Читать книгу Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl - Florian Aigner - Страница 17
Ramanujans Bauchgefühl für Mathematik
ОглавлениеWir können neue mathematische Wahrheiten finden, indem wir bereits bewiesene mathematische Sätze auf die richtige Weise ineinanderfügen wie perfekt geschliffene Zahnräder. Das bedeutet aber nicht, dass mathematische Forschung eine mechanische, maschinenhafte Arbeit ist wie das Zusammenschrauben eines Bücherregals nach einer präzise vorgegebenen Bauanleitung. Mathematische Gesetze sind leblos und unveränderlich – doch die mathematische Arbeit, sie zu entdecken, ist etwas zutiefst Kreatives und Lebendiges. Dafür braucht man Bauchgefühl und Intuition, einen Sinn für das Schöne und Klare, und manchmal vielleicht sogar ein kleines bisschen Verrücktheit.
Eine gewisse mathematische Intuition hat jeder von uns – zumindest im Umgang mit einfachen Zahlen. Vielleicht können wir nicht spontan sagen, wie viel achtundvierzig mal dreihundertzwölf ist, aber die Antwort ist nicht vier komma drei. Da sind wir ziemlich sicher. Wer beim Berechnen des Fliesenbedarfs für die Badezimmersanierung zum Ergebnis kommt, dass er zwölf Quadratkilometer Badezimmerfliesen einkaufen muss, hat sich verrechnet. Unser mathematisches Bauchgefühl sagt uns sofort, dass hier irgendetwas nicht stimmt.
Dass sich unser Bauchgefühl trainieren lässt, wissen wir: Wer viele Badezimmerflächeninhalte berechnet hat, kann das Ergebnis zuverlässiger einschätzen, als es ihm bei der ersten Berechnung dieser Art gelingt. Erstaunlich ist aber, dass manche Menschen sogar eine bauchgefühlte Intuition für mathematische Objekte entwickeln können, die mit unserer Alltagserfahrung überhaupt nichts zu tun haben.
Und so passiert es oft, dass mathematisch gebildete Leute über Dinge reden, die sich kein Mensch vorstellen kann, und trotzdem ganz spontan eine intuitive Meinung dazu haben. Wie viele fünfdimensionale Kugeln kann man im fünfdimensionalen Raum so aneinanderpacken, dass sie alle die Kugel in der Mitte berühren? Wenn die letzte Stelle einer Primzahl eine Sieben ist, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass bei der nächstgrößeren Primzahl wieder eine Sieben am Ende steht?
Mit ausreichend mathematischer Erfahrung kann man spüren, wie die Antwort aussehen könnte, man hat eine spontane Vermutung, wie sich eine Antwort finden ließe, man fühlt Verbindungen zu anderen mathematischen Fragen, die schon gelöst sind. Aber das genügt natürlich nicht. Auch das beste mathematische Bauchgefühl wird erst zur anerkannten Mathematik, wenn man eine Antwort kennt, die exakt bewiesen ist. Vermutungen sind zu wenig. Aber sie sind ein wichtiger Ausgangspunkt auf der Suche nach neuen mathematischen Wahrheiten.
So wie manchmal musikalische Wunderkinder geboren werden, die fast ohne Mühe ganz neue, atemberaubende Melodien aus dem Klavier hervorzaubern, gibt es ab und zu auch Menschen mit einer ganz besonderen Intuition für die Schönheiten der Mathematik. Einer von ihnen war Ramanujan, ein hochtalentierter Mann aus Südindien, mit der vielleicht seltsamsten Karriere, die ein Mathematiker jemals hatte.
Ramanujan (mit vollem Namen Srinivasa Ramanujan Aiyangar) wurde 1887 geboren. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Während sich in Europa große Mathematiker den Kopf über Unendlichkeiten zerbrachen, blätterte der junge Ramanujan in Mathematikbüchern, die für sein Alter eigentlich viel zu schwierig waren. Ganz allein erkundete er komplizierte mathematische Gesetze und verblüffte seine Lehrer mit neuen Formeln.
Für seine mathematischen Leistungen bekam er viel Lob und sogar ein Stipendium für ein angesehenes College. In anderen Fächern hingegen glänzte er nicht so sehr, daher verlor er sein Stipendium wieder und schaffte es auch nicht, an der Universität von Madras aufgenommen zu werden. Ramanujan hatte keinen höheren Bildungsabschluss, keinen festen Beruf und kaum Geld, doch die Mathematik ließ ihn nicht los. Er hörte nicht auf, seine Notizbücher mit immer neuen Formeln vollzuschreiben.
Eines Tages stieg Ramanujan in den Zug und machte sich auf den Weg in die Bezirkshauptstadt. In der Hoffnung, dort eine Arbeitsstelle zu bekommen, traf er den Finanzbeamten Ramaswami Iyer. Ramaswami Iyer interessierte sich sehr für Mathematik und hatte selbst kurz vorher die Indian Mathematical Society gegründet. Ihm legte Ramanujan nun seine mathematischen Notizbücher vor, und Ramaswami Iyer war beeindruckt. Eine Anstellung wollte er dem jungen Ramanujan allerdings nicht verschaffen: „Mir kam es nicht in den Sinn, sein Talent durch eine Anstellung auf der untersten Sprosse der Finanzabteilung zu unterdrücken“, schrieb Ramaswami Iyer später. Stattdessen schickte er ihn mit Empfehlungsschreiben weiter zu einflussreicheren Leuten.
Eigentlich strebte Ramanujan ein größeres Ziel an: Er wollte seine Formeln den berühmtesten Mathematikern seiner Zeit präsentieren und sie in wissenschaftlichen Journalen veröffentlichen. Und so schickte er Briefe an Professoren in London und Cambridge. Seite für Seite listete er einige seiner schönsten Resultate auf: unendliche Summen, komplizierte Integrale mit merkwürdigen Lösungen, sperrige Formeln mit einer seltsamen inneren Symmetrie. Einer dieser Briefe ging an Godfrey Harold Hardy, einen berühmten Mathematiker am Trinity College der Universität Cambridge. Hardy war verblüfft: Nur ein Mathematiker allerhöchsten Ranges konnte das geschrieben haben, das wurde ihm rasch klar. Und gerade weil die Formeln so merkwürdig erschienen, war er überzeugt, dass sie stimmten: Wären sie nicht richtig, hätte niemand die Fantasie besessen, sie zu erfinden.
Es gab nur ein großes Problem an den wundersamen Formeln: Ramanujan hatte keine Beweise geliefert, er hatte nur die Endergebnisse aufgeschrieben. Er dachte über mathematische Gleichungen nach, wie ein Komponist schöne neue Melodien erfindet: Sie flogen ihm ganz einfach zu. Ihm kam es auf die Resultate an, der Weg dorthin erschien ihm unwichtig. Doch in der Mathematik will man sich nicht bloß an einer hübschen Formel erfreuen, man braucht einen unanfechtbaren Beweis, einen klaren Weg, der Schritt für Schritt von bereits bekannten Tatsachen zu den neuen Ergebnissen führt.
Auch wenn Godfrey Harold Hardy in Cambridge Ramanujans Resultate spannend und aufregend fand, für sich allein genommen waren sie ähnlich unbefriedigend wie eine Schatzkarte, auf der bloß steht: „Zwölf Schritte südwestlich von der größten Palme ist eine Kiste voller Gold vergraben.“ Das mag verheißungsvoll klingen – aber solange man nicht Schritt für Schritt erklären kann, wie man von bereits bekanntem Gelände zu dieser Palme gelangt, ist die Schatzkarte ziemlich nutzlos.
Hardy beschloss, Ramanujan nach Cambridge einzuladen. 1914 machte sich der junge Inder auf den Weg nach England, mit seinen Notizbüchern im Gepäck. Wie sich herausstellte, waren manche von Ramanujans Formeln falsch, andere waren zwar richtig, aber bereits bekannt – es handelte sich teilweise um Ergebnisse, die große Mathematiker wie Leonhard Euler oder Carl Friedrich Gauß bereits veröffentlicht hatten. Aber bei vielen Formeln handelte es sich tatsächlich um bemerkenswerte neue Wahrheiten.
Für Hardy und andere Mathematiker in Cambridge bestand kein Zweifel, dass sie es mit einem Talent zu tun hatten, wie es in der Geschichte der Mathematik noch nicht oft vorgekommen war. Aber um aus Ramanujans Intuition echte mathematische Forschung werden zu lassen, mussten sie ihm die strengen Regeln mathematischer Beweisführung beibringen. Für Ramanujan war es schwierig, seine Gedankensprünge zu zügeln und in geordneter Form aufs Papier zu bringen. Jede ganze Zahl war für ihn wie ein persönlicher Freund, sagte man in Cambridge.
Hardy erzählte später, dass er eines Tages mit einem Taxi zu einem Treffen mit Ramanujan gefahren war. Er hatte über die Nummer des Taxis nachgegrübelt: 1729. Leider eine sehr langweilige, nichtssagende Zahl, fand Hardy. Doch Ramanujan widersprach: „Es ist eine sehr interessante Zahl! Es ist die kleinste Zahl, die man auf zwei verschiedene Weisen als Summe zweier Kubikzahlen ausdrücken kann.“ Tatsächlich ist 1792 sowohl die Summe aus 13 und 123 als auch das Ergebnis von 93 + 103. Nachprüfen konnte man das leicht. Aber nur einem Genie wie Ramanujan fliegen solche Gedanken scheinbar ohne jede Mühe zu.
Unter Hardys Anleitung gelang es Ramanujan im Lauf der Zeit, eine Reihe wichtiger Ideen in eine mathematisch klare Form zu bringen, die auch für andere Leute verständlich war. Sein Traum, seine Resultate in wissenschaftlichen Journalen zu publizieren, erfüllte sich. Akademische Ehrungen folgten: Ramanujan wurde zum Fellow der Cambridge Philosophical Society ernannt, er wurde Fellow der Royal Society und Fellow des Trinity College.
Trotzdem fühlte sich Ramanujan in England nicht wohl und hatte auch mit schweren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Im Alter von zweiunddreißig Jahren – Ramanujan war in Mathematikerkreisen inzwischen berühmt und hochangesehen – reiste er nach Indien zurück und starb dort wenig später an Tuberkulose.
Niemand weiß, welche großen Entdeckungen er noch gemacht hätte, wenn ihm noch ein paar Jahrzehnte Zeit geblieben wäre. Genauso wenig lässt sich sagen, wie er sich entwickelt hätte, wenn er von früher Jugend an in strengen mathematischen Formalismen trainiert worden wäre, anstatt unbekümmert mit ausgeliehenen Mathematikbüchern herumzuträumen. Vielleicht wäre dann ein noch viel größerer Mathematiker aus ihm geworden – vielleicht hätte klassischer Mathematikunterricht aber auch nur einen braven, langweiligen Gleichungslöser aus ihm gemacht, der es niemals geschafft hätte, mit unbeschwerter Kreativität mathematische Wahrheiten zu erraten.
Fest steht, dass bauchgefühlte Intuition und präzises Argumentieren einander nicht ausschließen – das zeigt Ramanujans Beispiel ganz deutlich. Woher der kreative Funke kommt, der eine neue Idee in bunten Farben explodieren lässt, ist gar nicht entscheidend. Manchmal blitzt ein genialer wissenschaftlicher Gedanke ganz plötzlich auf wie eine Sternschnuppe, manchmal muss die wissenschaftliche Kreativität erzwungen werden, mit knochenharter Arbeit und viel sinnlos vollgekritzeltem Papier.
Aber in jedem Fall muss man es schaffen, die eigenen kreativen Gedanken für andere Leute nachvollziehbar werden zu lassen. Etwas selbst als wahr zu erkennen, ist noch keine Wissenschaft. Schließlich könnte es sein, dass jemand anderer mit ähnlich kreativen Ideen das Gegenteil für richtig hält. Die Arbeit ist erst dann erledigt, wenn man sie so klar formuliert hat, dass jeder Widerspruch zwecklos geworden ist.