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2. Der ikonographische Weg

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Die Sprache der Bibel neigt dazu, die bildhafte Komponente ihrer Aussagen hervorzuheben, sofern diese nicht sogar bildhaft konzipiert sind. In höchster Steigerung gilt das von der Sprache Jesu, der seine in den Bildbegriff vom Gottesreich gefaßte Botschaft vorzugsweise in Bildworten und Gleichnissen vortrug. Es gilt aber kaum weniger – trotz des von ihm verhängten Bilderverbots (Dt 5,8f) – vom Alten Testament. Eindrucksvolles und zugleich einschlägiges Beispiel dessen ist die erotisch-dramatische Darstellung der Geschichte Israels im Buch Ezechiel (Ez 16,1– 43). Danach erblickte Jahwe das nackt und blutüberströmt in der Wüste liegende Kind und sagte zu ihm: „Bleibe am Leben und wachse heran wie die Blume des Feldes!“ (16,6f). Als für das heranwachsende Mädchen die Zeit der Liebe gekommen war, kleidete es sein göttlicher Bräutigam in bunte Gewänder, umhüllte es mit Seide und schmückte es mit Spangen, Ringen und einer herrlichen Krone, so daß der Ruhm seiner Schönheit zu allen Völkern drang. Doch die undankbare Braut vergalt die ihr erwiesene Liebe mit Untreue, indem sie sich den Vorübergehenden preisgab, ja sogar ihre Kinder den Götzen opferte und nicht mehr an die Tage ihrer Jugend dachte, als sie noch nackt in ihrem Blut lag (16,7– 22).

Unübersehbar kündet sich aus neutestamentlicher Sicht am Beginn dieser Bildgeschichte die Lebensgeschichte dessen an, von dem das Lukasevangelium berichtet, daß er im Verlauf seiner Kindheit heranwuchs, zur Weisheit gelangte und Gefallen bei Gott und den Menschen fand (Lk 2,52)27. Darauf bezieht sich die Schlüsselstelle aus dem Hoheliedkommentar des Gregor von Nyssa, die von dem Heranwachsen des „uns eingeborenen“ Kindes an Alter, Weisheit und Gnade spricht und damit die Brücke zum Motiv der Gotteskindschaft schlägt. Davon ging ein besonderer Reiz auf die darstellende Kunst aus, die sich, zusammen mit der Passionsgeschichte, insbesondere der lukanischen Kindheitsberichte, angefangen von der Verkündigung und Geburt bis zum Tempelbesuch des Zwölfjährigen, annahm28. In schroffem Gegensatz zur Überfülle dieser Darstellungen wurde die Gotteskindschaft zunächst aber nicht zum Thema der Kunst, obwohl das Wort von seiner Symbolik her geradezu darauf drängte.

Dafür schlug erst die Stunde, als sich die Aufklärung und in ihrem Gefolge die durch Hegel in Philosophie aufgehobene Theologie als Einlösung des von Joachim von Fiore angekündigten dritten Zeitalters des Geistes begriff und dieses Bewußtsein auf die darstellende Kunst durchschlug. Überragendes Dokument dieses Durch- und Aufbruchs ist der von Philipp Otto Runge Ende 1802 in Angriff genommene, vielfach umgestaltete, zuletzt sogar als architektonisches Gesamtkunstwerk konzipierte und wegen seines frühen Todes schließlich doch unvollendet gebliebene Tagzeiten-Zyklus29. Daß Runge dem Drei-Reiche-Konzept Joachims als vierte „Zeit“ die Nacht hinzufügt, erklärt sich fraglos aus der Wende, die Hölderlin tendenziell und die Novalis definitiv in seinen „Hymnen an die Nacht“, stellvertretend für die ganze Romantik, vollzogen. Dort erklärte dieser mit großer Betonung:

Abwärts wend ich mich

zu der heiligen, unaussprechlichen

geheimnisvollen Nacht30.

Seinen Gipfel erreicht der Zyklus in dem in zwei Fassungen nahezu vollendeten „Morgen“, mit dem von drei, vom Künstler auf die Trinität bezogenen Genien umschwebten Morgenstern, der wohl als der (nach 2Petr 1,19) beim Anbruch des großen Gottestages in den Herzen aufgehende „Morgenstern“ zu verstehen ist. Er setzt sich fort in die den Tagesanbruch symbolisierende Lichtlilie und in die aus der Tiefe des Universums hervortretende – offensichtlich auf Botticellis „Geburt der Venus“ anspielende – Aurora, die Runge selbst als Venus bezeichnete, während sein Bruder Daniel in ihr die „Gnadenmutter Maria“ erkennen wollte. Im Vordergrund erblickt das nackt auf einer taufrischen Wiese liegende und von rosenstreuenden Genien umhegte Kind in dem von Runge hervorgehobenen Sinn „das Licht der Welt“, während es mit ausgebreiteten Armen den aufgehenden Tag begrüßt. Von dem von der Aurora entfachten Licht beglänzt, zieht es alle Blicke auf sich, damit aber auch die Frage, was es zu bedeuten und in seiner Sprachlosigkeit zu sagen hat.

Darauf antwortet Runge selbst mit der Absicht, „die Kunst auf den Punkt zurückzuführen, oder von da aus eine Kunst zu begründen, worauf der Grund der ganzen Welt steht“ und den er in der Schwebe zwischen der Kälte des Objektiven und der Hitze des Subjektiven zu erreichen hoffe. Wie er Clemens Brentano schreibt, geht es ihm dabei um den an Kleist erinnernden Versuch, „das verlorne Paradies aus seiner Notwendigkeit zu konstruieren“. Das aber ist nach Kleist gleichbedeutend mit der Suche nach der verlorenen und nur auf dem Umweg der Reise um die Welt wiederzugewinnenden Naivität. Sie stellt sich ein in der Figur des Kindes, das in seiner Anfänglichkeit die auf es einströmende Licht-Welt umarmt. Denn das Paradies, das Runge in ihm beschwört, liegt nach seiner Überzeugung „inwendig in uns“. In ihm spiegelt sich die menschliche Sehnsucht nach der Einheit von „Ruhe und Bewegung“, von Ursprünglichkeit und Vollendung oder, kürzer ausgedrückt, nach dem Sinn des Daseins31.

Nietzsche hätte zweifellos in diesem das Licht der Welt erblickenden Kind die Figur seines aus der Aufhebung des Kamels in den Löwen und aus dessen Aufhebung hervorgegangenen Weltkindes erkannt. Doch der von der Denkweise Jakob Böhmes und dessen „Aurora oder die Morgenröte“ inspirierte Runge wird darin nach Jörg Traeger, ungleich authentischer, eine Konfiguration des „Erwachens Christi in der Seele“ gesehen haben32. Beglaubigt wird diese Deutung durch Runges Geständnis, daß ihm seine Zeit „wie ein Berg auf dem Herzen“ liege, da sie dem Zweifel an Gott und zugleich der Furcht vor ihm verfallen sei und deshalb die „durch Jesus Christus in die Welt gekommene Liebe“, die die Menschenherzen zu „hellen Flammen entzünden“ würde, nicht zu erkennen und für ihr Leben fruchtbar zu machen wisse33.

Mit dieser an Aktualität kaum zu überbietenden Zeitkritik erschließt Runge zugleich die mit der Figur des Kindes gemeinte Sinnmitte seines „Morgen“. Wenn dieses Werk nicht nur sein Welt- und Zeitverständnis, sondern mehr noch sein religiöses Sinnziel zum Ausdruck bringt, spricht es von der Frucht der durch Jesus erschlossenen und der Welt zugewandten Liebe. Von ihr versichert die emphatische Stelle des Ersten Johannesbriefs, daß wir durch sie nicht nur Kinder Gottes heißen, sondern sind (1 Joh 3,1). Wenn diese Deutung, auf die sämtliche Hinweise hinführen, angenommen werden darf, ist das Kind auf Runges „Morgen“ die gesuchte Ikone der Gotteskindschaft. Dann müßten im Zug des Enthellenisierungsprozesses und seiner Begleittendenzen zuerst die ihr entgegenstehenden Hemmnisse abgebaut und im Anschluß an den von Theodor Steinbüchel thematisierten „Umbruch des Denkens“ die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen geschaffen werden, damit dem Motiv die ihm zukommende Gewichtung entgegengebracht und ihm die Möglichkeit geboten wird, für sich selbst, wie es seinem Rang entspricht, einzustehen. Das aber konnte nicht überzeugender als dadurch geschehen, daß es so zum Vorschein gebracht wurde, wie es sich in Runges Werk darstellt, um nicht zu sagen, ereignet.

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