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Bertrand Russell und die Zerstörung eines Lebenswerks

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Im Jahr 1902 lebte Gottlob Frege als Honorarprofessor in Jena und vollendete gerade den zweiten Band seines großen Werks Grundgesetze der Arithmetik. Frege beschäftigte sich mit der Mengenlehre, mit der Georg Cantor zuvor versucht hatte, die seltsamen Rätsel um die Unendlichkeit zu lösen. Er hatte eine neue formale Sprache für die Mengenlehre entwickelt, ein System aus Symbolen und Regeln, mit denen man rechnen und Schlüsse ziehen konnte – allerdings nicht, um Zahlen auszurechnen, wie man das sonst oft macht, sondern um logische Aussagen zu beweisen.

Mengen, wie sie in Freges Werk vorkamen, gehören zu den allgemeinsten und vielseitigsten mathematischen Ideen, die man sich überhaupt ausdenken kann. Eine Menge ist einfach eine Zusammenfassung von Objekten – zum Beispiel die Menge von Gottlob Freges Nasenlöchern, eine Menge mit genau zwei Elementen. Eine Menge kann auch unendlich viele Elemente enthalten, etwa die Menge der ungeraden Zahlen. Es kann auch sein, dass sie überhaupt kein Element enthält, wie die Menge der Nasenlöcher in Gottlob Freges Ohr, dann spricht man von der leeren Menge.

Natürlich können die Elemente einer Menge auch andere Mengen sein, zum Beispiel wenn man die Menge aller Mengen bildet, die man aus den Zahlen eins bis zehn bilden kann. Das sieht vielleicht auf den ersten Blick noch nicht besonders nützlich aus, ist aber ein mächtiges Konzept, um die Grundbausteine der Mathematik genau zu beschreiben.

Während Frege in Jena über die Gesetze der Mengenlehre nachdachte, forschte in England der junge Philosoph Bertrand Russell an ganz ähnlichen Fragen. Und er stieß auf ein merkwürdiges Problem: Was passiert, wenn wir die Menge all jener Mengen bilden, die sich nicht selbst enthalten? Enthält sich diese Menge selbst oder nicht? Genau dann, wenn sie sich selbst enthält, dürfte sie sich eigentlich nicht selbst enthalten – und umgekehrt. Das führt genauso zu einem Widerspruch wie das Lügner-Paradoxon des Epimenides oder die Geschichte vom Barbier von Sevilla. Bertrand Russell schrieb einen Brief an Gottlob Frege und erklärte ihm das Problem.

Frege war tief getroffen: Dieser junge Engländer hatte recht! Seine Grundgesetze der Arithmetik befanden sich bereits im Druck, und nun schickte ein junger Mann aus Cambridge einen Brief, der sein über Jahre hinweg aufgebautes Gedankengebäude mit einer einzigen Frage zum Einsturz brachte. Wenn Freges Mengenlehre solche inneren Widersprüche zuließ, dann war sie offenbar doch nicht das logisch perfekte Fundament der Mathematik, von dem er geträumt hatte.

Frege ließ sein Buch noch mit einer Ergänzung versehen: „Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als daß ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte.“ Frustriert wandte sich Frege schließlich von seinem großen Projekt ab.

Doch andere Mathematiker wollten unbedingt weitermachen. Bertrand Russell wurde selbst zu einem der führenden Forscher im Bereich der mathematischen Logik. Aufbauend auf Freges Ideen versuchte er, die fundamentalen Grundlagen der Mathematik bis ins Detail zu analysieren. Nicht der geringste Zweifel, nicht die winzigste Unklarheit, nicht der kleinste Anschein von Widersprüchlichkeit sollte in der Mathematik übrig bleiben. Alles sollte auf Basis unbestreitbarer Logik begründet werden. Gemeinsam mit seinem Kollegen Alfred North Whitehead veröffentlichte er die Principia Mathematica, ein dreibändiges Werk über die Grundlagen der Mathematik.

Ein Beweis aus den Principia Mathematica wurde besonders bekannt: Nach seitenlangem Hantieren mit logischen Symbolen und Gleichungen gelangen die beiden Autoren schließlich zum Ergebnis 1+1=2. Das hatten wir auch vorher schon stark vermutet, aber seit Russell und Whitehead wissen wir auch, dass es garantiert nicht anders sein kann. Allerdings braucht man ein gewisses Durchhaltevermögen, um diese Erkenntnis in ihrer vollen Tragweite zu verstehen. Wer die Principia Mathematica in der Originalausgabe von 1910 studiert, muss sich bis zur Seite 379 durchkämpfen, um bis zum Ende dieses Beweises zu gelangen.

Hat sich diese Mühe wirklich gelohnt? Wäre es vielleicht klüger gewesen, die lästige Mengenlehre, die Gottlob Frege in die Verzweiflung getrieben hatte, einfach fallen zu lassen? Für David Hilbert, der inzwischen so etwas wie eine Vaterfigur der internationalen Mathematik geworden war, kam das nicht in Frage. Trotz aller Probleme fühlte er sich in Cantors Mengenlehre nach wie vor recht wohl: „Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können“, war Hilbert überzeugt. Wichtiger als je zuvor erschien es ihm nun, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik sauber zu beweisen.

Dieses Ziel, das er schon 1900 in Paris zu den wichtigsten Aufgaben der Mathematik gezählt hatte, erklärte David Hilbert in den 1920er-Jahren überhaupt zum zentralen Projekt der Mathematik. Als „Hilbertprogramm“ ging diese große Aufgabe in die Geschichte ein: Die Mathematik sollte als großes formales Gesamtsystem neu definiert werden, und dieses strenge System sollte zwei wichtige Eigenschaften miteinander verbinden: Erstens soll es widerspruchsfrei sein und zweitens vollständig.

Die Widerspruchsfreiheit ist die Eigenschaft, die Hilbert schon im Jahr 1900 gefordert hatte: Wenn eine Aussage wahr ist, darf keine andere Aussage wahr sein, die ihr widerspricht. Wenn zwei Leute dieselbe mathematische Aufgabe lösen und beide keinen Fehler machen, dürfen sie nicht zu zwei unterschiedlichen, widersprüchlichen Ergebnissen kommen.

Eine zweite große Forderung kam im Hilbertprogramm noch hinzu, und sie ist ebenso wichtig: Es sollte bewiesen werden, dass die Mathematik vollständig ist – das bedeutet, dass sich jeder wahre Satz beweisen lässt und dass man von jedem falschen Satz beweisen kann, dass er falsch ist. So ähnlich wie man zum Kirschenpflücken auf einem hohen Baum eine ausreichend lange Leiter haben möchte, mit der man garantiert jeden Ast, jeden Zweig und jede Kirsche des Baums erreichen kann, möchte man Grundregeln der Mathematik haben, mit denen man garantiert jede mathematische Wahrheit erreichen kann – und zwar durch einen logischen Beweis, der auf den Grundaxiomen beruht. Am allerschönsten wäre es, jeden beliebigen mathematischen Satz in eine Maschine stecken zu können, die dann nach klar definierten, logischen Regeln berechnet, ob dieser Satz wahr oder falsch ist.

Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl

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