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6.

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Kälte! Eisige Kälte. Wann hatte er jemals so unbeschreiblich gefroren? Noch nie in seinem Leben.

Instinktiv umklammerten seine Hände eine morsche Planke. Seit wann er hier im Wasser trieb, vermochte er nicht zu sagen. Als er zu sich gekommen war, hatte er sich weit abgetrieben von den Wracks befunden, viel zu weit weg. Es war unbeschreiblich schwer gewesen, die Augen zu öffnen. Dass es ihm gelungen war, grenzte an ein Wunder. Noch ein Wunder, denn eigentlich müsste er tot sein. Zerfetzt von der Explosion, als die Rochester auf das spanische Flaggschiff getroffen war, und doch lebte er. Allerdings wohl nicht mehr lange. Stefano war verwundert über die seltsamen Lichtreflexe auf der Wasseroberfläche, rosa, silbern, immer dann, wenn sich eine Welle bildete. Sein mühsam arbeitendes Hirn brauchte eine Weile, doch dann begriff er. Das Wasser war rot vom Blut der Toten und Verwundeten. Er spürte, dass es auch für ihn bald an der Zeit sein würde, doch der Gedanke daran machte ihn unbeschreiblich … wütend! Seine Versprechen waren ihm stets heilig gewesen und er hatte versprochen zurückzukommen – lebendig. Giannina, seine Mutter, er hatte es ihnen geschworen. Verflucht!

Eine Welle überspülte seinen Kopf, der Wind frischte auf und das Meer wurde unruhig. Ein letztes Mal den Himmel sehen. Stefano hob mit einer schier übermenschlichen Anstrengung den Kopf, seine Augen schmerzten höllisch. Der Rauch, das Feuer und die salzige See forderten ihren Tribut. Wolken fegten über das Firmament und verdunkelten immer wieder den Mond. Nun würde er den Nachthimmel nie wieder sehen. Er spürte den Tod, spürte den eisigen Hauch in seinem Nacken. Normalerweise hätte er sich dem Sensenmann widersetzt, ihn herausgefordert, doch dazu fehlte ihm Kraft … und Blut, das wohl nicht mehr in seinen Adern floss.

»Du hast gewonnen, du Scheißkerl! Aber ich warne dich, du wirst wenig Freude mit mir haben.« Mit diesen letzten, geflüsterten Worten an den schwarzen Wanderer löste Stefano die steifen Finger von der Planke und ließ los.

Bereits unter Wasser, fühlte er die starke Hand, die nach der seinen griff, und erfasste sie. Dann umgab ihn undurchdringliche Dunkelheit.

»Es ist absolut unfassbar. Der Kerl hatte literweise Salzwasser im Körper und ein paar Quäntchen Blut. Jeder andere wäre seit Stunden tot. Wie sehr muss er an diesem Leben hängen.«

»An diesem?« Luca de Marco warf einen zweifelnden Blick auf den großen Körper, der vor ihm in dem Fischerboot lag. »Das wird sich herausstellen. Hast du seine letzten Worte gehört? Wer sein Kommen dem Tod auf solche Weise ankündigt, muss schon aus einem besonderen Holz geschnitzt sein.«

»Wohl wahr, du darfst mir glauben, dass ich seinem Erwachen mit großem Interesse entgegensehe.«

Sein Gegenüber fuhr sich durch die langen silbernen Locken und warf einen suchenden Blick in Richtung Ufer.

»Luca, hier lebt niemand mehr. Rund um uns fühle ich keine weitere lebende Seele. Wir können nichts mehr tun. Ich denke, unser neuer Freund benötigt ab sofort unsere ganze Aufmerksamkeit. Lass uns verschwinden. Ich will nicht riskieren, dass er umgeben von seinen gefallenen Gefährten wieder zu sich kommt. Sein neues Leben sollte doch in einem friedvolleren Umfeld beginnen.«

Luca seufzte hörbar auf. »Du willst mir sagen, ich solle langsam wieder ans Ufer rudern?«

»Das kommt meinen Vorstellungen sehr nahe.«

»Raffaele!«

»Schon gut! Dann rutsch ein wenig. Wenn du mich alten Mann schon zwingst, Sklavenarbeit zu leisten, dann werde ich mich eben fügen.«

»Übertreib es nicht!«

»Niemals! Würde ich es wagen, mich einem Hüter zu widersetzen?«

»Würdest du, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Willst du weiter über Gehorsam philosophieren oder endlich zurück ans Ufer? Wir sollten den jungen Mann ins Warme und ins Trockene bringen. Nun rudere schon.«

Luca wusste zu gut, wann er sich einfach nur geschlagen zu geben hatte und so beließ er es bei einem leicht entnervten Kopfschütteln, ehe sie das Fischerboot, das sie sich »geliehen« hatten, binnen weniger Minuten zurück aufs Festland brachten.

Behutsam legte Luca den Körper des Fremden auf dem Bett ab. Raffaele schloss hinter ihm das Tor des weit abseits der nächsten Stadt gelegenen italienischen Gutshofes.

»Der Mann ist unglaublich. Er bekam doch lediglich ein klein wenig Blut, um ihn am Leben zu erhalten. Sieh dir das an.«

Raffaele nickte. »Ja, er scheint ein nicht ganz alltäglicher Mensch zu sein. Ich fühle in ihm einen unbändigen Lebenswillen, so etwas habe ich schon lange nicht mehr gespürt. Trotzdem, wenn er nicht umgehend wieder Blut in seine Adern bekommt, wird das alles wenig nützen.«

Er legte den nachtblauen Mantel, in den er gehüllt war, ab und ging zu dem eigentlich todgeweihten Mann, den Luca soeben zügig von seiner zerfetzten Uniform befreite.

Er zog eine weiche Decke über ihn und strich ihm das von Salzwasser verklebte schwarze Haar aus dem Gesicht. Raffaele stieß einen überraschten Laut aus.

»Was ist?«

»Sein Gesicht! Nach ziemlich langer Zeit im Meer, nach einer tödlichen Verwundung, er müsste eingefallen und kreideweiß sein. Der Kerl ist ein Naturwunder!«

Auch Luca betrachtete den vor ihm Liegenden sehr nachdenklich. »Seine Züge haben kaum etwas von ihrer Schönheit eingebüßt. Ich bin sehr gespannt, wie er erst aussieht, wenn er dein Blut in sich hat und erwacht.« Ein Lächeln huschte über die Züge des mächtigen Hüters. »Darum solltest du dich langsam auch kümmern, sonst werden wir es nie erfahren.«

Raffaele zog eine nachsichtige Grimasse. »Mach dir keine Sorgen, der Kerl ist stärker als wir alle, du wirst es sehen.«

Er band sich seine Locken zurück, zog einen winzigen Dolch aus seinem Hosenbund und öffnete sich mit einem sauberen Schnitt die Pulsader des rechten Armes. Luca hob den Oberkörper des Fremden vorsichtig an und legte dessen Kopf an seine Schultern.

»Jetzt!«

Raffaele hielt das Handgelenk, von dem langsam sein burgunderrotes Blut zu tropfen begann, an den Mund des Bewusstlosen. Sehr sachte schob Luca seine Finger zwischen dessen Lippen und öffnete so seinen Mund. Das kostbare Blut Raffaeles lief nun stetig zwischen die leicht geöffneten Lippen, und schon in der nächsten Sekunde schluckte der junge Mann gleichmäßig.

»Das ging ja schnell. Wenn ich bedenke, wie lange du oder auch Craigh gebraucht haben, ehe ihr begriffen habt, dass ihr schlucken müsst.«

In diesem Augenblick schlug der Fremde die Augen auf. Luca und Raffaele blickten in ein schwarzes Augenpaar, das sie einen Sekundenbruchteil verwirrt musterte, dann hob er die Hände, umschloss Raffaeles Handgelenk und trank in großen, tiefen Schlucken dessen Blut. Währenddessen ließ er die beiden nicht aus den Augen.

»Genug! Es reicht! Du bist außer Gefahr!« Vorsichtig zog Raffaele seinen Arm zurück und der Mann ließ sofort los. Das hatte er noch nie erlebt! Fast, als wisse der Fremde, dass sein Blut für ihn Leben bedeutete.

Er schloss den Schnitt in seiner Pulsader und blickte überrascht auf den Mann hinunter. Der sah zwar ein wenig erschöpft aus und sein Haupt ruhte noch an Lucas Schulter, aber sein Blick war wach und klar.

Während Luca ihn langsam zurück auf die Kissen legte, zog Raffaele sich einen kleinen Hocker ans Bett und setzte sich neben den soeben von den Toten Zurückgekehrten.

Fragend ruhte sein Blick auf dem Fremden, ihm fehlten zum ersten Mal seit ziemlich langer Zeit die Worte.

»Du siehst mich einigermaßen sprachlos. Dem Tod in letzter, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes allerletzter Sekunde aus den Fängen gerissen, kommst du in einer dir fremden Umgebung zu dir, trinkst das Blut eines Unbekannten und scheinst nicht im Geringsten verwundert zu sein.«

»Wenn ich fühle, dass neues Leben durch dich in meinen Körper fließt, dann wäre es töricht, es zurückzuweisen. Ich habe gespürt, wie du mir mein Leben zurückgegeben hast. Wie hast du das gemacht?«

Raffaele schüttelte verwirrt den Kopf. »Ganz langsam, mein Freund. Dürfen wir erfahren, wer du bist? Bitte nenne uns deinen Namen.«

»Stefano Borello, ich war Erster Offizier auf der Rochester

Luca horchte auf. »Einen Augenblick. Bist du der Kerl, der das dem Untergang geweihte Schiff in eine schwimmende Bombe verwandelte und damit die gefürchtete Santa Cruz auf den Grund des Meeres geschickt hat?«

Neugierig sah Raffaele zu Luca hinüber. »Woher weißt du das?«

»Die Menschen, die das Ufer nach Toten und Überlebenden absuchten, haben von nichts anderem gesprochen. Wir haben einem echten Helden das Leben zurückgegeben. – Also im Ernst, bist du das?« Luca war sichtlich begeistert.

»Ja, das bin ich wohl. Aber wie kommt es, dass ich die Explosion und dann Stunden im Wasser überlebt habe?«

»Du solltest auch noch die Kugel in deiner Brust erwähnen.« Luca deutete auf Stefanos Oberkörper. »Das war ein Riesenloch, sieh hin, es ist fast nichts mehr zu erkennen.«

Suchend wanderte Stefanos Blick über seinen Brustkorb. Mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen verfolgte er, wie sich das Loch, welches das Geschoss verursacht hatte, langsam zusammenzog und eine ziemlich große, verformte Gewehrkugel aus der sich schließenden Wunde austrat.

»Wie habt ihr das gemacht?«

»Das hast du selbst gemacht, mein Junge. Unser Blut hilft dir nur dabei.« Raffaele beobachtete genau jede seiner Regungen. Er war ihm fast schon unheimlich. Zu gefasst, zu ruhig.

»Euer Blut? Wer seid ihr? Ich habe dein Blut getrunken, was bewirkt es in mir, außer dass meine Verletzungen heilen?«

Eine kleine Weile fehlten Raffaele tatsächlich die Worte. Mit dieser Reaktion hatte er keinesfalls gerechnet.

Aber er fing sich schnell und antwortete Stefano wahrheitsgemäß.

»Du hattest mehr oder weniger kein eigenes Blut mehr in deinem Körper, das meine ersetzt es, wird dich aber auch verwandeln. Du wirst so werden wie wir. Wir konnten fühlen, dass du leben wolltest, nur darum haben wir dich gerettet. Ich hoffe, das war in deinem Sinne?«

»So werden wie ihr? Was bedeutet das?«

»Du bist dann ein Kind der Dunkelheit – vielleicht sagt dir die Bezeichnung, die die Menschen für uns haben, mehr: Du wirst ein Vampir.«

Raffaele musterte Stefano nach diesen Worten sehr genau. Der schwieg eine Weile, nur an seinen Augen konnte man erkennen, wie er diese Neuigkeiten zu begreifen versuchte. Zu Raffaeles Verwunderung dauerte es nur wenige Augenblicke, ehe Stefanos Reaktion erfolgte: »Ein Geschöpf der Nacht! Und ich hatte solche Angst, den Sternenhimmel nie mehr zu erblicken!«

Raffaele starrte fassungslos in Stefanos makelloses Gesicht. Lediglich an den strähnigen und vom Salzwasser verkrusteten Haaren konnte man erkennen, dass er noch vor Kurzem beinahe als Wasserleiche geendet hätte.

»Luca, das habe ich noch nie erlebt! Das ist einfach unfassbar! Egal wer, ein jeder haderte mehr oder weniger lange mit seiner Verwandlung. Selbst Craigh war in den ersten Stunden noch voller Furcht und Unsicherheit. Wenn ich Vittorio Glauben schenken darf, dann war sogar Sergej in der ersten Stunde vollkommen verwirrt. So etwas wie hier habe ich in fast zweitausend Jahren noch nicht erlebt.«

»Zweitausend Jahre? Im Ernst? Du bist schon zweitausend Jahre alt?«

Raffaele starrte Stefano an, als sehe er einen Geist. »Erschreckt dich diese Zahl denn nicht?«

»Nein.«

»Luca, ich bin zum ersten Mal in meinem Leben ratlos!«

»Warum? Nur weil Stefano nicht so reagiert, wie du es erwartet hast?«

»Verzeihung. Bei allem Respekt, aber sollte nicht ich derjenige sein, der ratlos ist? Schließlich habt ihr mir doch gerade erklärt, dass ich fast gestorben wäre und nun zu einem Kind der Dunkelheit geworden bin, nicht wahr?«

Luca konnte nicht mehr anders. Die Situation war einfach zu unwirklich. Sein Blick flog zwischen Raffaele und Stefano hin und her, und er musste lauthals lachen.

»Fantastisch! Stefano, ich kenne dich zwar noch kaum, aber du hast meinen Respekt! Du hast es fertiggebracht, dass ein Jahrtausende alter Vampir, das Oberhaupt des Clans der Venezianer, sprachlos ist.«

»Verzeihung, ich wollte niemandem zu nahe treten.«

»Das bist du nicht. Aber du bist wirklich außergewöhnlich. Deine Reaktion ist bisher tatsächlich einmalig.«

»Nun.« Stefano gähnte herzhaft. »Ich habe immer gern das Schicksal herausgefordert, dabei habe ich aber auch gelernt, das, was ich dadurch verursacht habe, anzunehmen. Meine Mutter meinte einmal, ich hätte mehr Glück als Verstand. Das mit dem Verstand vermag ich nicht zu beurteilen, das mit dem Glück sehr wohl. Ich habe alles erreicht, was ich mir in den Kopf setzte, ab und an mit derben Blessuren, aber ich habe es geschafft. Ich habe geschworen, dass ich lebendig zurückkomme, habe Giannina und meiner Mutter versprochen, nicht zu sterben und zu ihnen zurückzukehren. Es hat sich seltsam gefügt, doch ich kann mein Versprechen nun einhalten. Ich kehre zu ihnen heim.«

Stefano hielt in seinem Redefluss inne und sah Luca und Raffaele fragend an. »Warum seht ihr mich so seltsam an? Was ist los?«

Luca überlegte fieberhaft, wie er ihm so schonend wie möglich beibringen konnte, dass er damit schon auf die erste Hürde in seinem neuen Leben treffen würde. Doch hier verschaffte ihm die Natur noch ein wenig Zeit.

Stefano gähnte erneut.

»Ich bin so wahnsinnig müde. Es fühlt sich aber sehr angenehm an, keine störende Müdigkeit, eigentlich müsste ich jetzt schlafen, aber ich bin viel zu neugierig, um …« In der nächsten Sekunde schlief Stefano tief und fest.

»Na, wenigstens das hat er mit allen anderen gemein. Wenn jetzt auch noch sein heilender Schlaf nicht eingetreten wäre, dann wüsste ich wahrlich nicht mehr, was ich glauben soll.« Raffaele erhob sich stöhnend von dem für ihn viel zu kleinen Hocker und streckte seine langen Gliedmaßen.

»Sei so gut, Luca, und sag Fernando Bescheid, dass er die Läden schließt. Ich muss das alles erst einmal verdauen. Der Mann ist einfach unglaublich.«

Luca runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja, das ist er. In jeder Hinsicht. Irgendetwas sagt mir, dass wir mit ihm noch viele Überraschungen erleben werden.«

Geschenk der Nacht

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