Читать книгу Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl - Florian Aigner - Страница 16
Das unendliche Hotel
ОглавлениеEin bisschen besser verstehen kann man Cantors Schwierigkeiten mithilfe eines Gedankenspiels, das unter dem Namen „Hilberts Hotel“ berühmt geworden ist. Stellen wir uns vor, wir führen ein Hotel mit unendlich vielen Zimmern. Das Hotel ist voll ausgebucht, in jedem Zimmer liegt ein Gast. Wir nehmen unendlich viel Geld ein, dafür müssen wir morgens auch unendlich viele Betten machen. Nun treffen aber noch zehn weitere Gäste ein, die gerne ein Zimmer hätten. Was können wir tun?
Ganz einfach: Wir bitten den Gast in Zimmer 1, ins Zimmer 11 zu übersiedeln. Der Gast aus Zimmer 2 kommt ins Zimmer 12, Gast 3 ins Zimmer 13 und so weiter. Danach hat jeder der unendlich vielen Gäste wieder ein Zimmer, aber die Zimmer 1 bis 10 sind frei für die neu angekommenen Gäste.
Das bedeutet also: Unendlich plus 10 ist immer noch unendlich – und zwar genau dieselbe Sorte von unendlich wie vorher. Genau auf diese Weise definierte Cantor, was es bedeutet, wenn man von „gleich großen Mengen“ spricht: Zwei Mengen sind genau dann gleich groß, wenn man immer jeweils ein Element der einen Menge und ein Element der anderen Menge zu Paaren zusammenfügen kann, sodass am Ende in keiner der beiden Mengen ein Element partnerlos übrig bleibt.
Bei nicht-unendlichen Mengen ist das offensichtlich richtig. Wenn ich fünf Katzen und fünf Schalen Katzenfutter habe, kann ich beweisen, dass die Katzenmenge und die Futterschalenmenge gleich groß sind, indem ich jeder Katze eine Futterschale zuteile. Am Ende sind alle Katzen satt und alle Futterschalen leergefressen. Bei unendlichen Mengen – wie bei den Zimmern und Gästen in Hilberts Hotel – ist das weniger selbstverständlich, aber die Sache funktioniert grundsätzlich genauso.
Wenn in Hilberts Hotel nicht zehn neue Gäste ankommen, sondern tausend oder eine Milliarde, ändert das natürlich nichts. Man kann auch sie mit demselben Trick unterbringen. Aber was können wir tun, wenn unendlich viele zusätzliche Gäste vor der Tür stehen? Nehmen wir an, es gibt nebenan noch ein zweites unendliches Hotel, das wegen eines unendlich schwerwiegenden Wasserrohrbruchs kurzfristig schließen muss. Nun suchen die unendlich vielen Gäste dieses Hotels Unterschlupf bei uns.
Auch das ist kein Problem: Wir müssen nur Gast 1 ins Zimmer 2 übersiedeln, Gast 2 ins Zimmer 4 und Gast 3 ins Zimmer 6. Jeder kommt in das Zimmer, das dem Doppelten seiner bisherigen Zimmernummer entspricht. Danach sind alle Zimmer mit gerader Zimmernummer belegt, alle ungeraden Zimmer hingegen sind frei – und das sind unendlich viele. Die unendlich vielen Zusatzgäste finden dort ebenfalls Platz. Das zeigt uns: Unendlich plus unendlich ist wieder dieselbe Art von unendlich. Oder anders gesagt: Es gibt genauso viele ganze Zahlen wie es gerade Zahlen gibt. Das ist seltsam – unser Bauchgefühl kommt nicht wirklich damit zurecht, dass die Hälfte von etwas genauso groß sein soll wie das Ganze. Aber wenn man das aus den Grundregeln der Mengenlehre so ableiten kann, dann hat das Bauchgefühl eben verloren.
Wer an diesem Punkt noch immer nicht verwirrt ist, kann aber noch einen entscheidenden Schritt weitergehen: Stellen wir uns vor, das Hotel ist leer, und wieder kommen unendlich viele Gäste. Doch diesmal sind sie nicht mit ganzen Zahlen nummeriert wie vorher, sondern mit allen möglichen reellen Zahlen zwischen null und eins. Unendlich viele Nachkommastellen sind erlaubt. Nun fällt uns keine elegante Lösung mehr ein, wie wir diese Gäste in eine sinnvolle Reihenfolge bringen können. Nun gut – es gibt einen Gast mit der Nummer null, also null komma null null null, mit unendlich vielen Nullen hinter dem Komma. Das ist der Erste, den können wir ins Zimmer 1 schicken. Aber wer kommt dann? Es gibt keine nächstkleinste Zahl nach der Null.
Wir seufzen und rufen in die unendliche Menge wartender Gäste: Es ist uns egal, in welcher Reihenfolge ihr euch anordnet – sucht euch doch selbst ein Zimmer aus! Die Gäste stürmen los, und tatsächlich ist das Hotel bald vollständig belegt. Doch hat man dabei alle Gäste erfolgreich untergebracht? Nein! Und das konnte Georg Cantor mit einem genialen Argument beweisen.
Egal, wie sich die Gäste im Hotel angeordnet haben, wir können immer eine Zahl ermitteln, die garantiert keinen Platz im Hotel gefunden hat. Das funktioniert so: Wir gehen der Reihe nach von Zimmer zu Zimmer. Dabei notieren wir die erste Nachkommastelle des Gastes aus Zimmer 1, die zweite Nachkommastelle des Gastes aus Zimmer 2 und so weiter. Auf diese Weise konstruieren wir uns eine unendlich lange Ziffernfolge – und null komma diese Ziffernfolge ist wieder eine Zahl, die zu irgendeinem der Gäste gehören muss.
Doch nun kommt Cantors entscheidender Trick: Wir verändern unsere Ziffernfolge an jeder einzelnen Stelle. Wir können zum Beispiel an jeder Stelle eins dazuzählen (und wenn eine Neun vorkommt, machen wir sie zur Null). Dann haben wir eine Ziffernfolge konstruiert, die sicher nicht der Ziffernfolge des ersten Gastes entspricht – denn von dem haben wir ja die erste Nachkommastelle übernommen und dann geändert. Unsere neue Zahl muss sich also auf jeden Fall in der ersten Nachkommastelle von der Zahl des Gastes in Zimmer 1 unterscheiden (und vermutlich auch noch in unendlich vielen anderen Stellen). Dasselbe gilt aber auch für alle anderen Zimmer: Unsere Zahl und die Zahl des Gastes in Zimmer 2 unterscheiden sich zumindest in der Nachkommastelle 2 und so weiter – in keinem der Zimmer ist ein Gast mit dieser Nummer. Das bedeutet, dass dieser Gast noch irgendwo außerhalb des Hotels steht und schimpft, weil er kein Zimmer bekommen hat.
Es gibt also keine Möglichkeit, restlos alle Zahlen zwischen null und eins eindeutig auf die Menge der natürlichen Zahlen abzubilden. Egal, welche Zuordnung man sich ausdenkt, man kann immer Zahlen finden, die nicht zugeordnet wurden – und zwar sogar unendlich viele. Das bedeutet, dass zwischen null und eins mehr reelle Zahlen liegen, als es natürliche Zahlen gibt. Beide Mengen sind unendlich, aber die Unendlichkeit der reellen Zahlen zwischen null und eins stellt sich als unvergleichlich viel größer heraus als die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen.
Hilberts Hotel kann uns ein Gefühl dafür geben, wie mächtig die mathematische Logik ist: Bei komplizierteren mathematischen Fragen passiert es leicht, dass sich unsere Intuition plötzlich grußlos verabschiedet und uns zitternd im Nebel stehen lässt. Das ist keine Schande, schließlich ging es sogar dem großen Georg Cantor anfangs so. Aber wenn man seine Gedanken gut sortiert und auf kluge Weise die richtigen Regeln anwendet, dann kann man auch Fragen mit überzeugender Klarheit beantworten, für die unser menschliches Gehirn eigentlich gar nicht gemacht ist.