Читать книгу Mord im Hause des Herrn - Franziska Steinhauer - Страница 14
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Оглавление»So, dann lasst uns mal zusammentragen, was wir bisher über den Toten wissen«, eröffnete Sven Lundquist die Gesprächsrunde in seinem Büro.
»Einar Dahl«, sagte Ole, »der Polizist von Holm, kann sich an keinen Rollstuhlfahrer in der Gemeinde erinnern. Sein Vorgänger kann nicht mehr befragt werden, er ist vor einigen Jahren bei einem Segelunfall ertrunken. Und Jens, der Besitzer des einzigen Supermarktes im Ort, war nicht da. Seine freundliche Tochter erklärte mir, er habe Saunatag, aber sie wisse nicht, in welche Sauna er gegangen sei. Er variiere da. Ich werde also morgen noch mal hinfahren müssen.«
»Die Obduktion hat Haakan Wennerström durchgeführt«, berichtete Lundquist. »Demnach war der Tote etwa Mitte vierzig, groß und schwer, deutliches Übergewicht und verfügte über eine beeindruckende Muskelmasse. Seine letzte Mahlzeit muss er wohl bei McDonald’s eingenommen haben, etwa drei Stunden vor seinem Tod. Pommes, Burger, Cola, kein Salat. Die genaue Analyse steht noch aus. Auch die Blutwerte sowie die Gift- und Medikamentenanalyse kommen erst in einigen Tagen. Der Todeszeitpunkt war etwa zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens.«
Er sah in die Gesichter seiner Kollegen, alle wirkten blass und übernächtigt.
Lauter Wintergesichter, dachte er, dabei war es noch nicht einmal Weihnachten und der Frühling noch so weit.
»Der Tote wurde weder vom Kreuz erschlagen, noch war er Rollstuhlfahrer!«, ließ er die Katze aus dem Sack.
Sofort redeten alle durcheinander.
»Wie, was soll das heißen: Er wurde nicht vom Kreuz erschlagen?« – »Wozu brauchte er dann ein umgerüstetes Auto?« – »Dann war er ja gar nicht hilflos der Situation ausgeliefert und hätte sich wehren können.« – »Wenn er nur so getan hat, als wäre er Rollstuhlfahrer – wozu sollte das gut sein? Ich meine, welchen Vorteil sollte das haben?«
Ja, welchen Vorteil hatte das schon, dachte Lundquist verbittert. Was würde sich in seinem Leben alles verändern müssen, wenn es bei ihm erst mal soweit wäre, die Multiple Sklerose ihm die Bewegungsfreiheit nahm.
Er warf einen Seitenblick zu Lars hinüber und bemerkte amüsiert, wie sein Freund verstohlen das Display seines Handys kontrollierte. Gitte, Knysts Frau, erwartete ihr erstes Baby, und der werdende Vater zeigte langsam deutliche Spuren von Schwangerschaftsstress.
»Wenn er nicht durch das Kreuz erschlagen wurde – wie ist er dann gestorben?«
Brittas energische Stimme hatte sich in der Kakophonie durchgesetzt.
»Er wurde tatsächlich erschlagen, aber eben nicht durch das Kreuz. Haakan meint, es wurde sorgfältig auf ihm abgelegt. Sonst hätte es womöglich den Kopf abgetrennt. Erschlagen wurde er mit einem stumpfen Gegenstand aus Holz. Und es waren offensichtlich mehrere Schläge notwendig. Haakan hat einen lackierten Holzspan in der Wunde am Genick gefunden. Er meint, von einem Baseballschläger vielleicht oder einem Werkzeugstiel.«
»Und dann sollen die Täter eine Leiche in die Kirche getragen haben, um dort alles so zu arrangieren, dass es wie ein tragischer Unfall aussieht?«
Ole war verärgert.
»Und ausgerechnet in einer Kirche wollten sie einen Mord vertuschen? Was für eine kranke Idee!«
»Blasphemie«, stellte Bernt trocken fest. »Woher will Haakan das eigentlich wissen, dass er kein Rollstuhlfahrer gewesen ist?«
»Er hat eine ausgeprägte Beinmuskulatur. Haakan tippt auf hartes Training in einem Fitness-Studio. Wir müssen uns also von der Vorstellung befreien, dass wir es mit einem wehrlosen Opfer zu tun haben. Der Tote war voll durchtrainiert. Das Gewicht stammt nicht allein vom Fett, sondern in erster Linie von Muskelmasse. Er hat wohl mehrmals in der Woche trainiert. Jedenfalls war er für den oder die Mörder ein ernst zu nehmender Gegner.«
»Der jetzt endlich auch einen Namen hat: Gunnar Thaisen«, schaltete sich Lars ein, dem gerade ein Zettel ins Büro gereicht wurde. »Und dieser durchtrainierte Mann mittleren Alters, der als Bodyguard eine gute Figur abgegeben hätte, bestellt sich bei Rent & Co. ein für Rollstuhlfahrer umgerüstetes Auto. Er hat dort den Namen Gunnar Thaisen angegeben und sowohl einen Ausweis, als auch einen Führerschein mit diesem Namen vorgelegt.«
»Ist der Name schon überprüft?«
»Nein. Ich habe den Namen ja gerade erst bekommen!
Die Mietwagenfirma war ein bisschen zickig. Aber die dänischen Kollegen wollten sich gleich drum kümmern.«
Lundquist nahm einen orangefarbenen Notizzettel vom Tisch, schrieb mit einem Filzstift Gunnar Thaisen drauf und pinnte den Zettel neben eines der Fotos aus der Kirche.
»So, nun hat er erst mal einen Namen. Ist immer gut, wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat. Wenn du einen Namen hast, hast du auch Familie, Freunde, Feinde – und Motive.«
Zufrieden setzte er sich.
»Britta, wie lief’s beim Pfarrer?«
»Pfarrer Landulf ist nach Angaben seiner Haushälterin noch immer völlig geschockt.«
»Landulf – was für ein seltsamer Name für einen Pfarrer«, sagte Bernt Örneberg überraschend. »Bedeutet so was wie Werwolf. Aber ich glaube, es gab schon mal irgendwo einen Bischof mit diesem seltsamen Namen.«
»Wahrscheinlich wussten seine Eltern bei seiner Geburt noch nicht, dass er später mal Pfarrer werden würde – sonst hätten sie sicher was Passenderes gewählt. So was wie Bernt. Das passt doch eigentlich immer, nicht wahr?«, konterte Britta schnippisch. »Seine Haushälterin, Grete Bein, schien jedenfalls noch immer ehrlich entrüstet, wenn wahrscheinlich auch eher über den Schock, den der Täter dem Pfarrer zugefügt hat, als darüber, dass jemand sterben musste. Mord in der Kirche gehört sich einfach nicht.«
»Und was sagt Pfarrer Landulf dazu?«, fragte Lundquist.
»Ich finde ihn ziemlich sympathisch«, sagte Britta, »auch wenn er manchmal etwas zur Verwirrtheit neigt. Er empfindet das Ganze mehr als Affront gegen die Institution Kirche. Nach seiner Schilderung schließt er die Kirche persönlich gegen 22 Uhr ab. Anschließend geht er ins Bett. Sein Schlafzimmer befindet sich auf der Rückseite des Pfarrgebäudes und daher hätte er wahrscheinlich ohnehin nichts gehört. Grete schläft im Dachgeschoss. Sie leidet seit einiger Zeit unter Tinnitus und setzt deshalb zum Einschlafen Kopfhörer auf.«
»Wo liegt eigentlich der Schlüssel, wenn Pfarrer Landulf schlafen geht?«, wollte Lars wissen.
»Er legt ihn immer in eine Spalte unter dem Grabstein von Julia Mehnert. Das ist ein Kindergrab gleich links neben dem Turm. Er meint, es könne doch immer mal sein, dass eines der Gemeindemitglieder nachts plötzlich göttlichen Zuspruchs bedürfe, und da müsse das Haus des Herrn dem Gläubigen auch offenstehen. Alle im Dorf wissen, wo der Schlüssel liegt. Es kann also jeder rein – zu jeder Zeit.«
»Keine Sperrstunde fürs Beten!«, kommentierte Bernt und lachte keckernd.
»Weder Grete noch Pfarrer Landulf können sich an jemandem im Rollstuhl erinnern«, fuhr Britta ungerührt fort. »Aber wenn das nur Tarnung war, nutzt uns die Information ja auch nichts.«
»Gut. So viel für heute«, beschloss Lundquist. »Jetzt bleibt abzuwarten, ob die dänischen Kollegen die Familie von Gunnar Thaisen ausfindig machen können. Wo wohnte der Mann?«
»In Skagen.«
»Er kam von der Spitze Jütlands, um ausgerechnet auf Holm zu sterben? Ist ja auch die nächste Ecke! Wie dem auch sei, wenn es ihn gibt und er Familie hat, müssen die Angehörigen verständigt werden. Wir sollten den Kontakt zu den Kollegen möglichst eng halten. Lars, check doch mal in deinem PC, ob dieser Gunnar Thaisen bei uns schon mal irgendwie aufgefallen ist.«
Er erhob sich etwas unsicher und griff sich in die rechte Seite.
Zu viel Sport, zu viel Ehrgeiz bei der Physiotherapie, schimpfte seine innere Stimme, das provoziert Muskelkater.
»Morgen früh treffen wir uns alle wieder hier«, presste er etwas mühsam hervor. »Dann sehen wir weiter. Und jetzt raus mit euch ins winterliche Schneetreiben. Für heute ist Feierabend.«
Später, als er am Fenster in seinem Büro auf die Lichter der Stadt schaute und nachdenklich das Schneegestöber beobachtete, wusste er nicht, ob er diese weiße Decke, die sich auf die Natur legte und das Leben verlangsamte, begrüßen sollte: Bedeutete die Verlangsamung des Lebens auch eine Verlängerung? Wollte er das überhaupt? Er betastete seine Rumpfmuskulatur, knete seinen Bizeps. Noch fühlte sich alles straff und gesund an. Die MS hatte eine Pause eingelegt. Dauer ungewiss. Und als er an Magda und Lisa dachte, wurde ihm bewusst, er, wie sehr er die stillen Zeiten des Winters begrüßte. Es war eine verzauberte Jahreszeit mit glitzerndem Schnee, gemütlichen Abenden bei Kerzenlicht. Hinten im Park rutschten bereits die ersten Kinder auf Schlitten den flachen Hügel hinunter. Er erinnerte sich, wie seine Mutter ihn das erste Mal zum Schlittenfahren im angrenzenden Wald mitnahm. Sie trug einen Hut mit einer Fasanenfeder und einen Pelzmantel aus Luchsfell. Völlig unpassend. Sie fiel augenblicklich auf zwischen all den Anorakträgern. Peinlich.
Sie zog ihn auf dem Schlitten zu einer Schlucht, von deren Anhöhe sich wagemutige Männer auf ihren Rodeln hinunterstürzten. Schließlich entschied sie, nicht hinunterzufahren, zumal die Bahn durch kräftiges Wurzelwerk oft unterbrochen wurde, was die Gefahr noch erhöhten.
Sven war ihr einziges Kind.
Sie wollte kein Risiko eingehen.
Auf der Heimfahrt hatte er die ganze Zeit traurig das Wippen der Fasanenfeder fixiert. Sie störte ihn. Machte seine Mutter so fremd, seltsam unnahbar.
Am nächsten Tag hatten sie ihn in der Schule ausgelacht.
Wütend prügelte er sich auf dem Heimweg mit Janne. Beide trugen sie ein blühendes Veilchen davon. Aber immerhin, er hatte eine Art Unentschieden erkämpft. Die Hänseleien hörten wieder auf.
Damals hatte er oft vor Zorn über die ständige Besorgnis seiner Mutter ins Kissen geweint. Heute, als Vater, konnte er sie verstehen.
Das gedämpfte hektische Rattern der Festplatte verriet ihm, dass das mit dem Namen Gunnar Thaisen gespeiste Rasterprogramm auf Hochtouren lief.
Eine leichte Nervosität breitete sich in ihm aus, wie eine Vorahnung von großem unvermeidlich heraufziehendem Ärger, als er an das Gespräch mit seiner Mutter von gestern Abend dachte. In letzter Zeit hatte es häufig sinnlosen Streit mit ihr gegeben, und ein wenig konnte er ihren Standpunkt auch nachvollziehen, aber schließlich hatte auch er ein Recht auf ein eigenes Leben. Er war alt genug!
Nach Annas Tod hatte das Leben für ihn jeden Sinn verloren. Seine Gedanken verdüsterten sich, er fiel in eine tiefe Depression, sehnte nichts so sehr herbei wie den eigenen Tod. Doch er fing sich wieder, hielt tapfer durch, Lisas wegen. Damals hatte seine Mutter bereitwillig seinen Haushalt übernommen, der durch hektische An- und Abwesenheiten geprägt war. Polizeidienst ist nur theoretisch planbar. Natürlich genoss sie den Umgang mit ihrer Enkeltochter und freute sich darüber, wirklich dringend gebraucht zu werden. Doch schleichend hatte sie damit auch wieder begonnen, das Leben ihres Sohnes in die Hand zu nehmen. Zuerst war es ihm gar nicht richtig aufgefallen, wie fordernd sie geworden war, dann widersetzte er sich um des lieben Friedens willen nicht und redete sich ein, das alles sei notwendig, um Lisa ein warmes Zuhause bieten zu können.
Als er gerade so weit war, sich gegen ihre Einmischungen zur Wehr zu setzen, hatte man die Ursache für seine rätselhaften Beschwerden gefunden: Multiple Sklerose. Wie eine schwere Decke legte sich diese Diagnose auf sein Leben und schien die letzten Reste von Mut und Stärke zu ersticken. Wieder war es seine Mutter, die ihn auffing und ihm Halt und Zuversicht gab.
Lundquist seufzte. Er war nun Ende dreißig, Witwer mit Tochter, und hatte sich Hals über Kopf in eine Sängerin an der Göteborger Oper verliebt, im Krankenhaus, gleich nach dem spektakulären Fall im Herbst.
Als er sie zu sich einlud, war er auf die Konsequenzen nur unzureichend vorbereitet.
Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, seine Mutter könne in Magda eine Bedrohung sehen, gar eifersüchtig sein. Allerdings wohnte seit jenem Abend eine neue unbekannte Kälte mit in seiner Wohnung. Sprachlos hatte er all die unverschämten und mehr oder weniger versteckten spitzen Pfeile verfolgt, die seine Mutter am ersten Abend auf seinen Gast abgeschossen hatte.
Magda hatte einfach wundervoll reagiert.
Ruhig und freundlich überhörte sie alle Anspielungen auf den »einfachen Weg zum Erfolg, fast wie im Schlaf« und Ähnliches. Als er sie nach Hause gebracht hatte – sie wohnte ein Haus weiter – zeigte sie sogar großes Verständnis für seine Mutter und erklärte ihm bei einem Glas Wein das geheimnisvolle Wesen der Schwiegermütter. So war es dann doch noch ein sehr lustiger Abend geworden.
Wehmütig beobachtete er die Autos, die sich ihren Weg durch die aufgewirbelte Dunkelheit suchten. Wie viele glückliche Familienväter mochten auf dem Weg ins warme Heim sein, wo sie schon sehnsüchtig erwartet wurden?
Neid kroch in ihm hoch.
Und Wut.
Gut, seine Mutter war eifersüchtig. Das würde mit der Zeit wahrscheinlich vergehen. Aber Zeit war etwas, was Sven Lundquist nicht mehr unbegrenzt zur Verfügung stand. Multiple Sklerose war eine heimtückische Krankheit, die in manchen Fällen für eine gewisse Zeit zurückgedrängt werden konnte. Der Preis dafür waren Übelkeit, Erbrechen, Gliederschmerzen. Das Leben ging weiter, die Krankheit wartete jedoch in einer Art Dämmerschlaf und wiegte den Patienten oft genug in falscher Zuversicht.
Und dann schickte sie einfach völlig unvermittelt einen neuen Schub.
Und immer blieb eine Verschlechterung zurück.
»Hier – das gibt’s doch gar nicht!«, unterbrach Knyst, der dem allgemeinen Aufruf zum Feierabend nicht gefolgt war, seine quälenden Gedanken und zwang ihn in die Realität des Büros zurück.
»Hast du was gefunden?«, fragte Lundquist neugierig und schaute, froh über die Störung seiner unerfreulichen Gedankengänge, auf den Monitor.
»Gunnar Thaisen ist gar kein gebürtiger Däne. Er stammt aus Schweden. Hier ist ein unklarer Vermerk – irgendwie wurden seine Daten von der Behörde verändert.«
Lars hämmerte ekstatisch auf die Tastatur.
»Sieht so aus, als hätte er seinen Namen ändern lassen.
Ich komme hier nicht rein. Das sind geschützte Dateien. Verschlüsselt abgelegt, nur mit Passwort zu erreichen. Ich bin kein Hacker, also werden wir morgen die Kollegen von der Meldebehörde um Auskünfte bitten müssen. Das eine Formular, das ich gefunden habe, ist jedenfalls die Bestätigung einer Abmeldung aus Schweden mit dem Hinweis auf einen Umzug nach Dänemark. Eine neue Adresse ist allerdings nicht angegeben.«
»Vielleicht wusste er noch nicht genau, wohin er ziehen wollte.«
»Das kann gut sein. Diese Anmeldebescheinigung ist von 1977, also zweiunddreißig Jahre alt und wurde für ein Kind ausgestellt mit Geburtsdatum 12.07.1967. Da war der Junge gerade mal zehn Jahre alt. Wahrscheinlich also eine Entscheidung der Familie – er wurde bestimmt nicht gefragt, ob er damit einverstanden war.«
Sven stützte seinen rechten Arm auf der Hüfte ab. Das tat er in der letzten Zeit öfter, hatte sein Freund Lars beobachtet, der als einziger in der Abteilung von Lundquist Erkrankung wusste.
Besorgt zog er eine Augenbraue in die Höhe.
»Ich verstehe nur nicht, warum diese Dokumente verschlüsselte Teile haben«, sagte Lundquist. »Was ist schon so geheim daran, wenn eine Familie nach Dänemark umzieht?«
»Das muss bis morgen warten, Sven. Haben die Kollegen inzwischen die Familie ausfindig gemacht?«
»Nein. Offensichtlich ist keiner zu Hause. Ich habe mir von der Autovermietung seine Telefonnummer geben lassen und es auch probiert. Aber es geht nur der Anrufbeantworter dran. Ich habe hinterlassen, man möchte uns bitte zurückrufen, es sei wichtig. Schließlich kann ich ja wohl kaum was von einer Leiche in einer Kirche erzählen.«
»Aber hier, sieh mal. Die Suchmaschine hat eine Computerfirma gefunden, die einem Gunnar Thaisen gehört. Vielleicht ist das ja unser Gunnar.« Lundquist trat hinter ihn und schaute auf die Homepage einer Firma, die für ihren Softwareservice warb und behauptete, eine an jeden Bedarf anpassbare Software entwickeln zu können, die sowohl für PC wie auch Apple zur Verfügung stünde. Außerdem bot die Firma die Erstellung und Wartung professioneller Websites sowie Komplettlösungen mit Hardware an.
»Schluss für heute. Das können wir morgen überprüfen. Grüße an Gitte!«
Lundquist griff nach seinem Mantel, den er über die Lehne seines Stuhls geworfen hatte.
»Warte. Ich nehme dich mit!«, rief Lars Knyst und fuhr den Rechner runter.
»Mann, es ist ganz schön aufregend Vater zu werden, das kann ich dir sagen!«, sprudelte Lars im Wagen heraus.
»Das ist noch gar nichts«, sagte Sven Lundquist mit sonorer Orakelstimme. »Die meisten Probleme kommen erst nach der Geburt – und dann begleiten sie dich ein Leben lang. Lass dir das von einem erfahrenen Vater gesagt sein.«
»Sprechen wir über durchwachte Nächte, zahnende Babys und Windeln, die zu wechseln sind?«
»Nicht unbedingt. An kurze Nächte bist du doch schon berufsbedingt gewöhnt. Das dürfte dir doch wenig ausmachen. Nein, ich dachte dabei eher an die spannende Zeit der heraufziehenden Trotzphasen, die dann irgendwann in die lang andauernde Dauerstressphase münden, die allgemein als Pubertät bezeichnet wird.«
»Da haben wir wohl beide noch ein paar Jahre Zeit. Bis dahin können wir uns ja locker auf diese Herausforderung einstellen.«
»Ich glaube nicht, dass man das kann. Eine Bekannte erzählte mir, dass sich ihre fünfzehnjährige Göre zum Kiffen und Saufen mit Freunden trifft. Sie klettert einfach nachts aus dem Fenster und ist weg. Die Mutter ist völlig ratlos, weiß nicht, wie sie das abstellen soll. Jede Nacht sitzt sie schlaflos im Wohnzimmer, verfolgt von der Vorstellung ihre Tochter läge irgendwo bewusstlos in der Kälte am Straßenrand, würde in vollkommen desorientiertem Zustand Opfer einer Vergewaltigung oder gar ermordet. Die Mutter durchlebt tausend Ängste – während sich die Göre in ihrer neu gewonnenen Macht sonnt und kräftig auftrumpft. Unsere niedlichen Kleinen lernen im Lauf der Zeit, tiefe Verletzungen auszuteilen. – Wenn ich ehrlich bin, graut mir davor.«
Lundquist sah in das Dunkel hinaus. Lisa war sein einziges Bindeglied zu Anna. Wenn sie sich von ihm abwenden würde – nein, daran mochte er lieber nicht denken.
Sie hatten noch so viel Zeit.
Die müssten sie eben gut nutzen.
»Ostern werdet ihr schon zu dritt feiern. Schöne Vorstellung, nicht?«, versuchte Sven Lundquist sich abzulenken.
»Frühlingskinder sollen ja auch die intelligenteren sein«, grinste Lars. »Aber ehrlich gesagt, wenn ich mir vorstelle, dass ich dann praktisch nie mehr allein bin: Das ist schon komisch. Wahrscheinlich muss ich, wenn ich mich mit Gitte unterhalten will, einen Termin ausmachen, an dem das Kind schläft. Sie liest schon seit Monaten nur noch pädagogische Bücher und erklärt mir ständig, was ich tun darf und was nicht. Manchmal nervt das ganz schön.«
»Das sind die Hormone, Lars. Außerdem will sie natürlich auf keinen Fall einen Fehler machen. Mit der Zeit beruhigt sich das wieder – spätestens, wenn ihr eine Großfamilie geworden seid«, sagte er und grinste breit zu ihm rüber.
»Na, na. Jetzt lass uns erstmal diese Schwangerschaft beenden«, wiegelte Lars ab. »Das Baby ist wohl ziemlich groß. Der Arzt meint, das könne noch Probleme machen.«
»Ist doch kein Wunder. Bei dem Vater!«
»Eventuell wird ein Kaiserschnitt notwendig«, erklärte Lars besorgt.
»Viele Stars planen von Anfang an eine Geburt per Sectio. Die Babys sollen schöner sein – nicht so zerknautscht«, grinste Sven.
»Gitte hat versprochen bei irgendwelchen Problemen gleich anzurufen. Über das Mobiltelefon kann sie mich ja zum Glück immer erreichen. – Und wie läuft es bei dir?«
»Meine Mutter ist eifersüchtig. Sie intrigiert kräftig und versucht, Lisa gegen Magda aufzuhetzen. Alles ziemlich unerfreulich.«
»Unerfreulich ist gut«, gab Knyst empört zurück, »Scheiße ist das!«
»Ja, so kann man das auch sagen. Sie ist wild entschlossen, ihre Position mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.«
»Und wie kommt Lisa damit klar?«
»Ich glaube, sie ist manchmal ein bisschen verwirrt.
Aber sie kann Magda wirklich gut leiden. Lisa ist jetzt viel fröhlicher – du würdest die Kleine nicht wiedererkennen. Sie lacht wieder, singt Lieder aus dem Kindergarten und hüpft, wenn wir einkaufen gehen, ausgelassen neben mir her. Ich bin sehr froh darüber, glaub mir.«
»Klingt doch wirklich gut.«
Drei Querstraßen weiter hielt Lars am Straßenrand. »Bis morgen früh«, verabschiedete sich Knyst. »Ich hol dich ab. Und falls irgendwas mit Gitte sein sollte, dann rufe ich dich an.« Müde und mit der dumpfen Ahnung von unerbittlich heraufziehendem Ärger, die ihn schon den ganzen Tag begleitet hatte, ging Lundquist auf die lange Häuserzeile zu.
Er konnte nicht wissen, wie Recht er mit diesem undefinierbaren Gefühl haben sollte.