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Zweites Kapitel Die Herkunft
1. Der Stellenwert
So sehr die Aufklärung im Bund mit dem durch sie ausgelösten Säkularisierungsprozeß die Prinzipien der christlichen Lebensordnung – Freiheit, Barmherzigkeit und Geduld – ans Licht hob und in Gestalt von Liberalität, Solidarität und Toleranz als Tragpfeiler einer demokratischen Lebensordnung erwies, warf sie doch zugleich einen Schatten auf die tragenden Ideen und damit auf die Leitsterne des gläubigen Denkens1. So verblaßte der Glaube zur Weltanschauung, der Gehorsam zur Disziplin, die Sanftmut zur Rücksicht und die Nächstenliebe zur Fernsten-Liebe (Nietzsche)2. Hauptziel dieses Entleerungs- und Umwidmungsprozesses aber war, wie Karl Löwith in ingeniöser Analyse nachwies, die Hoffnung3. Bezeichnend für den von ihr erlittenen Bedeutungswandel verlor sie sogar ihren Namen und wurde, zum Fortschritt umgedeutet, zum Prinzip des modernen Zivilisationsprozesses. Von ihrem jenseitigen Erfüllungsziel abgekoppelt und auf innerweltlich Machbares zurückgenommen, richtete sie sich nun nicht mehr auf die ewige Seligkeit, sondern auf das größtmögliche Glück möglichst vieler in diesem Leben. Mit letzter Schärfe hatte das wiederum Nietzsche in den programmatischen Satz gefaßt: Kein anderes, sondern dieses in seinem Ewigkeitswert begriffene Leben – non alia, sed haec vita sempiterna4.
Im Blick auf diesen Bedeutungsverfall der christlichen Ideen stellt sich für jeden Versuch einer Glaubenserweckung die unumgängliche Aufgabe, diesem Verfallsprozeß zu widerstehen und die ursprüngliche Rangordnung wiederherzustellen. Schönste Rechtfertigung dieses Verfahrens wäre der Glücksfall, daß es dabei nicht bei einer bloßen Rehabilitierung bliebe, sondern zu einer Neuentdeckung käme. Als leibhaftiger Katalysator dessen bietet sich der in seiner zeitübergreifenden Bedeutung begriffene Paulus an5. Denn er stellte die sonst eher beiläufig behandelte Freiheit als Spitzenbegriff des Evangeliums heraus (Gal 5,1). Und er erklärte, auch wenn dies erst seine Schule thematisierte, das Christentum zum Inbegriff der Hoffnung (Kol 1,27) und des Friedens (Eph 2,14).
Im Zug dieses Wiederherstellungsversuches klärte sich aber nicht nur die ursprüngliche Bedeutung der durch den Säkularisierungsprozeß in Mitleidenschaft gezogenen Ideen, sondern auch der ihnen zukommende Stellenwert. Er bemißt sich an ihrer größeren oder geringeren Nähe zur Gottesidee und ihrem Verhältnis zu deren Struktur und Effizienz. Was die Struktur betrifft, so ist sie durch das Moment der Alternativelosigkeit gekennzeichnet. Denn zu Gott gibt es so wenig einen adäquaten Gegensatz wie zur Idee der Wahrheit, des Guten und des Friedens. Der oft genug als Gegensatz angesehene Teufel ist nicht das christliche Pendant zum dualistischen Gegengott nach Art des iranischen Ahriman, sondern eine abgefallene Kreatur; ebensowenig ist der Irrtum der Gegensatz zur Wahrheit, sondern der Inbegriff ihrer Verfehlung und Verstörung; daß schließlich das Böse kein Gegensatz zum Guten, sondern dessen Defizit ist, wurde mit unübertrefflicher Klarheit schon von Thomas von Aquin herausgestellt, während Nikolaus von Kues Gott, den Inbegriff des Guten, geradezu als das „Gegensatzlose“, als das non aliud, bezeichnete6.
Wenn die höchsten Begriffe aber nicht alternativisch zu möglichen Gegensätzen gedacht werden können, geht von ihnen eine Sogwirkung auf das Denken aus, das nur mit der des Selbstbegriffs, der dem „Ich zugrundeliegt“, verglichen werden kann. Denn dieser erweist sich als resistent gegenüber dem Todesgedanken, der erst dann in voller Strenge erfaßt wäre, wenn sich der Denkende selbst wegdenken könnte. Das aber ist unmöglich, weil bei diesem Versuch derjenige immer noch übrig bleibt, der diesen Ungedanken zu fassen sucht. Der Todesgedanke kommt somit, wie von Theoretikern wie Paul Ludwig Landsberg und Fridolin Wiplinger immer schon betont wurde, von außen, also aufgrund der Erfahrung fremden Sterbens auf den ihn Denkenden zu, sofern er nicht in Form eines von der „Vernunft des Leibes“ (Nietzsche) eingegebenen „dunklen Bescheids des Sterbenmüssens“ (Biser) an ihn ergeht 7.
Daran entzündet sich das reflektierende Selbstbewußtsein, das, so sehr es dem kartesischen „cogito ergo sum“ entstammt (Krüger), erst im Konflikt mit dem Todesgedanken ganz zu sich kommt. Erst im Blick auf sein mögliches Nichtsein wird sich der Denkende seines Selbstseins voll bewußt8. Daraus ergibt sich eine Denkfigur gleich der des anselmischen Gottesbeweises, der von der Unüberdenklichkeit des denkbar Größten ausgehend zur Überzeugung von dessen Existenz gelangt9. Wie es dem an den Denkenden ergehenden Bescheid des Sterbenmüssens, aber auch der Ansicht nachdenklicher Literaten wie Hans Erich Nossack entspricht, tritt die Gottesidee damit in einen konstitutiven Zusammenhang mit dem Todesgedanken und dieser mit ihr10. So gewinnt der Vorwurf Adornos, bei Heidegger sei der Tod zum „Stellvertreter“ Gottes avanciert, eine unerwartet positive Bedeutung11. Auf der einen Seite stellt sich dann die Frage, ob die conditio humana nicht Religionen wie der altägyptischen recht gibt, die sich aus dem Todeserlebnis des Menschen herleiten; auf der anderen Seite ergibt sich dann die Gegenfrage, ob sich mit der Unfähigkeit des Menschen, seinen eigenen Tod zu denken, nicht immer schon die Hoffnung auf eine Religion verbindet, die den todverfallenen Menschen nicht nur mit Jenseitshoffnungen vertröstet, sondern mit der Verheißung der Todüberwindung an ihn herantritt. Wie im Vorgriff auf das Resultat der Erschließung gesagt werden muß, geschieht das mit dem Begriff der Gotteskindschaft, sofern diese ein Stadium des Menschseins insinuiert, das bei aller Todverfallenheit den Tod, verstanden als Inbegriff seiner Vernichtung, bereits hinter sich hat12.
Für die Frage nach dem Stellenwert der höchsten Ideen ist damit der Einblick in ihre Effizienz gewonnen. Im Kosmos der höchsten Gedanken, die der Menschengeist zu entwerfen vermag, bilden sie nicht nur die hierarchische Spitzengruppe; vielmehr wirken sie darüber hinaus bewußtseinsverändernd auf ihn ein. Für den Glauben besagt das, daß er dem Glaubenden dadurch entgegenkommt, daß er ihn zu sich bewegt, für die Hoffnung, daß sie den „mit dem Rücken zur Zukunft“ lebenden Menschen (Valéry) zur Kehrtwende veranlaßt, für die Freiheit, daß sie als Provokation in eigener Sache begriffen wird, und für den Frieden, daß ihm nur ein neues alternativeloses Friedensbewußtsein gerecht wird13.
So sehr diese Spitzengruppe ihren Zenit im Gottesbegriff hat, fehlt ihr doch noch das sie integrierende Subjekt. So sehr dieses, was seine Rezeption betrifft, im Dunkeln liegt, deuten doch alle neutestamentlichen Hinweise und Konnotationen darauf hin, daß es in der Gotteskindschaft zu suchen ist. Wenn es sich dabei, wie bereits deutlich wurde, um die Aristie des Menschseins handelt, spricht alles dafür, daß sie mit dem Begriff der „vollen Mannesreife“ und dem „Vollmaß der Fülle Christi“ gleichzusetzen ist, auf deren Auferbauung die kirchlichen Ämter und Dienstleistungen nach Darstellung des Epheserbriefs (Eph 4,13) hinarbeiten14. Ihnen aber kommt sie selbst dadurch zuvor, daß sie, wie die zur Spitzengruppe gehörenden Ideen und unter ihnen insbesondere die Freiheit, für sich selbst einnimmt und zu sich selbst provoziert. Wenn sie aber in diesem Sinne immer noch bevorsteht und „im Kommen“ ist, gilt es auch ihre Herkunft zu klären, wobei im Interesse einer hinlänglichen Begriffsbestimmung vor allem ihren alttestamentlichen Wurzeln nachzugehen ist. Zuvor aber muß die menschliche Disposition verdeutlicht und auf dieser Basis ein Vorbegriff gewonnen werden.