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2. Der Hintergrund
ОглавлениеObwohl die Ideen den Zenit des Geistes bilden, fallen sie nicht vom Himmel, sondern erweisen sich als Frucht geistiger Problembewältigung, wobei diese im wesentlichen dem menschlichen Streben nach Kontingenzbewältigung (Lübbe) entspringt15. Bezeichnend für den Kern des Problems hat Hermann Lübbe seinem einschlägigen Werk „Religion nach der Aufklärung“ einen Exkurs über „Sinn“ eingefügt16. In einer kontingenten, durch Vergeblichkeit, Rückschläge und Leiden geprägten Welt geht es dem Menschen tatsächlich primär um Sinn und dies in der von Lübbe nur gestreiften Bedeutung von Richtungssinn. Er will wissen, worauf es in dieser, ihm so oft als verworren und chaotisch vorkommenden Lebenswelt letztlich „hinauswill“. Er fahndet nach dem wenn auch noch so fernen Licht am Ende des Tunnels. Da er sich aber als „Mensch mit seinem Widerspruch“ selbst in diese Chaotik verstrickt weiß, verbirgt sich in dieser Suche die Sehnsucht, ein anderer als er selbst zu sein, und dies in der von Nikolaus von Kues anvisierten Form, zu einem andern als dem von ihm faktisch erreichten Selbstverhältnis zu gelangen. Denn seiner Ansicht nach wollen wir nicht so sehr etwas anderes sein als was wir faktisch sind, sondern vielmehr das, was wir sind, auf andere und höhere Weise17. Das aber ist für ihn die präzise Bestimmung der Gotteskindschaft.
In erstaunlichem Vorgriff wird der Kusaner damit dem von Kierkegaard herausgestellten Dilemma gerecht. Denn nach dem ingeniösen Eingangskapitel von dessen „Krankheit zum Tode“ steht dem Verlangen der Menschen nach Vertauschung der faktischen Existenz und der sie bestimmenden Lebensverhältnisse der unausrottbare Wille entgegen, geradezu verzweifelt „er selbst“ und nichts anderes zu sein18. Einen Ausweg aus diesem Dilemma eröffnet lediglich die Idee eines dem faktischen Seinsstand überhobenen Daseins, die unter den bestehenden Bedingungen jedoch reine Utopie bleibt, solange ihr kein Angebot von außen oder oben entspricht.
Es gehört zu den ebenso subtilen wie effizienten Verführungskünsten totalitärer Systeme und der sie unterbauenden Ideologien, daß sie auf diese Affinität des Menschen eingehen und ihm eine aus dem Alltag herausgehobene Seinsweise verheißen, sei es als Funktionär eines Systems oder als Element einer totalitär verfaßten Gesellschaft. Dabei wird die arrivierte und oft durch attraktive Aufmachung unterstrichene Position allerdings mit der Preisgabe der selbstverantwortlichen Persönlichkeit und dem von der Ideologie abverlangten „Vernunftopfer“ (Weber) erkauft19. Wie die Verhältnisse im kommunistisch beherrschten Teil Deutschlands zeigten, kann diese Entmündigung aber auch suggestive Formen, insbesondere in Gestalt einer kollektiven Hospitalisierung annehmen, in der die persönliche Initiative von dem alles planenden und verwaltenden Kollektiv übernommen und der Mensch statt dessen in einen vorpersonalen Betäubungszustand versetzt wird20.
Diesem Angebot von unten steht das religiöse entgegen, das dem Nachweis Maurice Blondels zufolge vom Christentum an die Menschen ergeht21. Denn der Mensch ist, wie Blondel in der Nachfolge Pascals betont, das Wesen der beständigen Selbstüberschreitung auf Gott hin, wobei ihm zwei gegensinnige Wege offenstehen; denn:
Gott sein mit Gott und durch Gott, oder Gott sein ohne Gott und gegen Gott; darin besteht das Dilemma22.
In diesem Dilemma kommt dem Menschen sein naturales Optimierungsstreben zu Hilfe. Er wird sich dem zuneigen, was seinem Verlangen entgegenkommt und ihm Erfüllung und Glück verspricht. Wenn das Christentum nach einem Pascalwort darauf ausgeht, den Menschen ebenso liebenswert wie glücklich zu machen, entspricht es dieser Erwartung vollauf. Nur darf es dann nicht im Stil eines „tyrannischen Ukas“ (Blondel) an ihn herantreten, sondern in der Aura der Liebenswürdigkeit (Kant). Mehr noch: Es müßte sich ihm als die große Liebeserklärung Gottes an die Welt präsentieren (Biser). Aufgrund seines Verlangens nach Optimierung und Erfüllung müßte es der Mensch dann als die von ihm instinktiv erhoffte Antwort auf seine Sinnfrage empfinden, der er deswegen bereitwilliger als aufgrund aller Argumente zustimmt23.
Doch zur Strukturierung dieser Konvergenz von Erwartung und Angebot bedarf es eines Zielbilds, das dem Hoffenden dazu verhilft, sich in der ihm entgegnenden Antwort wiederzuerkennen. Diesem Bedürfnis entspricht aber kein Motiv so sehr wie das der Gotteskindschaft. Denn es führt dem Aufstrebenden vor Augen, daß es bei seiner Annäherung an das Ziel weniger auf seine eigene Anstrengung als vielmehr auf die sich seiner, wie es im Faust-Schluß heißt, „von oben“ annehmende Liebe ankommt. Und es verdeutlicht ihm gleichzeitig, daß er dabei nicht allein gelassen ist, sondern im Verbund mit allen steht, die sich gleich ihm der Liebe anvertraut haben, „die Gott zu uns hegt“ (1Joh 4,16). Dabei tritt es ihm mit der gerade dem Bild eigenen Faszination entgegen, die ihm dazu verhilft, die brachliegenden Energien in sich freizusetzen, um dem nahezukommen, was sich ihm in seiner stimulierenden Leuchtkraft zeigt; denn:
Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll;
so lang’ er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll24.