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7.

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Stefano schlief, ohne es zu wissen, einen ganzen Tag und eine halbe Nacht. Als er erwachte, dauerte es eine kleine Weile, ehe es ihm gelang, sich zu orientieren. Er lag in einem breiten, bequemen Bett in einem dunklen, schönen Zimmer. Es war sehr leise hier, von draußen hörte er lediglich die Geräusche der Nacht. Grillen zirpten, lauter als sonst, er hörte den Ruf eines Käuzchens und das traurige Jaulen eines Hundes. Er hörte, wie Wind durch Zweige strich und das Rascheln von Blättern. Er konnte Wiesenblumen riechen, vermischt mit dem unvergleichlichen Duft von Lavendel. Eine solche Komposition aus verschiedenen Gerüchen hatte er noch nie erschnuppert.

Seltsam. Er erinnerte sich schon, als er den ersten Blick durch das Zimmer schweifen ließ. Hier war er wieder zu sich gekommen, nachdem eine rettende Hand ihn, in dem Augenblick, als er hatte aufgeben wollen, aus dem Meer gezogen hatte. Luca hieß der große Kerl. Stefano erinnerte sich an lange dunkle Haare, ein schmales Gesicht, mandelförmige Augen und an ein sehr sympathisches Lachen. Der andere, mit den seltsam silbernen Haaren und dem schmalen Bart erschien ihm irgendwie ernster, war anscheinend einer der Anführer, des … wie Luca sie genannt hatte … Clans der Venezianer. Vampire! Wesen, die Blut tranken und die Sonne mieden. So aufmerksam er auch in sich hineinhorchte, er fühlte keine Furcht. Alles erschien ihm auf seltsame, absurde Weise richtig. Er richtete sich vorsichtig auf, doch da war keinerlei Schmerz mehr, keine der Verletzungen, die er sich zugezogen hatte, war noch vorhanden. Stefano tastete neugierig über seinen Oberkörper – nichts außer glatter, gesunder Haut. Obwohl es im Zimmer finster war und nur der Mond ein wenig Licht durch die Lamellen der hölzernen Fensterläden fallen ließ, konnte er alles so scharf und genau erkennen, als sei es hell erleuchtet. Er war begeistert!

Allerdings verspürte er etwas ganz Eigenartiges: Eine seltsame, ihm fremde Art von Hunger!

Stefano warf die weiche Wolldecke zurück und stand auf. Oh, er sollte sich rasch etwas zum Anziehen suchen. Splitternackt konnte er wohl kaum in einem fremden Haus herumlaufen. Über einer Stuhllehne hing ein großes dunkelrotes Tuch, das er sich um die Hüften schlang. Er betrachtete sich staunend in dem großen Spiegel, der in einer Zimmerecke stand. Es war unfassbar! Er sah wieder ganz genauso aus wie früher. Nun gut, nicht ganz. Er war um einiges blasser als zuvor, aber seine Haut war makellos glatt, seine Muskeln waren perfekt, und seine Haare – Stefano seufzte, als er das Malheur auf seinem Kopf betrachtete. Grauenvoll, er ähnelte in fataler Weise einem Meeresungeheuer. Wie es aussah, hatten seine Retter ihn zwar gewaschen, seine langen Haare aber lieber doch nicht angerührt. Das musste er schleunigst ändern. Außerdem war da dieses Hungergefühl, das er sich nicht ganz erklären konnte. Wenn schon, sollte er dann nicht Durst verspüren? Er verknotete die Ecken des Tuches, so fest er konnte, warf noch einen letzten, prüfenden Blick auf sein Spiegelbild und schlich sich dann aus dem Raum. Am Ende des langen Gangs sah er eine große Pforte, das musste der Haupteingang sein. Zielstrebig lief er darauf zu und streckte schon die Hand nach dem dicken Knauf aus, als eine amüsierte Stimme erklang.

»Und wo, bitteschön, willst du jetzt hin?«

Stefano wirbelte herum, die Hand schon zu einer möglichen Verteidigung erhoben, als er Luca erkannte. Der Vampir saß lächelnd in einem breiten Ledersessel und sah ihn fragend an.

»Oh, hallo, ich wollte nur mal nachsehen, ob dort draußen ein Brunnen ist. Ich habe das dringende Bedürfnis, mir die Haare zu waschen, ansonsten sind sie wohl bald nicht mehr zu retten.«

»Guter Plan, mein Freund. Wenn es dich nicht stört, komme ich mit. Warte einen Moment, ich hole dir rasch noch etwas.«

Ehe Stefano richtig verstand, was Luca meinte, stand der schon wieder neben ihm und hielt ihm ein Stück duftende Seife unter die Nase.

»Das könnte helfen!«

»Stimmt, und nein, es stört mich nicht, wenn du mitkommst.«

Luca ließ ihm den Vortritt und Stefano trat hinaus in die Sommernacht.

Dort verharrte er in stillem Staunen. Sein Blick glitt über die Ebene vor ihm und dann hinauf zum Sternenhimmel.

»Ich wusste nicht, dass es so viele Sterne dort oben gibt, und ich habe mir immer eingebildet, ich könne gut sehen.«

»Das konntest du sicher auch, nur siehst du nun so viel mehr. Es ist zu Beginn ziemlich überwältigend.« Luca lächelte ihn aufmunternd an und dirigierte ihn zu einem großen gemauertem Brunnen in der Auffahrt zu dem weitläufigen Landhaus.

»Schon wieder Wasser!« Stefano verzog das Gesicht und Luca sah ihn überrascht an.

»Vor gerade einmal zwei Tagen wärst du um ein Haar unter dramatischen Umständen gestorben, und jetzt machst du schon wieder Scherze darüber?«

Stefano zuckte ratlos die Achseln. »Was soll ich denn sonst tun? Ich lebe, und nicht nur das, ich bin wieder komplett ich selbst, abgesehen von ein paar nicht unangenehmen Kleinigkeiten.«

Luca sprang auf den Rand des Brunnens und musterte Stefano. »Welche Kleinigkeiten?«

»Nun ja, ich bin ziemlich blass um die Nase, ich bilde mir das wahrscheinlich ein, da ich schon immer ziemlich eigen mit meinem Körper war, aber ich scheine ein paar Muskeln mehr mit in dieses neue Leben gebracht zu haben, ich kann Dinge riechen, die ich im Augenblick gar nicht sehe, und ich habe mich noch nie so gesund gefühlt.«

»Das klingt doch schon mal sehr befriedigend. Vorschlag: Du wäschst dir jetzt diese Unmengen von Salz und Tang aus deinen Haaren, und während sie trocknen, reden wir weiter?«

Stefano trat an den Brunnen, beugte sich kurz nach hinten, um dann mit Schwung seinen Kopf in dem klaren Wasser zu versenken. Als er prustend wieder hochkam, reichte Luca ihm die Seife und er wusch sich gründlich die schwarzen Haare, die ihm bis zur Hüfte reichten.

»Das fühlt sich schon besser an. So hätte ich meiner Familie nicht unter die Augen kommen können.«

»Das ist auch so ein Punkt, über den wir sprechen sollten. Willst du draußen bleiben oder wieder rein gehen?«

Stefano warf einen sehnsüchtigen Blick zum Himmel. »Wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich gern noch ein wenig hier bleiben.«

»Gern. Komm mit, dort drüben ist mein Lieblingsbaum.« Lächelnd deutete Luca auf einen entrindeten und polierten Baumstamm. »Auf dem kann man sitzen und liegen. Auch ich liege dort ab und an und starre in den Himmel.«

»Finde ich sympathisch. Wo ist denn eigentlich Raffaele?«

»Der ist nur rasch zu Fürst Massimo gefahren, der muss über ein neues Mitglied in der Familie Bescheid wissen. Das ist eine eherne Regel.«

»Verstanden. Und du führst mich jetzt in die Gewohnheiten der Vampire ein?«

»Das klingt bei dir so, als würdest du davon sprechen, eine neue Lektion in Latein zu bekommen. Fühlt es sich für dich denn so selbstverständlich an?«

Stefano nickte, dann schüttelte er den Kopf. »Ja und nein. Es ist schwer. Ich fühle viele Dinge, ich fühle viel Kraft in mir und ich ahne, dass ich noch lange nicht alles verstehe, was sich für mich verändert hat. Zum Beispiel habe ich Hunger. Ist das denn normal? Ich müsste doch eigentlich Durst haben? Kann ich denn noch Nahrung zu mir nehmen?«

»Im Prinzip kannst du das. So können wir bei Besuchen unter Menschen unsere wahre Identität verbergen, aber wir vertragen es nicht gut. Das heißt, ein klein wenig essen kannst du. Wenig, nur ein paar kleine Bissen, doch es hilft, den Schein zu wahren. Du kannst gegen Durst auch klares Wasser trinken, das schadet überhaupt nicht.«

»Wasser?«

»Ja, Wasser. Warum fragst du?«

»Was ist mit Wein?«

Luca grinste. »Davon muss ich dir – zumindest jetzt, so kurz nach deiner Wandlung – dringend abraten.«

»Aus welchem Grund?«

»Getränke, die Alkohol enthalten, stellen seltsame Dinge mit uns an. Wir können die Kontrolle über uns verlieren und das ist nicht gut, bitte glaub mir das.«

»Bleibt das so?«

»Eine ganze Weile hättest du keine Kontrolle über das, was du tust, wenn du Alkohol zu dir nimmst. Je erfahrener du wirst, desto besser wird es. Irgendwann kannst du ihn in kleinen Mengen trinken. Er, wie soll ich es dir erklären, regt unser Liebesleben ein wenig an.«

Stefanos breites Grinsen schien ihm alles zu sagen.

»Sekunde, Stefano, ich sagte: Jetzt noch nicht.«

»Keine Angst, ich habe schon zugehört. Und um mein Liebesleben mache ich mir auch so keine Sorgen. Ich heirate demnächst.« Stefano erkannte sofort, dass er ein heikles Thema angesprochen hatte. Lucas Miene wurde sehr ernst. »Luca, was hast du?«

»Du vergisst da etwas, Stefano. Du bist kein Mensch mehr. Du …«

»Das weiß ich doch. Aber Luca, ich lebe! Das ist doch alles, was zählt! Ich habe den Menschen, die ich auf dieser Welt am meisten liebe, geschworen, dass ich zu ihnen zurückkehren werde, und nun kann dieses Wunder geschehen.«

»Stefano, halt ein! Ich versuche es noch einmal. Es wäre schön, wenn du mich aussprechen ließest. Du bist kein Mensch mehr. Du kannst die Sonne nicht mehr ertragen und du brauchst menschliches Blut, um zu überleben. Du kannst am Tag dein Zuhause nicht mehr verlassen und in der Nacht blühst du auf. Du bist ein Vampir, Stefano! Normale Menschen reagieren meist mit Angst auf uns, sobald wir ihnen zeigen, was wir sind.«

Er hörte Lucas Worte sehr wohl, nur glauben konnte er ihm nicht. »Denkst du, es wäre ihnen lieber, wenn ich tot wäre? Gestorben dort auf der Rochester und nun auf dem Grund des Meeres liegend?«

»Ich befürchte, dem ist so. So können sie um dich trauern, können deinen Verlust verarbeiten. Wie soll denn deine Verlobte den anderen Bewohnern eures Ortes erklären, warum du dich nie wieder bei Tage blicken lässt? Hast du eine Ahnung, wie schnell die Schergen der Heiligen Kirche bereit stünden, um Jagd auf uns zu machen? Auf die Ausgeburten der Hölle! Stefano, unser Geheimnis muss gewahrt werden, wenn du es preisgibst, gefährdest du nicht nur dich, sondern auch uns.«

Stefano fühlte Kälte in sich aufsteigen. »Luca, Giannina ist mein Leben. Sie würde mich nicht fürchten, ebenso wenig würde sie mich je verraten. Was bedeutet mir ein Leben ohne sie? Es wäre alles sinnlos!«

»Nein, wäre es nicht. Nach meiner Wandlung glaubte ich, meine komplette Familie sei tot, ausgelöscht von den Schlächtern der Reconquista. Erst kurz bevor ich damals Andalusien verließ, erfuhr ich, dass meine kleine Schwester noch lebte. Ich war überglücklich, doch ich wusste auch, dass sie mich nicht sehen durfte. Sie lebendig zu erblicken, ihr Lachen zu hören, ihre Stimme, bedeutete mir alles. Ich habe über die Kinder der Dunkelheit stets für sie gesorgt. Habe, als sie starb, in der Nacht nach ihrer Beerdigung an ihrem Grab geweint, doch sie wusste nie, dass ich noch existierte.«

»Das ist grausam.«

»Nein, Stefano, das ist unser Schicksal.«

Luca erkannte sofort, dass Stefano sehr mit dem, was er soeben erfahren musste, haderte. Er musste ihn vorerst auf andere Gedanken bringen.

»Hattest du nicht gesagt, du verspürst Hunger?«

Sofort ruckte Stefanos Kopf hoch. »Ja, das ist wahr. Ich habe immer noch Hunger.«

»Das, was du als Hunger empfindest, ist tatsächlich Durst. Möchtest du diesen Hunger stillen?«

»Kann ich das denn?«

»Natürlich, wie sollst du sonst überleben? Wir trinken von Menschen, jedoch töten wir sie dabei nicht. Im Gegenteil, sie genießen unsere Nahrungsaufnahme sogar, wenn wir uns anständig benehmen. Warte, ich zeige es dir.«

Luca wandte sich um und rief durch die offen stehende Haustür. »Isabell! Kommst du bitte zu uns heraus?«

»Wer ist Isabell?«

»Sie und Mario kümmern sich um dieses Haus.«

»Ist sie ein Mensch?«

»Ja, das ist sie. Ein sehr lieber Mensch. Du wirst bald erfühlen können, was für ein Mensch dir gegenüber steht. Du wirst fühlen können, ob er gut oder böse ist. Ah, da kommt sie.«

Isabell, die etwas rundlich, jung und recht hübsch war, trat schüchtern heran. Das dunkle Haar war im Nacken zu einem Knoten geschlungen und sie trug ein braunes Kleid, das um die Hüfte mit einem gelbgoldenen Tuch geschmückt war. Nervös knetete die junge Frau ihre Hände.

»Signor de Marco, was darf ich für Sie tun?«

»Für mich heute nichts, liebe Isabell, aber für unseren hungrigen neuen Freund hier. Darf ich dir Stefano vorstellen? Würdest du ihm gestatten, sich ein wenig von dir zu nähren?«

Leichte Röte überzog Isabells Wangen, als sie zaghaft nickte.

»Selbstverständlich, Signor de Marco, es ist mir eine Ehre.«

Sie trat näher, ging vor dem auf dem Stamm verharrenden Stefano auf die Knie und legte den Kopf leicht schief.

Stefano starrte Luca hilflos an.

»Was muss ich tun?«

»Geh näher an ihren Hals heran, rieche sie, fühle sie. Spürst du, was in deinem Mund geschieht?«

Stefano näherte seine Lippen dem dargebotenen Hals der Frau. Ja, nun fühlte er es, seine Eckzähne verlängerten sich, füllten seinen Mund aus. Die Sehnsucht nach dem Blut, das dort unter ihrer Haut pulsierte, wuchs ins Unermessliche. Ein Stöhnen kam aus seiner Brust, das er nicht unterdrücken konnte. Er spürte, wie er begann zu zittern.

»Luca, ich habe Angst sie zu verletzen, ihr weh zu tun. Sie ist eine Frau.«

»Ich bin hier, ich bin bei dir. Ich passe auf, dass du die Kontrolle nicht verlierst. Spürst du, was sie für ein Mensch ist?«

Stefano konnte nur noch nicken. Ja, er spürte, dass sie ein offener, ehrlicher und liebevoller Mensch war. Instinktiv wusste er, dass er sie nicht verletzen würde, dennoch war er froh, Luca neben sich zu wissen. Der nickte ihm aufmunternd zu und mit einem Seufzen versenkte Stefano seine Zähne in Isabells Hals. Sofort spürte er, wie die Frau erzitterte und er spürte noch etwas, die aufwallende Erregung und die Lust, die er ihr allein dadurch bereitete, dass er von ihr trank. Er nahm sich zurück, trank sehr langsam, streichelte gleichzeitig ihren Rücken und ihren Hals, fühlte, wie sich ihre kleinen Hände in seinen Oberschenkel gruben und hörte genau dann auf zu trinken, als sie leise stöhnte. Er erinnerte sich gesehen zu haben, wie Raffaele seine Pulsader verschlossen hatte und leckte kurz über die Bissspuren an Isabells Hals. Tatsächlich. Die Wunden verschlossen sich und er half Isabell vorsichtig hoch. Ein Blick zu Luca zeigte ihm, dass der sehr zufrieden mit ihm war.

»Perfekt! Besser hättest du es nicht machen können. Raffaele hat recht, du bist fast unheimlich.« Lucas Lächeln zeigte ihm, dass er die letzten Worte nicht ganz ernst meinte.

Stefano war erleichtert. Er griff nach Isabells Hand und küsste sie vorsichtig. »Vielen Dank, liebe Isabell.«

Die junge Frau knickste vor den beiden Vampiren und eilte mit geröteten Wangen zurück ins Haus.

»Es geht ihr sehr gut. Du warst behutsam und hast genau so viel getrunken, wie du brauchtest. Ich sehe schon, du lernst sehr schnell.«

»Danke. Darf ich dich um etwas bitten?«

»Natürlich, was möchtest du denn?«

»Erzähl mir von deiner Verwandlung, davon, was du gefühlt hast. Wie kam es bei dir dazu?«

Luca seufzte leise und Stefano begann zu ahnen, dass es nicht leicht für den neuen Freund war, darüber zu sprechen.

»Wenn es für dich zu schmerzvoll ist, dann musst du es natürlich nicht tun.«

»Nein. Es ist kein Problem mehr. Ich kann mittlerweile ganz gut darüber reden. Schließlich sind in der Zwischenzeit über zweihundert Jahre vergangen und der Schmerz ist nur noch vage vorhanden, doch vergessen wird man ihn nie.« Luca legte sich wieder zurück auf den Stamm und sah eine kleine Weile schweigend in den Himmel. Stefano setzte sich ihm im Schneidersitz gegenüber und wartete geduldig.

Wo beginnen? Luca ordnete so gut wie möglich seine Gedanken. Es war bei Weitem leichter zu sagen, dass die Schmerzen nachließen, als mit ihnen umzugehen. Ab und an erschienen ihm die zweihundert Jahre wie ein Wimpernschlag, an anderen Tagen schienen die damaligen Ereignisse Ewigkeiten entfernt. Er schöpfte tief Atem und erzählte Stefano, was damals in Andalusien geschehen war, erzählte vom Tod seiner Eltern, seines Bruders und der Menschen, die mit ihnen gelebt hatten. Als er zu dem Teil kam, in dem er von Ana berichtete, schlich sich ein bitterer Unterton in seine Erzählung. Auch heute noch war es ihm unmöglich, an die wundervolle Frau zu denken, ohne dass es ihm fast das Herz zerriss. Anas Freitod tat noch immer unendlich weh. Er versuchte Stefano zu vermitteln, wie es sich tief in der Seele anfühlte, wenn man alles verloren glaubte, erzählte ihm sodann, wie befreiend es war, denjenigen sterben zu sehen, der all dieses Grauen verursacht hatte.

Luca beendete seine Geschichte mit seiner Ankunft in Tunesien und seinen Lehrjahren bei Fürst Abdallah und dessen Sohn Habib.

»Es war Fürst Abdallah, der Raffaele einst ermunterte, seiner ersten Intuition zu vertrauen und mir mitten in einem wichtigen Zweikampf das Schwert der Hüter zu reichen. Und siehe da, es gehorchte mir. Somit war ich der vierte Hüter, den sie gefunden hatten. Nach mir kam dann noch Angel, doch seither trat niemand mehr hervor.« Luca lächelte Stefano verschmitzt an. »Wer weiß, vielleicht bist du ja einer? Außergewöhnlich genug wärst du.«

Zwischen Stefanos Augen erschien eine steile Falte. »Ganz ehrlich, das glaube ich nicht. Ich habe ein, wie soll ich es nur sagen, Gehorsamkeitsproblem. Ich tendiere dazu, mich in sehr problematische Situationen zu manövrieren und tue meist das Gegenteil von dem, was man von mir erwartet.« Offenbar in Gedanken versunken, spielte Stefano mit den Enden des Tuches, das um seine Hüfte geschlungen war. »Allerdings habe ich bis jetzt nie jemandem damit geschadet … also niemandem, der es nicht verdient hätte, dass man ihm schadet. Weißt du, was ich zu sagen versuche?«

Luca nickte. »Ja, durchaus. Ab heute aber musst du auch noch bedenken, dass du überdurchschnittlich stark bist, dass dein Blick andere beeinflussen kann, dass du, je nachdem, wie du dein Gegenüber ansiehst – sofern du es darauf anlegst – Schmerz oder Glücksgefühl verursachen kannst.«

Der Hüter achtete sorgsam auf jede von Stefanos Reaktionen. Er fand jedoch nur Neugier und große Wissbegier, keinen Triumph, keine voreilige Überheblichkeit. Luca konnte fühlen, dass, wenn Stefanos Fähigkeiten behutsam geschult und ausgebildet würden, er eine wichtige Rolle im Leben der Kinder der Dunkelheit zu spielen vermochte. Allerdings spürte er auch etwas Beunruhigendes. Er konnte die Sehnsucht fühlen, die in Stefano tobte, sobald dessen Gedanken zu seiner Verlobten wanderten. Fieberhaft überlegte er, wie er ihn, zumindest solange die Situation so neu für den jungen Vampir war, ablenken konnte. Sein Blick huschte zum Nachthimmel. Ihnen blieben noch etwa zwei Stunden bis Sonnenaufgang.

»Stefano, würde es dir Freude machen, deine neuen Fähigkeiten etwas besser kennenzulernen?«

»Sehr sogar! An was denkst du?«

»Daran, dass du jetzt erst mal eine vernünftige Hose anziehst und wir als Erstes deine Schnelligkeit und als Nächstes deine Kraft herausfordern. Hinter dem Anwesen beginnen Wälder – ein perfektes Gebiet für uns. Lass uns die Zeit bis zum Sonnenaufgang nutzen. Ich ahne schon jetzt, dass du mich auch hier wieder überraschen wirst.«

»Ich tue mein Möglichstes!«

Geschenk der Nacht

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