Читать книгу Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl - Florian Aigner - Страница 12
Das, was anders nicht gedacht werden kann
ОглавлениеNatürlich gibt es auch in anderen Wissenschaften Erkenntnisse, die als absolut zuverlässig gelten. Was man aus dem Fenster wirft, wird von der Schwerkraft nach unten gezogen. Sauerstoff ist für Säugetiere unverzichtbar. Heizöl ist als Hundenahrung ungeeignet. Solche Aussagen können wir nicht ernsthaft anzweifeln. Und wenn doch, dann sollten wir uns zumindest nicht darüber wundern, wenn uns der Nachbar nicht erlaubt, auf seinen Hund aufzupassen.
Doch nur in der Mathematik können wir völlige logische Klarheit erwarten. Wenn zwei Leute zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen, dann ist irgendetwas falsch. Wenn drei plus acht zwölf ist, dann kann drei plus acht nicht sechzehn sein. Eventuell ist sogar mehr als nur ein Fehler passiert.
Wir irren uns, wir verrechnen uns, wir stolpern über unsere eigenen Gedanken. Aber unser Denken lässt sich von den Gesetzen der Logik nicht lösen: Wenn ich jeden zweiten Tag die Blumen gießen muss und gestern die Blumen nicht gegossen habe, dann muss ich heute die Blumen gießen. Das ist logisch. Daran zu zweifeln ist gar nicht möglich, es gelingt uns nicht, diesen Zusammenhang anders zu denken.
Ich kann selbstverständlich die Annahmen hinterfragen, die hier getroffen wurden: Ich kann daran zweifeln, dass die Blumen jeden zweiten Tag gegossen werden müssen, ich kann vergessen haben, ob ich sie gestern gegossen habe, oder ich kann vielleicht in einem Anfall gröberer Geistesverwirrung völlig abstreiten, dass es Blumen überhaupt gibt. Doch wenn ich die Voraussetzungen als wahr akzeptiere, dann folgt daraus zwingend, dass die Blumen heute gegossen werden müssen – mit mathematischer Unanfechtbarkeit. Dagegen kann sich niemand wehren, wir können gar nicht zu einem anderen Schluss kommen.
Das ist bemerkenswert, denn in allen anderen Wissenschaften ist das anders. Wir schaffen es, uns eine Welt ohne Schwerkraft vorzustellen. Problemlos können wir darüber nachdenken, wie unangenehm der Alltag wohl wäre, wenn man sich ständig mit Haken am Boden verankern müsste, um nicht versehentlich ins leere Weltall davonzudriften. Wir können auch über ein Universum nachdenken, das ausschließlich aus negativ geladenen Teilchen besteht, die einander abstoßen. Unser gesamter Kosmos wäre bloß eine explodierende Wolke aus Einzelteilchen, die unaufhaltsam voneinander fortgetrieben werden, ohne jemals etwas Interessantes wie ein Molekül, einen Blumentopf oder einen Planeten hervorzubringen. Im Gegensatz dazu können wir uns aber kein Universum vorstellen, in dem zwei plus drei sieben ist, in dem jedes Dreieck vier Ecken hat oder in dem x genau dann größer als y ist, wenn y größer ist als x.
Wenn etwas mit sich selbst in Widersprüche gerät und logisch nicht erlaubt ist, dann ist es nicht nur in unserem Universum unmöglich, es kann nicht einmal in unserem Denken Gestalt annehmen. Man könnte das sogar als Definition der Mathematik betrachten: Mathematik untersucht, was sich alles denken lässt. Nicht alles, was die Mathematik als möglich erweist, ist in unserer Welt auch tatsächlich der Fall. Doch was der Mathematik widerspricht, kann nicht wahr sein. Die Mathematik ist die Wissenschaft des Denkmöglichen.