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5. Der Anschluß

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Die Frage sollte besser noch umgekehrt gestellt werden: als Frage nach dem Verhältnis des Judentums zum Christentum. So wurde sie mit der Wucht eines großen Lebens- und Geisteszeugnisses von Franz Rosenzweig gestellt und bis in ihre existentiellen Konsequenzen durchgezogen48. Seine Beantwortung kam einem fundamentalen Einwand gleich, der die von allen christlichen Interpreten angenommene Kontinuität in Frage stellt. Nach Friedrich G. Friedmann sind Judentum und Christentum zwar komplementäre, jedoch sich gegenseitig ausschließende Traditionen49. Gleichwohl bleiben in diesem Gegensatz Gemeinsamkeiten. Während für den das Denken bis Hegel beherrschenden Idealismus die Wahrheit ihre höchste Aufgipfelung im Gottesgedanken erreicht, gilt für Judentum wie Christentum, wie Rosenzweig in einem Schlüsselsatz seines „Stern der Erlösung“ versichert: „Die Wahrheit ist nicht Gott. Gott ist die Wahrheit“50. Und während das Judentum dem letzten Teil dieses Satzes zufolge „als Gemeinschaft die Botschaft Gottes in sich trägt“, jedoch diese Botschaft der Heidenwelt nicht zu vermitteln vermag, ist es dem Christentum aufgegeben, diese Botschaft weltweit zu verbreiten (Friedmann)51.

Lebensgeschichtlich ergab sich das aus dem Konflikt, in welchen Rosenzweig durch seine Absicht, gleich seinen beiden Vettern Ehrenberg und seinem Freund Rosenstock-Hussey zum Christentum zu konvertieren, durch das Erlebnis eines orthodoxen Gottesdienstes am jüdischen Versöhnungsfest geraten war52. Was ihm dabei aufging, spiegelt sich in seinen Briefen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Er habe geglaubt, gesteht er Rudolf Ehrenberg, sein Judentum christianisiert zu haben. In Wahrheit habe er aber „umgekehrt das Christentum judaisiert“. Denn soviel das Judentum dem Christentum bei der Abwehr der gnostischen Verteufelung des alttestamentlichen Gottes zu verdanken habe, erläutert er in einem analogen Brief an seine Mutter, habe er doch die Folgerung, „daß nun seine eigene Entwicklung durch Jesus hindurchführe“, nie gezogen, sondern so schroff wir nur möglich abgelehnt53. Deshalb sei er nach langer und gründlicher Überlegung dazu gekommen, seinen Entschluß zur Konversion zurückzunehmen: „Ich bleibe also Jude“54. Im Verhältnis zur jüdischen Frömmigkeit gehe die christliche, wie er dies dann im „Stern der Erlösung“ begründet, „getrennte Wege, wenn sie beim Vater und wenn sie beim Sohn ist“; dem fügt er die seinen definitiven Standpunkt umschreibenden Sätze hinzu:

Dem Sohn allein nähert sich der Christ mit jener Vertrautheit, die uns Gott gegenüber so natürlich vorkommt, daß es uns wiederum fast unvorstellbar geworden ist, daß es Menschen geben soll, die sich dieses Vertrauens nicht getrauen. Erst an der Hand des Sohnes wagt der Christ vor den Vater zu treten: nur durch den Sohn glaubt er zum Vater kommen zu können. Er kann sich nicht vorstellen, daß Gott selbst, der heilige Gott, sich so zu ihm herablassen könnte, wie er es verlangt, er werde denn anders selber Mensch55.

Darauf folgt der Satz, mit dem Rosenzweig endgültig mit dem ihm sonst in vieler Hinsicht so nahegekommenen Christentum bricht:

Das zuinnerst in jedem Christen unvertilgbare Stück Heidentum bricht da hervor56.

Deshalb liegt in Friedmanns Verhältnisbestimmung, wonach Rosenzweig Judentum und Christentum als zwar komplementäre, aber sich zugleich gegenseitig ausschließende Traditionen einschätzte, der Akzent auf der Exklusion. Weil dieses Urteil nicht äußerer Bewertung, sondern, mit Buber zu sprechen, den Antrieben und Regungen des „Judenwesens“ entstammt, das Christen „unzugänglich bleibe“, muß ihm gerade auch im Interesse eines Brückenschlags zwischen Altem und Neuem Testament Rechnung getragen werden57. Das kann zunächst nur in der Form geschehen, daß das Problem in die begrifflich strengste Fassung gebracht wird. So gesehen geht es dabei, wie bereits deutlich wurde, um die Alternative zwischen vermittelter und unmittelbarer Gottesbeziehung. Für Rosenzweig besitzt der Jude aufgrund seines „Judenwesens“ schon alles, was der Christ Jesus, dem „einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen“ (1Tim 2,5), verdankt58. Diese Differenz wäre nur unter zwei Voraussetzungen zu überbrücken. Einmal, wenn Jesus dem Judentum etwas zu sagen hätte, was es aus eigener Überlieferung in dieser Form, zumindest in dieser Eindeutigkeit, noch nie gehabt hätte. Sodann, wenn sich nachweisen ließe, daß seine Vermittlung darauf abzielt, als solche aufgehoben zu werden und in reine Unmittelbarkeit auszumünden.

Was die Frage nach dem Beitrag Jesu für das Judentum anlangt, so muß seine Zugehörigkeit zum jüdischen Prophetismus entschiedener als bisher gewürdigt werden. Zwar steht aufgrund vielfältiger Hinweise außer Zweifel, daß sich Jesus in der Reihe der alttestamentlichen Propheten sieht und sich zu dieser Zugehörigkeit auch in aller Form bekennt; so in dem im Sinne weisheitlicher Tradition stilisierten Spruch:

Jerusalem, Jerusalem, du mordest die Propheten und steinigst die zu dir Gesandten. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich versammeln, so wie eine Henne ihre Jungen unter ihre Flügel nimmt. Ihr aber habt nicht gewollt! (Lk 13,34)59

Gleichzeitig führt er in dieser Tradition jedoch die einschneidende Innovation dadurch herbei, daß er das gerade auch von den Propheten entworfene ambivalente Gottesbild im Sinn alternativeloser Eindeutigkeit korrigiert. Daher die ersatzlose Streichung des „Tags der Rache“ in dem Jesajawort, das er in der Synagoge von Nazaret auf sich bezieht und damit die von Begeisterung in Haß umschlagende Reaktion seiner Zuhörer auslöst (Lk 4,19; Jes 61,2)60. Und daher dann auch der Hinweis auf sein therapeutisches Wirken, mit dem er die Anfrage des Täufers nach dem „Kommenden“ beantwortet und sich dadurch von dessen Gerichtsankündigung distanziert (Lk 7,18 – 23)61. Jesus wahrt mit dieser Äußerung die von ihm aufgenommene Tradition, indem er, gestützt auf sein Gottesverhältnis, mit ihr bricht.

Diesen Bruch konnte er jedoch nur wagen, weil er sich in ein mit dem Selbstbewußtsein Israels als „Sohn“ konkurrierendes und es zugleich überbietendes Intimverhältnis zu seinem Gott aufgenommen wußte. In dieser Frage steht somit das Individuum gegen das Kollektiv. Jesus stellt sich mit seinem Anspruch über den seines Volkes. Damit schließt er sich in der Reihe der Propheten dem ihm auch lebensgeschichtlich am nächsten stehenden Propheten Jeremia an62. Gleich diesem war ihm das Wort des Vaters, vor allem in dessen bestätigendem Zuspruch (Mk 1,11; Joh 12,27ff), „Wonne und Herzensfreude“ (Jer 15,16). Gleich ihm durchmaß sein Gottesverhältnis aber auch die Abgründe verzweifelter Herzensnot (Jer 10,7ff; Mk 14,36). Vor allem aber verbindet ihn mit Jeremia die sprachliche Inversion, aufgrund derer die im Regelfall der Weltorientierung dienende Sprache im Gegensinn und damit als Medium der Selbstaussage verwendet werden konnte63. In diesem konfessorischen Sinn zu reden, hat aber zur unerläßlichen Voraussetzung, daß der Sprecher sich seiner Individualität und individuellen Kompetenz bewußt wurde. Im Bewußtsein dieser Kompetenz nimmt Jesus für sich in Anspruch, das auszutragen, was zuvor die Aufgabe seines ganzen Volkes war. Stärkster Beweis dessen ist seine Selbstbezeichnung als Menschensohn. Denn sie hat zur Voraussetzung, daß er sich mit der (nach Dan 7,14) vor dem Thron Gottes stehenden Himmelsgestalt identifizierte, der es aufgegeben war, das Gottesreich herbeizuführen. Auf das Ereignis dieser Identifikation läßt der zwischen „ich“ und „Menschensohn“ oszillierende Ausspruch schließen, der entstehungsgeschichtlich in der Nähe des Tauferlebnisses Jesus anzusetzen ist:

Wer sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln Gottes bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den wird auch der Menschensohn vor den Engeln Gottes verleugnen (Lk 12,8f)64.

Aufgrund dieser Identifikation fiel die Aufgabe des Menschensohnes, dem Gottesreich zum Durchbruch zu verhelfen, in die Hand Jesu. Mit seiner Ernennung zum Gottessohn durch den Anruf der Himmelsstimme (Mk 1,11) aber übernahm er definitiv die Position des Gottesvolkes, die in ihm eine von dessen Gesamtbewußtsein nie erreichte Integration erfuhr. Er selbst war, was alttestamentlich nur dem ganzen Volk durch das Hoseawort (Hos 11,1) zuerkannt worden war. Doch damit war dann auch schon sein Mittlertum in die in ihm ebenso gelebte wie getätigte Unmittelbarkeit aufgehoben. Wenn dies gefolgert werden kann, ist die von Rosenzweig angenommene Diastase überwunden und der Weg zu einer genuin christlichen Interpretation der Gotteskindschaft frei. Freilich ist dann aber auch schon über den Weg dieser Deutung entschieden. Er muß, wenn irgendwo, dann dort seinen Ausgang nehmen, wo die Unmittelbarkeit zentriert ist. Bei diesem „gewaltigsten Beter der Geschichte“ (Wernle) ist das aber nirgendwo mehr der Fall als in seinem Gebet, wie es geradezu paradigmatisch in seinem Jubelruf (Lk 10,21f) zum Ausdruck kommt65. Denn Jesus besitzt nichts, was er nicht den Seinen übereignen würde. Auch in dieser Sicht strebt die jüdisch-christliche Alternative auf eine übergreifende Einheit hin.

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