Читать книгу Mord im Hause des Herrn - Franziska Steinhauer - Страница 21

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Lundquist strauchelte. Unsanft stieß er mit der Schulter gegen das Regal mit den Biografien und konnte nur mit Mühe verhindern, das Brett mit den Komponisten von Weltrang im Sturz abzuräumen. Nicht jetzt, dachte er, nicht jetzt! Er hatte doch wirklich Schwierigkeiten genug.

Eine junge Frau stand plötzlich neben ihm, ohne dass er hätte sagen können, woher sie gekommen war. Ihre langen, dunklen Haare waren streng aus dem Gesicht gekämmt. Als sie den Kopf bewegte, sah Lundquist einen dicken, geflochtenen Zopf.

Besorgt sah sie ihn aus dunklen Augen an.

»Geht es dir nicht gut? Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen?«

Lundquist schüttelte energisch den Kopf.

Das musste ja nicht unbedingt sein. Junge Frauen sollten nicht auf diese Weise ihr Interesse für ihn entdecken. Kam gar nicht in Frage!

»Ich kann das gut verstehen«, plapperte die junge Frau unterdessen munter weiter, »dieser Weihnachtsstress kann schon mal den stärksten Mann umhauen. Das muss dir gar nicht peinlich sein.«

Dabei ermutigte sie ihn mit ihrem strahlendsten Lächeln.

»Ich habe vier Kinder. Alles Jungs. Damit habe ich also faktisch fünf Männer im Haus. Außerdem zieht morgen mein Schwiegervater bei uns ein. Dann sind es sechs. Und genau wie in jedem Jahr hat natürlich keiner Zeit für irgendwelche Weihnachtsvorbereitungen. Na ja. Dabei ist doch die Adventszeit eigentlich die Zeit der Ruhe und Besinnung, eine Zeit, die die Menschen zur inneren Einkehr nutzen sollten. Und was machen sie? Statt sich gemütlich vor dem Kamin einzukuscheln und sich den Bauch mit Lebkuchen voll zu schlagen und dabei lange Gespräche bei Kerzenschein zu führen, hasten sie raus in die Kälte und hetzen durch die Geschäfte.«

Wie konnte sie nur ohne Pause so viel reden? Ob sie wohl bei ihren vielen Männern nichts zu sagen hatte und sich alles für Gelegenheiten wie diese aufhob, um es mit einem Mal loszuwerden? Bei einem möglichst harmlos aussehenden Fremden?

»Statt Liebe im Blick zu haben, jagen ihre Augen unruhig und gierig über die Auslagen der Geschäfte. Ist das nicht wirklich schade?«

Lundquist nickte unbestimmt und begann abwesend seine Schulter zu massieren.

»Entschuldige, ich will dich nicht weiter aufhalten. Wenn wirklich alles in Ordnung ist ...«

Sie sah ihn prüfend an.

»Dann hast du ja sicher auch noch viel zu erledigen.«

»Danke«, murmelte Lundquist.

Als sie sich zum Gehen umwandte überlegte er, dass sie, wenn sie vier Kinder hatte wahrscheinlich nicht so jung war, wie er zunächst gedacht hatte. Sie ging sogar leicht gebeugt, fiel ihm jetzt auf. Und plötzlich tat es Lundquist leid, dass er sie so wenig freundlich behandelt hatte. Sie war keinen Deut glücklicher als er – vielleicht trotz der Kinder gerade jetzt vor Weihnachten besonders einsam. Sonst hätte sie vielleicht auch nicht so viel über die Sehnsucht nach Wärme und Liebe gesprochen, oder? Ach ja, du Hobbypsychologe, tadelte er sich.

»Wie alt sind deine Kinder denn?« Mit einem Schritt hatte er die zarte Frau wieder eingeholt. Sie zuckte zusammen, als er sie so überraschend ansprach. Doch einen Moment später wich der Schreck und sie lächelte ihn schon wieder an.

»Zwischen neunzehn und zwei.«

»Ist ja sicher viel Arbeit für dich – besonders in den Wochen vor Weihnachten. Vielleicht kann dein Schwiegervater ja ab morgen ein bisschen mithelfen.«

»Er ist ein böser alter Mann, der mich hasst, weil ich seinen Sohn in die Stadt gelockt habe und er den Hof nicht übernehmen wollte.«

Sie klang so ohne Hoffnung, dass Lundquist spürte, wie sich ein Tonnengewicht auf seine Brust legte.

So wollte er das Gespräch nicht enden lassen.

»Ich habe eine kleine Tochter. Gerade jetzt verursacht sie einen ziemlichen Stress. Sie ist noch klein, vier Jahre alt, aber in dem Alter ist der Dickkopf manchmal besonders groß. Und mit Vernunft allein ist da nicht viel zu erreichen«, sagte Lundquist.

»Für vernünftiges Handeln bleibt ihr noch der ganze Rest ihres Lebens«, sagte die junge Frau. »Solange sie Kind ist, darf sie auch unvernünftig sein – das ist ihr Privileg. Und auch wenn sie schwierig sind – ohne die Kinder wäre Weihnachten doch nur halb so schön.«

Sie sah ihm jetzt nicht in die Augen. Er wusste, sie wollte ihn nicht die Lüge entdecken lassen.

»Vielleicht kannst du dir die Zeit vor dem Fest ein wenig ruhiger gestalten«, sagte sie.

»Ich muss noch rasch einen Mörder fangen, bevor Weihnachten werden kann.«

»Wie furchtbar: einen lieben Menschen auf so gewaltsame Weise verlieren zu müssen – und dann auch noch zu dieser Zeit.«

So hatte Lundquist das noch gar nicht gesehen. War es nicht immer schlimm, wenn ein Mensch sterben musste? Ganz gleichgültig wann es passierte? Litten die Angehörigen um Weihnachten herum mehr, wenn einer ihrer Lieben starb oder noch schrecklicher: ermordet wurde? Und das Opfer? Was mochte jemand denken, dem bewusst war, er konnte nur noch diesen einen Gedanken fassen ...? Er strich abwesend über seine Arme, als wollte er sich wärmen. Eine Gedichtzeile fiel ihm ein, die er vor vielen Jahren gelesen hatte und die ihn damals tief beeindruckte:

Am schlimmsten: Nicht im Sommer sterben,

wenn es hell ist

und die Erde für den Spaten leicht ...

Er spürte den Blick der zarten Frau wieder auf sich ruhen. Sie wechselten noch ein paar Sätze, schüttelten sich die Hände, dann verschwand die kleine Gestalt im Gewimmel der Weihnachtskaufwütigen.

Von wem war nur dieses Gedicht? Abwesend starrte er vor sich hin und bedauerte nicht zum ersten Mal das etwas chaotische Ablagesystem seines Gedächtnisses. Vielleicht würde es ihm heute Nacht im Traum einfallen. Manchmal funktionierte diese Methode ganz gut, zum Beispiel neulich, als ihm partout seine PIN für die EC-Karte nicht mehr einfallen wollte.

Aber eigentlich müsste es ihm doch möglich sein, sich daran zu erinnern, von wem diese Zeilen stammten, schließlich wusste er ja auch noch genau, wie sehr sie ihn damals beeindruckt hatten. Mit zorniger Entschlossenheit forschte er weiter.

Gottfried Benn! Das Gedicht musste von ihm sein. Zufrieden seufzte Lundquist auf. Selbst den Titel wusste er wieder: Was schlimm ist. Wenn die Erde für den Spaten leicht ... Hatte Benn dabei an die Totengräber gedacht, die weniger Arbeit mit dem Ausheben des Grabes haben würden, oder dachte er dabei an den Toten, dessen auf ihm ruhende leichte Erde ein Bild des gelassenen Abschieds vermitteln sollte. Oder hatte Benn womöglich Angst gehabt, bei lebendigem Leib begraben zu werden und sich aus schwerer Erde schlechter befreien zu können? Dachten Mörder überhaupt über die Jahreszeit nach, zu der sie ihre Taten begingen? Oder spielte das keine Rolle? Bei Mord aus Rache vielleicht, spann er den Faden weiter, wenn der Mörder dachte, das Opfer solle auf keinen Fall mehr den nächsten schönen Sommer oder das kommende Weihnachtsfest erleben dürfen. Musste der Tote in der Kirche deshalb ausgerechnet jetzt und an diesem Ort sterben?

Gedankenverloren griff Lundquist nach einer Biografie. Ob Magda wohl Kinder wollte, Kinder mit ihm? Darüber hatten sie noch nie gesprochen. Vielleicht wäre es für Lisa sehr schön, Geschwister zu haben, schweiften seine Gedanken ab. Schadete es der Stimme einer Opernsängerin eigentlich, wenn sie schwanger wurde? Er fuhr sich mit zitternden Fingern übers Gesicht und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Würde er überhaupt noch genug Zeit haben, um diesen Kindern ein guter Vater zu sein?

Er stellte abrupt das Buch ins Regal zurück und verließ hastig die Buchhandlung.

Dr. Palm sah seinen Patienten kritisch an.

»Aha, du bist also gestrauchelt, möchtest eventuell eine neue Familie gründen und hast nun Angst, dir könnte ein neuer Schub dazwischen kommen?«

Lundquist zuckte die Schulter.

»Nun ja, ich glaube, so könnte man die Situation kurz und knapp zusammenfassen.«

Dr. Palm war schon seit Lundquist denken konnte Hausarzt der Familie und für ihn ein ganz besonderer Freund. Damals, als Anna gestorben war, hatte er es übernommen, die Familie über den Unfall zu informieren, hatte in einer hoffnungslosen Situation Halt gegeben. Auch als Lundquist vor einigen Monaten erfuhr, dass er an Multipler Sklerose erkrankt sei, war es Dr. Palm gewesen, der ihm Zuversicht geben konnte. Er kannte die familiären Hintergründe und war mit seinem analytischen Urteil immer ein guter Ratgeber.

»Deine neue Freundin weiß ja über deine Erkrankung Bescheid. Sie kennt also das Risiko, auf das sie sich eingelassen hat.«

»Ja. Na klar. Sie weiß es eigentlich schon seit den ersten Minuten unserer Bekanntschaft. Du weißt, wir haben uns ja im Krankenhaus kennen gelernt. Zwei Invaliden auf einer Bank.«

»Wildromantisch«, spöttelte der Arzt.

»Ich frage mich, ob ich die Disposition für MS vererben würde, wenn wir Kinder bekommen sollten. Und ich frage mich, ob ich noch genug Zeit habe, mit dem Nachwuchs zu spielen und zu toben.«

»Oh, wir sind wieder bei deinem Jahrmarktsbudenthema. Du weißt genau, dass dir kein Mensch die Frage beantworten kann, wie viel Zeit dir für die Verwirklichung deiner Pläne bleibt! Ob du morgen von einem Auto überfahren wirst oder beim nächsten Badespaß im Meer einen Krampf bekommst und ertrinkst: Wer will das wissen? Geh zu Lily Antwerpes, der berühmten Hellseherin, die beantwortet deine Fragen nach der Zukunft!«

»Ist ja gut, ist ja gut!« Sven Lundquist hob schützend die Hände über den Kopf. »Ich gebe mich geschlagen und bekenne, du hast Recht!«

Sie lachten.

»Was deine Frage nach der Vererbung angeht, kann ich dir sagen, es gibt definitiv keine familiäre Häufung. Man weiß einfach nicht genau, warum der eine es bekommt und der andere nicht. Wenn du wirklich abgeklärt haben willst, ob sich bei dir ein neuer Schub ankündigt, bin ich nicht die richtige Adresse. Dr. Baum wird das schneller herausfinden. Möglicherweise wird er deine Interferon-Dosis etwas erhöhen. Und einmal straucheln ist nicht wirklich ein alarmierendes Signal. Ich hatte einmal eine Sprechstundenhilfe, Insga, die stolperte von morgens bis abends durch meine Praxis. Sie war nicht etwa krank, nur irgendwie ungeschickt beim Bewegen. Jede Treppe war eine Herausforderung für sie, manchmal schlugen die Türen, die sie aufgestoßen hatte, zurück und mehr als einmal musste ich ihr eine Salbe für ihre Rippenprellungen verschreiben, die sie sich bei so einem Kontakt mit der Türklinke zugezogen hatte. Aber deshalb bist du auch nicht wirklich zu mir gekommen, nicht wahr? Das Problem liegt ganz woanders«, sagte Dr. Palm und goss aus einer großen Thermoskanne Kaffee in zwei Tassen.

»Milch? Zucker?«

Lundquist schüttelte den Kopf.

»Schwarz ist prima.«

Dr. Palm wartete. In den vielen Jahren hatte er als Hausarzt ein untrügliches Gespür für familiäre Spannungen seiner Patienten entwickelt. Er wusste, schweigend warten zu können, war eine unbezahlbare Fähigkeit, für die in der schnelllebigen Zeit im Bereich der Medizin zu wenig Raum blieb. Viele Kollegen hetzten sich und ihre Patienten durch die Anamnese und zu Spezialuntersuchungen, ohne von ihren wirklichen Problemen jemals etwas zu erfahren.

»Mutter will, dass alles so bleibt, wie es ist«, spuckte Lundquist trotzig aus.

»Sie befürchtet ihre Bedeutung für dein Leben zu verlieren«, sagte Dr. Palm; seine Stimme hatte mit einem Mal ein dunkles, beruhigendes Timbre bekommen.

»Sie weigert sich sogar, Weihnachten mit Magda zu feiern! Selbst Lisa hat schon gemerkt, dass mit Oma irgendetwas nicht stimmt.«

»Sie macht also so richtig Stimmung gegen Magda.« Lundquist knetete seine Finger, dann spreizte er sie und musterte sie kritisch, als könne er chiromantische Erkenntnisse gewinnen.

Er seufzte.

»Ja und nein«, sagte er und legte die Hände wieder auf die Armlehne. »Manchmal wirkt sie auch einfach nur traurig, vorwurfsvoll traurig, und an anderen Tagen keift sie sofort los, sobald Lisa sie nicht mehr hören kann.«

»Was hält die Kleine denn überhaupt von deinen Plänen?«

»Sie findet Magda toll. Die beiden unternehmen viel gemeinsam – auch wenn ich Dienst habe. An den Wochenenden sind wir nach Möglichkeit sowieso zusammen. Von meinen Heiratsplänen weiß sie allerdings noch nichts – Magda weiß es ja auch noch nicht«, sagte er und rutschte mit dem rechten Arm etwas fahrig an der Armlehne ab.

»Aber du glaubst schon, dass die beiden jungen Damen miteinander klarkämen?«, hakte Dr. Palm nach.

»Ja, schon. Ich glaube, Lisa wäre total begeistert, wenn Magda meine Frau würde.«

»Nehmt ihr deine Mutter auf eure Wochenendausflüge eigentlich manchmal mit?«

»Nein. Sie will nicht. Lieber sitzt sie schmollend in ihrer Wohnung und wartet auf meine Rückkehr, um mich mit Vorwürfen zu überschütten.«

In Lundquists Jacke meldete sich das Handy. Entschuldigend nickte er Dr. Palm zu und nahm das Gespräch an.

Gitte war mit Wehen ins Krankenhaus eingeliefert worden.

Drei Monate vor dem errechneten Endtermin! »Scheiße!«, fluchte Sven Lundquist, winkte Dr. Palm flüchtig zu und eilte aus dem Zimmer.

Mord im Hause des Herrn

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