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WISSENSCHAFT ODER BAUCHGEFÜHL?

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Warum wir uns auf unsere Intuition nicht verlassen können, warum man als vernünftiger Mensch möglicherweise aufgefressen wird und warum sich gerade die Ahnungslosesten für die Allerklügsten halten: Wir müssen zwischen Bauchgefühl und Wissenschaft unterscheiden, sonst können wir nicht vernünftig miteinander diskutieren.


Jede folgenschwere Dummheit, jeder historische Irrtum, jede schreckliche Fehleinschätzung begann eines Tages als kleine Idee, die irgendjemand gar nicht so übel fand. Je mehr wir denken, umso mehr Denkfehler sind denkbar. Der Gedanke, dass wir uns auf unser Gehirn verlassen können, kann nur in unserem Gehirn entstanden sein.

Vielleicht sollten wir lieber auf unser Bauchgefühl vertrauen? Wer von uns wurde jemals von einer Bauchspeicheldrüse angelogen? Eben. Kein Wunder, dass sich viele Leute lieber auf das Herz verlassen, auf die Intuition oder auf das Solarplexuschakra, aber lieber nicht auf den Verstand.

Oft ist das auch gar nicht so dumm. Unser Bauchgefühl ist nämlich eine großartige Sache. Wir müssen mit dem neuen Kollegen nur ein paar Minuten plaudern, um ein recht verlässliches Bauchgefühl dafür zu entwickeln, ob wir Spaß daran haben werden, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wir kosten die Suppe und erkennen ganz ohne biochemische Messgeräte, dass sie mit etwas mehr Petersilie wohl noch besser schmecken würde. Wir brauchen keine mathematischen Formeln, um mit akzeptabler Genauigkeit vorherzusagen, ob sich die Tante am Geburtstag über ein Quantenphysik-Lehrbuch freuen würde oder eher nicht.

Unsere täglichen Entscheidungen treffen wir nicht, indem wir alle Fakten auflisten, übersichtlich sortieren und rational abwägen, sondern indem wir unser lückenhaftes Halbwissen zu einer fragwürdigen Brühe verrühren und auf recht undurchsichtige Weise eine Meinung daraus hervorziehen. Erstaunlicherweise liegen wir damit ziemlich oft richtig.

Ähnlich wie unser rationaler Verstand ist auch das Bauchgefühl eine Form von Intelligenz. Es ist ein grandioser Mechanismus, mit dem es uns Tag für Tag gelingt, mit ziemlich wenig Information in ziemlich kurzer Zeit ziemlich gute Entscheidungen zu treffen.

Dafür hat die Evolution gesorgt: Über viele Tausend Generationen hinweg hatten unsere Vorfahren dann eine höhere Überlebenschance, wenn sie die vielen verwirrenden Fakten, die ihnen das Leben Tag für Tag an den Kopf warf, ganz intuitiv auf einigermaßen sinnvolle Weise verarbeiten konnten. Wissenschaftliche Präzision hingegen war in unserer Evolutionsgeschichte meistens ziemlich nutzlos.

Stellen wir uns vor, wie vor Hunderttausenden Jahren ein Rudel unserer entfernten Vorfahren nach langer Wanderung erschöpft unter den Bäumen saß. Plötzlich raschelt es im Gebüsch, eine hungrige Raubkatze springt hervor, packt einen von ihnen und nimmt ihn mit. Die anderen ziehen zitternd weiter, mit beißender Raubkatzenangst im Bauch. Am nächsten Tag suchen sie wieder Zuflucht im Wald, wieder hören sie ein verdächtiges Rascheln im Gebüsch. In Panik springen sie auf und laufen davon – ganz intuitiv, ohne viel nachzudenken.

„Immer mal langsam!“, würde ein urzeitlicher Wissenschaftler nun vielleicht warnen: „Bleibt doch erst mal sitzen, verlasst euch nicht bloß auf euer Bauchgefühl! Die Faktenlage ist extrem dünn, und auf einer einzelnen Beobachtung lässt sich keine verlässliche Theorie aufbauen. Bevor wir überstürzte Entscheidungen treffen, sollten wir anhand einer größeren Anzahl von Experimenten sorgfältig untersuchen, inwieweit tatsächlich ein statistisch nachweisbarer Zusammenhang zwischen dem Rascheln im Gebüsch und lebensbedrohlichen Raubkatzen nachweisbar ist!“

Kein Zweifel: Dieser frühzeitliche Naturwissenschaftler wurde aufgefressen. Seine Einwände waren vielleicht methodisch korrekt, aber praxistauglich waren sie nicht. Kein Wunder, dass uns die Evolution nicht auf ganz natürliche Weise mit der Fähigkeit zum wissenschaftlich präzisen Denken ausgestattet hat.


Wir sollten dankbar sein, dass wir ein gut entwickeltes Bauchgefühl haben, aber eines ist klar: Verlässlich ist es nicht – zumindest nicht immer. Unser Bauchgefühl schützt uns zwar davor, schlecht gelaunten Raubtieren in der Nase zu bohren. Aber es sagt uns auch, dass Alkohol Spaß macht und daher völlig ungefährlich ist, dass die Jugend immer dümmer und respektloser wird und dass beim Roulette ganz sicher Rot kommen muss, wenn fünfmal hintereinander Schwarz an der Reihe war. Manchmal ist unser Bauchgefühl ein ziemlicher Trottel.

Unsere Welt sieht heute ganz anders aus als zur Zeit unserer prähistorischen Vorfahren. Wir leben nicht mehr in überschaubaren Gruppen, wir sind eine weltweit vernetzte Gemeinschaft geworden. Wir fürchten uns nicht mehr vor Raubtieren, sondern vor abstrakten negativen Zahlen auf unserem Bankkonto. Wir forschen nicht mehr an den besten Methoden, ein Feuer zu entfachen, sondern an den kleinsten Bausteinen der Materie, an den molekularbiologischen Eigenschaften unseres Körpers und an den größten Strukturen des Kosmos.

Wir stellen heute Fragen, auf die unsere Vorfahren nicht in ihren verrücktesten Träumen gekommen wären. Unsere Gene, unsere angeborenen Fähigkeiten und unser Bauchgefühl wurden aber an die Welt unserer prähistorischen Vorfahren angepasst. Wir haben gerade erst ein paar Jahrtausende Kulturgeschichte hinter uns – auf einer evolutionsbiologischen Zeitskala ist das lächerlich wenig. Wir dürfen uns daher nicht wundern, dass unser Bauchgefühl für eine atemberaubend komplexe Welt, die wir uns mithilfe von Kultur, Technik und Wissenschaft gestaltet haben, nicht mehr ausreicht.

Das ist nicht schlimm. Wir Menschen finden immer wieder Strategien, über unsere natürlich angeborenen Möglichkeiten hinauszuwachsen. Wir können mit bloßen Händen keine Armbanduhr reparieren, wir können nicht einfach mit dem ausgestreckten Zeigefinger eine Knieoperation durchführen, und durch Hautkontakt auszuprobieren, ob ein Stück Draht an den Stromkreis angeschlossen wurde, ist auch keine gute Idee. Deshalb haben wir für solche Aufgaben nützliche Werkzeuge entwickelt.

Dasselbe gilt für unser Bauchgefühl. Es ist völlig ungeeignet, um die Wirksamkeit eines Medikaments zu beurteilen. Dafür gibt es andere Methoden, zum Beispiel klinische Studien. Das Bauchgefühl hilft uns nicht, die Geheimnisse des Universums zu verstehen, dafür brauchen wir Teleskope und mathematische Formeln. Ob es am Nachmittag regnen wird, können wir manchmal vielleicht intuitiv vorhersagen. Aber meteorologische Simulationsrechnungen haben trotzdem eine höhere Trefferquote.

In vielen Situationen brauchen wir ein höheres Maß an Zuverlässigkeit, als das Bauchgefühl uns bieten kann. Und genau dafür haben wir die Wissenschaft entwickelt. So wie die Arbeit unserer Finger präziser wird, wenn wir Pinzetten verwenden, wird unsere geistige Arbeit präziser, wenn wir uns die Wissenschaft zunutze machen.

Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl

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