zwölfjährigen im Tempel (Lk 2, 41– 52), in der dieser der Mutter das nochmals zuspricht, was ihr bereits „vom Herrn gesagt worden war“ (1,45)15. In seiner Antwort auf ihren Vorwurf:

Wußtet ihr nicht, daß ich dorthin gehöre, wo mein Vater ist? (Lk 2,45),

artikuliert sich ein Selbstbewußtsein, das zwar nicht mit der Zugehörigkeit zur Familie bricht, mit der er nach Nazaret hinabzieht und ihr dort gehorsam bleibt (2,51), das jedoch aus dem Bewußtsein der von ihm neu erfahrenen Gottzugehörigkeit lebt. Eindrucksvoll setzte das Max Liebermann in Szene, als er den Zwölfjährigen im Bewußtsein seiner Standfestigkeit mit den ihm teils kritisch, teils skeptisch, teils aber auch betroffen zuhörenden Schriftgelehrten konfrontierte16. Trotz des über ihrer Herkunft liegenden Dunkels und der überlieferungsgeschichtlichen Brechungen ragt die Szene dadurch hervor, daß sie als einzige einen Blick in die Bewußtseinsgeschichte Jesu verstattet und den dramatischen Augenblick des ersten Durchbruchs seines Sohnesbewußtseins festhält. Was sich hier zwischen ihm und der durch seine Antwort überforderten Mutter abspielt, wiederholt sich später in der von der Täuferanfrage (Lk 7,18 – 23) dokumentierten Ablösung von der Denkwelt und Erwartung des Täufers, den Jesus, anstatt auf das von ihm erhoffte Gericht, auf seine Wundertätigkeit und die in der Seligpreisung der Armen gipfelnde Heilsverkündigung verweist (7,18 – 23)17. Die Selbstunterscheidung Jesu vom Täufer wird sogar durch den gegensätzlichen Lebensstil unterstrichen:

Johannes der Täufer kam: er aß kein Brot und trank keinen Wein, und da sagt ihr: er ist von einem Dämon besessen. Der Menschensohn ist gekommen: er ißt und trinkt, und da sagt ihr: seht ihn nur an, den Fresser und Säufer, diesen Freund der Zöllner und Sünder! (Lk 7,33f)18.

Das setzt sich fort in Jesu Würdigung des Täufers, dem er nachrühmt, der Größte aller vom Weibe Geborenen zu sein, dies jedoch mit der entscheidenden Einschränkung: „doch der Kleinste im Gottesreich ist größer als er“ (Lk 7,28)19. Den vollen Bruch markiert schließlich der vieldiskutierte „Stürmerspruch“:

Gesetz und Propheten reichen bis Johannes. Von da an wird das Gottesreich verkündet, und jeder drängt mit Gewalt hinein (Lk 16,16)20.

Im Hinblick darauf drängt sich jetzt schon die Frage nach der Identitätsfindung Jesu auf. Sie gewinnt noch erheblich an Gewicht, wenn man seine Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern in die Erwägung einbezieht. Zwar befindet sich Jesus, wie die wiederholt erwähnten Einladungen durch Pharisäer (Lk 7,36; 11,37; 14,1) und ihre Warnung vor den Mordabsichten des Herodes (13,31) beweisen, keineswegs von vornherein auf Konfrontationskurs mit ihnen. Doch lassen die Seligpreisungen der Armen, Hungernden und Verzweifelten (6,20) erkennen, daß es vergleichsweise früh zu einer gegenseitigen Entfremdung, vor allem in der Fasten-, Reinheits- und Sabbatfrage gekommen sein muß (Mk 2,18 f. 23 – 28), die Jesus veranlaßte, sich vom religiösen Establishment abzuwenden und seine Botschaft an die ins gesellschaftliche Abseits Gedrängten zu richten. Bei ihnen weiß er sich angenommen und verstanden, da Gott das, „was er den Weisen und Klugen verborgen hat, den Unmündigen offenbarte“ (Lk 10,21). Im Bruch mit der pharisäischen Frömmigkeit fordert er Glauben statt Askese, Herzensreinheit statt kultischer Integrität, Barmherzigkeit statt Gesetzesobservanz und Demut statt Überheblichkeit. Den Pharisäern, die ihn deshalb verlachen (16,14), aber wirft er vor, zwar „Becher und Schüssel sauber zu halten, aber innerlich voller Gier und Bosheit“ zu sein (11,39). Denn der Pharisäer gleicht, wie ein Logion des gnostischen Thomasevangeliums sagt, „dem Hund, der in der Futterkrippe der Rinder liegt; er selbst frißt nicht, doch läßt er auch die Rinder nicht fressen“ (102)21. Im selben Sinn erhebt Jesus im Lukasevangelium gegenüber den Gesetzeslehrern den Vorwurf:

Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis weggenommen. Ihr selbst tretet nicht ein und laßt auch die nicht eintreten, die hineingehen möchten (Lk 11,52)22.

Voll schlägt die Gegnerschaft schließlich in dem Vorwurf durch:

Weh euch, ihr Gesetzeslehrer. Ihr bürdet den Menschen schwere Lasten auf; ihr selbst aber rührt mit keinem Finger an diese Lasten (Lk 11,46).

Auf die Frage der Identitätsfindung zurückbezogen, erscheint hier Jesus durchaus auf der Linie der Selbstunterscheidung, die das eigene Selbst in Akten der Abgrenzung von anderen und anderem gewinnt. Doch gerade auf dem Höhepunkt dieser Abgrenzungsstrategie entwirft er zugleich das Hochbild seiner ureigenen Selbstfindung, wenn er im Gegenzug zum Verhalten der Gesetzeslehrer mit dem Schlüsselwort seiner großen Einladung an die „Erniedrigten und Beleidigten“ (Dostojewskij) erklärt:

Her zu mir, ihr Bedrückten und Beladenen; ich will euch Ruhe geben! (Mt 11,28),

und das er mit der verheißungsvollen Aufforderung verbindet:

Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und demütig von Herzen. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Bürde ist leicht23.

Das verkürzt das Thomasevangelium zu dem eindringlichen Appell:

Kommt zu mir; denn mein Joch ist leicht und meine Herrschaft mild; und ihr werdet Ruhe finden (90).

Wenn man angesichts der exorbitanten Forderungen der Bergpredigt weiter fragt, wie Jesus sein Joch als sanft und seine Bürde als leicht bezeichnen kann, lautet die einzig mögliche Antwort; weil er sich, anders als seine Gegner, mit unter die von ihm aufgebürdete Last stellt und sie so tragen hilft. Denn in kaum einem Wort „gestikuliert“ er, mit Kierkegaard gesprochen, so sehr „mit seiner ganzen Existenz“ wie mit diesem. Nicht umsonst fand Kierkegaard dann auch gerade in diesem Wort den Zugang zu der in seiner „Einübung im Christentum“ entworfenen Christologie. Kierkegaard, der wie kaum ein Interpret gelernt hat, auf die „Musik hinter den Worten“, auf die „Leidenschaft hinter der Musik“ und damit auf das im Gesagten Ungesagte zu achten, vernahm gerade in dieser Einladung den Leidenston, der in dem sich anbietenden Helfer geradezu einen Hilfsbedürftigen erscheinen läßt24. Weil Kierkegaard die große Einladung mit dem Massenabfall (Joh 6,60 – 66) zusammenschaut, verdüstert sich für ihn die Gestalt des hilfsbedürftigen Helfers schließlich zu einer Passionsfigur, die durch die Dringlichkeit ihres Hilfsangebots gerade die zurückschrecken läßt, die der Hilfe besonders bedürfen. Deutlicher aber kann schwerlich gesagt werden, daß Jesus, wie es im Grunde schon seiner Seligpreisung der Armen, Hungernden und Verzweifelnden zu entnehmen ist, seine Identität auf einem dem üblichen diametral entgegengesetzten Weg gewinnt: auf dem Weg der Selbstentäußerung, Selbstübereignung und Hingabe. Damit schließt sich dann aber auch der Ring zu dem Wort, mit dem er seine Sendung dahin bestimmt, daß er im Gegensatz zu allen, die sich auf die unterschiedlichste Weise bedienen lassen, gekommen ist, „um zu dienen“ (Mk 10,45).

Grundlage seiner Identität ist jedoch fraglos sein erstmals im Wort des Zwölfjährigen aufleuchtendes Verhältnis zu Gott. Und dieses äußert sich bei diesem Friedrich Heiler zufolge „gewaltigsten Beter der Geschichte“ am ursprünglichsten in seinem Gebet25. Kronzeugnis dessen ist der von Hermann von Lips als weisheitlich stilisiertes Herrenwort erwiesene Jubelruf:

Alles ist mir von meinem Vater übergeben. Niemand kennt den Sohn als nur der Vater, und niemand den Vater als nur der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren will (Lk 10,22)26.

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