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Prolog Neapel, März 1693

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NOCH NIEMALS WAR IHR DER WEG HINUNTER zum Strand so weit vorgekommen wie in dieser Nacht. Der Vollmond erleuchtete die Klippen vor Neapel, ließ die mattgrauen Steine in silbernem Licht erstrahlen. Die Flut hatte eingesetzt und die Brandung traf mit brachialer Gewalt auf die mächtigen Felsen, die ihr seit Jahrhunderten trotzten. Sie durfte nicht gesehen werden, musste sich abseits der Wege zum Ufer tasten. Der Nachtwind trug die Gischt bis zu ihr hinauf, überzog die glatten Steine mit einem Film aus Tausenden von Wassertröpfchen. Lucia schlang den wärmenden Umhang fester um ihren schmerzenden Leib, Wolkenfetzen tanzten über den Himmel, ein Tanz, der sich in ihren wirren Gedanken wiederholte. Schmerz durchzuckte für Sekunden ihren Körper. Ihre Hand tastete nach der in festen Stoffwickeln eingeschnürten Wölbung unter ihrer weiten Kleidung. Das Kind begann sich zu regen, kräftig und unerbittlich.

»Ich bin hier, in dir! Kannst du mich fühlen? Ich habe ein Recht zu leben, hörst du mich?«

Sie hielt sich die Hände vor die Ohren, doch das half nichts. Die Stimme ihres ungeborenen Kindes ließ sich nicht einfach ausschalten. Seit sieben Monaten trug sie das Kind nun unter dem Herzen. Sieben Monate, in denen niemand ihre Schwangerschaft bemerkt hatte. Niemand! Selbst Domenico ahnte nichts. Es war schwer gewesen, es ihm zu verheimlichen, doch es war ihr gelungen. Sie sei krank, hatte sie ihm erzählt, wolle nicht berührt werden. Und dann, ein einziger unbedachter Moment, und er hatte die sanfte Wölbung bemerkt, war schier verrückt geworden vor Freude. Ein Kind, sein Kind! Geliebter Domenico! Gerade ihm wollte sie niemals Schmerz zufügen und doch …

Ja, es war sein Kind, aber in seinen Adern würde auch sein Blut fließen. Durch ihre eigene Schuld! Wie hatte sie es nur geschehen lassen können? Seine Augen! Diese Augen, die in die Seele blicken konnten, die alles durchdrangen, die sie in Wärme gehüllt und ihr Sicherheit versprochen hatten. Nein, sie durfte nicht ungerecht sein. Er hielt sein Versprechen, war ihr seither fern geblieben – er war nicht fähig zu lügen. Je näher sie dem Ufer kam, desto kräftiger wehte der Wind. Ihr langes schwarzes Haar löste sich aus dem Knoten am Hinterkopf und fiel ihr in das blasse Gesicht. Nur noch wenige Schritte trennten sie vom Meer. Wieder regte sich das Kind in ihrem Leib. Spürte es, was sie tun wollte? Sie würde mit ihm sterben, würde ihr Kind nicht allein in den Tod schicken. Wie sehr wünschte sie, dass all dies nicht sein müsste, aber was, wenn das Kind anders wäre, wenn es würde wie er?

Mühsam hielt Lucia sich aufrecht, atmete tief die salzige Luft ein. Noch ein paar Meter.

Sie spürte ihn, ehe sie seine Stimme vernahm, seine Präsenz, seine mächtige Aura. Ein Zittern lief durch ihren Körper, das Kind trat mit aller Kraft gegen ihre Bauchdecke.

»Bleib stehen!«

»Wozu? Ich habe mich von dir losgesagt, du hast keine Macht mehr über mich.«

Er stand neben ihr, ehe sie zu reagieren vermochte.

»Dummes Mädchen! All dies hat mit Macht nichts zu tun. Sieh mich an. Habe ich dir jemals wehgetan?«

Lucia schüttelte schweigend den Kopf.

»Habe ich deine Bitte, nicht mehr zu dir zu kommen, erfüllt?«

Sie konnte nur nicken.

»Wieso willst du dich und das Kind dann töten?«

»Weil ich um deine Kräfte weiß, weil ich dein Blut in meinen Adern hatte, als dieses Kind gezeugt wurde. Durch mich wird das kleine Geschöpf nun ebenfalls dieses Blut in sich tragen. Ich habe Angst! Angst davor, wie es sein könnte.«

Er streckte seine Hand aus und legte sie an ihre Wange. Sacht drehte er ihr Gesicht zu sich. Sein Blick aus diesen leuchtend blauen Augen versank in ihrem.

»Dieses Kind wird stark sein, einen eigenen und festen Willen haben. Es wird Domenicos Sanftheit, dein Temperament und, ja, es wird auch ein wenig von mir in sich tragen. Und es wird leben!«

Lucia riss sich mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft von ihm los. »Das darfst du nicht von mir fordern. Wie soll ich ein Kind zur Welt bringen, das zu einem Teil ein …«

»Dieser Teil sei meine Sorge! Ich bedaure es wahrlich, denn selten war mir ein menschliches Wesen so lieb und teuer wie du es warst, nein, es immer noch bist. Doch du hast keine Wahl! Dieses Kind wird leben! Hörst du mich? Sieh mich an.«

Dieses Mal war seine Hand unerbittlich. Seine langen, schlanken Finger schlossen sich um ihr Kinn und sein Blick hielt den ihren fest.

»Lucia, du wirst weder dich noch dieses Kind töten. Hörst du mich?«

Sein Geist drang tief in Lucias Bewusstsein, schaltete ihr eigenes Denken aus, nahm ihr die Angst und hüllte sie in einen Kokon aus Wärme.

»Sprich, Weib! Was wird geschehen?«

»Das Kind wird leben, ich werde Domenicos Sohn zur Welt bringen.«

»Du wirst mich hier und heute das letzte Mal sehen. Ich werde nie wieder in dein Leben zurückkehren. Doch dieses Kind wird Erinnerungen in dir wachrufen, die ich nicht verhindern kann. Sei stark, Lucia. Ich weiß, wie stark du sein kannst!«

Sie sah in sein überirdisch schönes Gesicht, das so kühl und ernst war wie immer und wusste, dass alles so geschehen würde, wie er es von ihr forderte. Niemand konnte sich ihm widersetzen. Vielleicht würde die Natur ihren Weg gehen und das Schicksal über Leben und Tod entscheiden?

Er seufzte leise und runzelte verärgert die Stirn. »Lucia, Weib, ich bin das Schicksal, wann wirst du das verstehen?« Er schob sie von sich, sein Blick wanderte hinunter zu ihrem Bauch, seine Hand strich sanft über die kaum sichtbare Wölbung unter ihrem Kleid. »Er wird stark werden, und du wirst Kraft brauchen, um die Geburt zu überstehen. Ein letztes Mal kann ich dir heute diese Kraft geben.«

Lucia spürte sein Handgelenk an ihren Lippen, ehe sie ihm hätte antworten können. Sie konnte und wollte sich nicht wehren, schluckte gierig, so wie sie es schon früher getan hatte. Als er sich nach einem allerletzten Kuss auf ihre Wange zurückzog, fühlte sie die Kälte, bedauerte, dass es vorüber war.

»Lebwohl, meine Schöne! Du wirst einen wundervollen Sohn zur Welt bringen!«

Sie erhaschte einen letzten Blick auf seine blauschwarze Haarflut und seine beeindruckende Silhouette, bevor er für immer in der Nacht verschwand.

Geschenk der Nacht

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