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Axiome: Wo das richtige Denken beginnt
ОглавлениеDas macht die Mathematik zu einer wunderbar menschheitsverbindenden Sache: Es spielt keine Rolle, aus welchem Kulturkreis wir kommen. Es ist egal, welche politischen Ansichten wir haben, welche Sprache wir sprechen oder welche Schriftzeichen wir benutzen. Über mathematische Aussagen können wir uns einigen. Und aus jeder mathematischen Aussage lassen sich nach den Gesetzen der Mathematik wieder andere mathematische Aussagen ableiten, über die wir uns dann ebenso einig sind. An verlässliche Wahrheiten können wir immer weitere verlässliche Wahrheiten anbinden, und so knüpfen wir Schritt für Schritt ein großes Netz an Wahrheiten, an denen niemand zweifeln kann.
Wenn wir das tun, müssen wir allerdings auch fragen: Woran ist das ganze Netz eigentlich befestigt? Welche Wahrheiten stehen ganz am Anfang? Gibt es Grundwahrheiten, auf die sich alles andere logisch zurückführen lässt? Kinder lernen das oft schon im Alter von zwei oder drei Jahren: Man kann immer „Warum?“ fragen und für die Begründung dann wieder eine Begründung fordern: Warum darf der Hamster nicht mit in die Badewanne? Warum kann er ertrinken? Warum ist es schlimm, wenn sich die Hamsterlunge mit Wasser füllt? Warum braucht der Hamster Sauerstoff? Irgendwann muss diese Fragenkette enden, irgendwann geben selbst die geduldigsten Eltern auf und sagen: Das musst du mir jetzt einfach glauben, das ist einfach so.
In der Wissenschaft ist das ähnlich. Wir führen unsere Erkenntnisse auf Grundannahmen zurück, die sich irgendwann nicht weiter begründen lassen – oft nennt man sie „Axiome“. Ein gutes Axiom ist so klar und einfach, dass es jeder als Wahrheit akzeptieren wird. Wenn niemand mehr das Bedürfnis verspürt, „Warum?“ zu fragen, weil man bei etwas offensichtlich Wahrem angekommen ist, dann hat man ein solides Fundament gefunden, auf dem man weitere Argumente aufbauen kann.
Solche Axiome, solche verlässlichen Grundwahrheiten, spielen in der Mathematik eine besonders wichtige Rolle. Eines der bedeutendsten Werke der gesamten Wissenschaftsgeschichte schrieb der griechische Mathematiker Euklid um das Jahr 300 v. Chr. – die Elemente. Euklid wollte das damalige Wissen über Geometrie und Zahlenkunde in eine schlüssige, logische Form bringen. Seither haben sich fast alle Aspekte des menschlichen Lebens verändert. Über Politik, über Moral oder über den Aufbau des Universums denken wir heute völlig anders als die Menschen zu Euklids Zeiten. Aber die Wahrheiten über Punkte, Linien, Kreise oder Dreiecke, die Euklid in den Elementen zusammenfasste, gelten heute noch genauso wie damals. Sie sind unveränderlich wahr – auch wenn andere Leute seither noch auf andere, kompliziertere Wahrheiten gestoßen sind.
So wie man beim Hausbauen damit beginnt, ein solides Fundament zu errichten, fängt Euklid in seinen Elementen zunächst mit den wichtigen Definitionen und Axiomen an: Eine Linie ist eine Länge ohne Breite. Alle rechten Winkel sind gleich groß. Von jedem Punkt kann man zu jedem anderen Punkt eine Linie ziehen. Das erscheint alles so klar, dass es keine weitere Begründung benötigt. Und diese fundamentalen Grundsätze benutzt Euklid dann, um Schritt für Schritt eine Geometrie zu entwickeln: Er erklärt, wie man ein gleichseitiges Dreieck konstruiert. Er beschreibt, wie man Winkel oder Strecken halbiert. Er beweist, dass in jedem Dreieck die längste Seite dem größten Winkel gegenüberliegt.
So schrieb Euklid ein Werk mit fast poetischem Zauber. Die Reihenfolge der Beweise ist klug durchdacht, sodass Euklid in jedem Schritt ausschließlich auf Erkenntnisse zurückgreift, die er vorher schon präsentiert hat. Wie man beim Hausbauen eine Ziegelreihe auf die andere schichtet, fügt Euklid Satz auf Satz, bis eine kunstvolle Struktur aus unbestreitbaren mathematischen Wahrheiten entsteht.
Die allerersten Aussagen erscheinen vielleicht simpel und nicht besonders nützlich. Die banale Feststellung, dass man zwei Punkte mit einer Linie verbinden kann, gibt uns noch nicht das Gefühl, wirklich etwas Neues gelernt zu haben. Doch mit wenigen Schritten gelingt es Euklid, solche einfachen Grundwahrheiten zu wichtigen Lehrsätzen zusammenzufügen, die wir aus der Schule kennen, etwa den Satz des Pythagoras. Bis in die Neuzeit blieben Euklids Elemente das wichtigste und meistverbreitete wissenschaftliche Lehrbuch der Welt.