Читать книгу Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl - Florian Aigner - Страница 8
Die Antwort ist – dreiundvierzig
ОглавлениеUnd plötzlich war es so weit. Eines Tages war es da, das Ergebnis, nach dem Einstein so lange gesucht hatte: dreiundvierzig. Um dreiundvierzig Bogensekunden verschiebt sich die Bahn des Merkurs pro Jahrhundert. Der Planet bewegt sich entlang einer Ellipse um die Sonne, aber die lange Achse dieser Ellipse wandert langsam um die Sonne herum, wie ein träger kosmischer Uhrzeiger – ein merkwürdiger Effekt, den Astronomen zwar schon lange beobachtet hatten, den aber bisher niemand erklären konnte. Mit Einsteins neuen Formeln ließ sich diese seltsame Unregelmäßigkeit der Merkurbahn zum ersten Mal berechnen. Und sein Ergebnis stimmte mit den Beobachtungen bestens überein.
Am 25. November 1915 veröffentlichte Albert Einstein die entscheidenden Formeln der allgemeinen Relativitätstheorie, die heute als „Einstein’sche Feldgleichungen“ weltberühmt sind. David Hilbert kam wenig später auf dasselbe Ergebnis – doch Einstein war schneller gewesen.
War Einsteins verrückte, bauchgefühlzerrüttende neue Theorie bewiesen, bestätigt und allgemein anerkannt? Natürlich nicht. Wer so haarsträubende Thesen aufstellt wie die von der gravitationsverbogenen vierdimensionalen Raumzeit, muss überzeugende Beweise vorlegen. Die Verschiebung der Merkurbahn zu berechnen ist ein Erfolg, genügt aber nicht.
Bald gab es aber eine interessante Möglichkeit, die Relativitätstheorie zu testen: Wenn wir einen Stern am Himmel sehen, dann bewegt sich sein Licht auf schnurgerader Bahn zu uns, bis es in unser Auge gelangt. Doch wenn sich knapp neben dieser geraden Linie etwas Großes, Schweres befindet, zum Beispiel unsere Sonne, dann sieht die Sache anders aus. Wenn die allgemeine Relativitätstheorie stimmt, dann wird durch die Sonne der Raum gekrümmt und der Lichtstrahl ein kleines bisschen verbogen. Das bedeutet, dass sich ein Stern, den wir am Himmel knapp neben der Sonne sehen, in Wirklichkeit in einer geringfügig anderen Richtung befindet, als es für uns den Anschein hat. Sternenkonstellationen, die sich knapp neben der Sonne befinden, sollten daher ein bisschen verbogen aussehen, verglichen mit dem unverbogenen Bild, das wir in der Nacht sehen können.
Das ist zwar eine schöne, einleuchtende, klare Vorhersage, aber es ist ziemlich schwierig, sie im Experiment präzise zu überprüfen. Tagsüber sind die Sterne kaum zu sehen. Die exakte Position von Sternen zu vermessen, die sich knapp neben der Sonnenscheibe befinden, ist genauso hoffnungslos, wie das schüchterne Fiepen einer Maus zu hören, während der Lärm eines Presslufthammers alles übertönt.
Doch durch einen erstaunlichen, glücklichen Umstand ließ sich dieses Problem lösen: Zufällig leben wir nämlich auf einem der ganz wenigen Planeten, auf dem eine totale Sonnenfinsternis möglich ist. Der Mond hat aus purem Zufall exakt die richtige Größe, um die Sonne vollständig zu verdecken, den Blick auf die Sterne knapp daneben aber freizulassen. Sollten physikinteressierte Außerirdische ebenfalls eine allgemeine Relativitätstheorie aufgestellt haben, grübeln sie vielleicht noch heute, wie sich Sternenlichtverbiegungen auf elegante Weise messen lassen. Auf der Erde musste man nur auf eine totale Sonnenfinsternis warten.
Und die kam im Jahr 1919. Der britische Astronom Arthur Stanley Eddington beschloss, der Sache mit den gekrümmten Lichtstrahlen auf den Grund zu gehen. Zwei Expeditionen wurden gestartet. Eddington selbst reiste zur Insel Principe im Golf von Guinea, ein anderes Team machte sich auf den Weg nach Brasilien. Am Tag der Sonnenfinsternis, als der Mond seinen Schatten um die halbe Erde, quer über Südamerika bis nach Afrika zog, fotografierte man sorgfältig die mondverdeckte Sonnenscheibe und die Sterne, deren Licht von der Sonne verbogen wurde. Die Genauigkeit dieser Messungen war beschränkt, doch nach sorgfältigen Analysen und Auswertungen verkündete Arthur Eddington ein positives Ergebnis: Die Sternbilder seien tatsächlich verzerrt, Einsteins allgemeine Relativitätstheorie war bestätigt.
Es war ein Triumph, wie er in der Wissenschaft nur selten vorkommt. Auf der ganzen Welt wurde davon berichtet: „Die Lichter am Himmel sind alle verschoben!“ titelte die New York Times am 10. November 1919. Von diesem Tag an war Einstein nicht mehr bloß ein großer Theoretiker, er wurde zum ersten Popstar der Wissenschaftsgeschichte.
Aus der Geschichte von der allgemeinen Relativitätstheorie kann man viel darüber lernen, wie Wissenschaft funktioniert: Zunächst muss jede neue naturwissenschaftliche Theorie zu den Ergebnissen passen, die bereits bekannt sind. Aber das genügt nicht. Sie muss darüber hinaus auch neue Aussagen über die Natur liefern, die man dann durch gezielte Beobachtung überprüfen kann. Wenn sich die Theorie immer wieder als nützlich erweist und die Ergebnisse von Messungen richtig vorhersagt, dann ist es klug, an sie zu glauben – selbst wenn sie seltsam klingt.
Außerdem lernen wir daraus, dass in der Wissenschaft nicht immer alles perfekt laufen muss: Auch die klügsten Menschen der Welt sind manchmal verzweifelt, weil die Mathematik zu kompliziert ist, veröffentlichen Ergebnisse, die sich später als falsch herausstellen, oder schwindeln ein bisschen, weil sie schneller ans Ziel kommen wollen als die Konkurrenz. Das sollten sie nicht – aber entscheidend ist, dass am Ende das Richtige herauskommt.
Die Geschichte von der allgemeinen Relativitätstheorie zeigt uns auch, dass man mit bloßer Intuition und Bauchgefühl in der Wissenschaft nicht weit kommt. Unser bauchgefühlter Alltagsverstand versagt jämmerlich, wenn es um komplizierte Physik geht. Was die Relativitätstheorie behauptet, erscheint auf den ersten Blick völlig verrückt: Raum und Zeit können sich verbiegen, und Lichtstrahlen, die sich durch das leere Nichts des Weltalls bewegen, werden plötzlich gekrümmt? Das klingt fast wie die Behauptung eines esoterischen Wunderheilers, der sich das falsche Räucherstäbchen angezündet hat. Sollen wir das tatsächlich glauben?
Ja, das sollten wir. Wissenschaftliche Wahrheiten hängen nicht davon ab, ob sie uns gefallen oder nicht. Niemand sagt, dass wissenschaftliche Theorien zu unserer Intuition passen müssen. Fakten sind Fakten. Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl.