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1.
Neapel, Mai 1718

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DOMENICO WAR NERVÖS. Immer wieder spähte er neugierig gen Horizont, doch das Schiff, das er zu sehen erhoffte, zeigte sich noch nicht.

»Es hieß, dass die Ana Maria erst am Nachmittag in Neapel ankommt. Auch wenn du noch so viele Löcher in den Horizont starrst, er wird nicht früher kommen.«

Lächelnd wandte Domenico sich um. »So lass mich doch aufgeregt sein, mein Herz. Unser Sohn wird heute zurückkehren und er wird nicht mehr länger ein einfacher Matrose, sondern er wird ein Offizier der königlichen Marine sein.« Seufzend richtete er sich auf und rieb sich den schmerzenden Rücken. Es war für ihn nicht mehr so leicht wie einst, mit den schweren Netzen zu hantieren, sie zu flicken, zusammenzulegen und ordentlich wieder in seinem Fischerboot zu verstauen.

Lucia betrachtete ihn mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. »Er sollte hier sein, hier an deiner Seite, und sich seinen Lebensunterhalt verdienen, wie es auch alle vor ihm getan haben. Aber nein, der Herr muss ja zur See fahren, muss weg von Italien, weg von uns, vom Gestank der Fische.«

»Lucia, bitte nicht. Er war so lange bei uns. Niemand kann behaupten, er habe es nicht versucht. Er gehört nicht hierher, du weißt das ebenso gut wie ich. Unser Sohn suchte die Herausforderung, wann immer er konnte. Fischer zu sein, das war nie seine Bestimmung.«

»Ach! Aber für uns alle war es gut genug? Sieh dich doch an. Du arbeitest dich Tag für Tag ab, und erzähl mir nicht, dass es dich mit Freude erfüllt, nächtelang auf dem Meer zu sein und mit den Elementen zu kämpfen. Dort hätte er ebenso gut die Möglichkeit gehabt, sich zu beweisen. Dieses Handwerk fordert Mut, Kraft und Entbehrung. Ich hatte gehofft, er würde das erkennen.«

Lucias Stimme war sehr leise gewesen, als sie den letzten Satz gesagt hatte. Nachdenklich betrachtete sie ihre Hände. »Ich hatte es so sehr gehofft.«

»Liebes, du kennst ihn. Er ist doch unser beider Sohn. Von der ersten Minute an, vom ersten Atemzug an, suchte er stets die Herausforderung. Wo andere zögerten, lief er los, wo andere sich fürchteten, lachte er nur, er hat die Welt im Sturm für sich gewonnen. Es gab keinen Grund, warum er Nacht für Nacht die Netze auswerfen sollte. Auch kannst du ihm keinen Vorwurf machen, dass er sich nicht um uns sorgen würde. Du weißt, wie viel von seinem Sold er nur dafür ausgibt, dass wir ein anständiges Leben haben. Nein, nein, du bist ungerecht zu ihm.« Domenico kratzte sich grübelnd an seinem mit Bartstoppeln übersäten Kinn. »Wenn ich es mir recht überlege, so warst du stets ungerecht zu ihm. Egal, wie stolz er auf etwas war, das ihm gelang, obwohl es unmöglich schien. Stets hast du ihn gerügt, ihm Vorhaltungen gemacht, dass er sich und andere in Gefahr brächte. Das war oft eine Enttäuschung für ihn. Er wünschte sich immer so sehr, dass du stolz auf ihn wärst. Ist es denn so schwer, sein ungestümes Wesen anzunehmen? Ihn einfach nur zu lieben?« Domenico legte die Netze sorgfältig in das Boot, um sie in der nächsten Nacht zügig auswerfen zu können, und ging dann auf seine Frau zu. Seufzend schloss er die schweigende Lucia in seine Arme.

»Er wünscht sich doch nur Anerkennung und dass wir ihn so akzeptieren, wie er nun einmal ist.«

»Ich habe Angst um ihn. Ich will ihn nicht verlieren. Sein Wagemut wird ihn eines Tages das Leben kosten.« Lucia wand sich ein wenig in Domenicos Umarmung. »Du weißt, dass ich ihn liebe.«

»Ja, das weiß ich. Und nun verscheuch deine ewige Angst um unseren Jungen. Komm, geliebtes Weib, wir ziehen unsere guten Sachen an, holen Giannina und gehen zum Hafen. Wir wollen ihn doch gebührend begrüßen.«

Zwei Stunden später stand Lucia in ihrem Sonntagskleid, gemeinsam mit dem aufgeregten Domenico und der noch viel aufgeregteren Giannina, der Verlobten ihres Sohnes, an der Anlegestelle für die großen Segler. Sie waren nicht allein. Lucias Blick irrte über die vielen Menschen, die sich entweder das Spektakel nicht entgehen lassen wollten, wenn das nächste riesige Schiff anlegen würde, oder die, so wie sie, auf den Sohn, Vater oder Bruder warteten. Ihr Blick traf auf Domenico, der, nervös von einem Bein aufs andere hüpfend, den Horizont fixierte. Wie sollte sie ihm nur klarmachen, was in ihr vor sich ging? Das konnte sie nicht, das würde sie nie können. Nie würde Domenico verstehen, wie sehr sie Stefano liebte, mehr als alles andere auf dieser Welt. Nur darum war sie stets in Sorge um ihn, nur darum verfolgte sie seine waghalsigen Unternehmungen mit Argwohn. Stefano war wild und ungestüm, dennoch nahm er alles und jeden im Sturm für sich ein. Egal was er in Angriff nahm, es gelang ihm, er biss sich durch alle Probleme und Schwierigkeiten und gelangte stets an sein Ziel. Nicht immer ohne Blessuren, aber immer mit Erfolg. Tief in ihrem Innern wusste Lucia, warum das so war. Sie musste nur in die Augen ihres Sohnes blicken. Sie waren von einem solch dunklen Braun, dass sie fast schwarz erschienen, doch das irisierende Blau, das sie oft in seinem Blick suchte, fand sie nicht. Nein, Stefano hatte ihre und Domenicos Augen – aber es war das Blut eines anderen, das sie so oft fühlte. Er hatte sie gewarnt. Er hatte ihr gesagt, ihr Kind würde sie an ihn erinnern. Und das tat Stefano! Tag für Tag! Wie oft sah sie ihm zu, wenn er sich unbeobachtet glaubte, wenn er unten am Meer von den Klippen sprang und sich ohne Furcht und lachend in die Tiefe stürzte. Wenn er in letzter Sekunde die sich zurückziehenden Brecher erwischte, die verhinderten, dass sein Körper auf den Felsen zerschellte. Stets zog sich ihr Herz schmerzerfüllt zusammen, bis sie ihn auftauchen sah, draußen in der wilden Brandung, seine langen blauschwarzen Haare glänzend im grellen Schein der heißen Sonne. Nein, Domenico würde niemals verstehen, wie sehr sie Stefano liebte und er würde niemals erfahren, warum. Guter, lieber Domenico! Sie trat auf ihn zu und umfasste fest seinen Arm.

»Er kommt sicher gleich. Jeden Augenblick wird es soweit sein. Wenn du vorab wegen deiner Aufregung einen Herzanfall erleidest, dann hilft das deinem Sohn auch nicht.« Lächelnd schmiegte sie sich an ihn.

»Giannina, komm doch zu uns. Gleich hast du ihn wieder.«

Giannina starrte aufs Meer hinaus. Sie konnte es kaum noch erwarten.

»Das sagt sich leicht! Über fünf Monate war er nun fort. Nur zwei Briefe habe ich bekommen. Es fühlte sich an, als seien es fünf Jahre gewesen.« Giannina lächelte schuldbewusst und errötete ein wenig. »Er hat mir so sehr gefehlt!« Sie sah ihre zukünftigen Schwiegereltern fast schon entschuldigend an. »Ihr versteht das doch sicher?«

Domenico umfasste nun seinerseits den Arm seiner Frau etwas fester und zog sie enger an sich. »Und wie wir das verstehen, meine Kleine!«

Giannina zog eine leichte Grimasse und ließ ihren Blick erneut über den Horizont schweifen … und dann erspähte sie die Umrisse des großen Seglers, der dort in der Ferne auftauchte. »Sie kommen, dort ist die Ana Maria, sie kommen!«

Mit vor Aufregung glühenden Wangen zeigte sie hinaus aufs Meer. Ungeduldig warf sie ihre langen Haare zurück und zupfte sich die weiße Bluse zurecht. Ihr Blick glitt an ihr hinab. Würde sie ihm gefallen? Oder würde er nun an schöne, edle Damen gewöhnt sein? Jetzt, da er ein Offizier war? Hatte er sie womöglich vergessen? Unsicher strich Giannina sich ihren langen, roten Rock glatt, unter dem sich die Spitze des frisch gewaschenen und nur für diesen Anlass mit einem neuen Band versehenen weißen Unterrocks hervorstahl. Ihre schmale Taille hatte sie mit einem schönen bunten Tuch betont und ihr dunkles Haar trug sie extra offen, da sie wusste, wie gut ihm das gefiel. Zögerlich betrachtete sie ihre von der Sonne gebräunten Arme, wohl wissend, dass diese Farbe sich in ihrem Gesicht wiederholte. Sie war nun einmal keine edle Dame mit weißer Haut – wollte sie auch gar nicht sein. Aber würde Stefano das jetzt noch gutheißen? Giannina hörte auf, an sich herumzuzupfen und zu ziehen. Es nutzte ja alles nichts. Sie würde schon sehen, ob er sie noch haben wollte. Draußen, auf dem eindrucksvollen Dreimaster, hatte man mittlerweile die Segel fast gänzlich eingeholt. Nur die Fock war noch gehisst, um die Einfahrt in den Hafen zu erleichtern. Schon konnte man die Befehle, die gerufen wurden, hören und sie konnte die ersten Matrosen erkennen, die eifrig über die Deckplanken eilten, um sie auszuführen. Sie hob die Hand, um ihre Augen vor der Sonne zu beschatten und besser sehen zu können. Wo war er denn? In dem Gewimmel an Bord vermochte sie ihn nicht auszumachen, zumindest zuerst, denn dann ging der Segler gemächlich längsseits. Die leicht beängstigende Bugfigur wandte sich langsam ab und Giannina konnte den ersten Blick auf das Achterdeck werfen. Dort waren die Offiziere inzwischen angetreten und sorgten dafür, dass alles reibungslos ablief. Sie erkannte Stefano sofort!

Er mochte nicht mehr der Jüngste sein, aber seine Augen waren allemal noch hervorragend. Domenico sah seinen einzigen Sohn auf den ersten Blick. Kein Wunder. Schließlich war Stefano der größte Mann an Deck. Sein langes schwarzes Haar war im Nacken streng zusammengefasst, umso besser konnte man sein edles Gesicht erkennen. Eine Welle des Stolzes überflutete Domenico bei seinem Anblick. Er sah so gut und so eindrucksvoll aus, dass er es kaum zu begreifen vermochte, dass das dort sein eigener Sohn war. Das Schiff legte an, die Taue wurden festgebunden und der Anker wurde zu Wasser gelassen. Der aufgeregte Mann erhaschte einen Blick auf den Kapitän, der sich von den Offizieren und der in Reih und Glied angetretenen Mannschaft verabschiedete, und endlich gingen die Ersten von Bord. Als Stefano über die breiten Holzplanken schritt, hüpfte Domenico schier das Herz aus der Brust. Sein Sohn in Offiziersuniform! Er hatte es geschafft, wieder einmal war aus einem der Pläne, die Stefano sich in den Kopf gesetzt hatte, Realität geworden. Anerkennende Blicke der Herren und bewundernde der Damen folgten dem jungen Offizier auf seinem Weg zu seiner Familie.

Stefano lief mit dem für ihn so typischen breiten Lächeln auf die drei Menschen zu, die sein Leben waren. »Giannina, meine Morgensonne, du bist ja noch schöner geworden!« Stefano breitete lachend die Arme aus und seine Verlobte warf sich strahlend hinein. Himmel, was hatte er sie vermisst! Ihr fröhliches Lachen, ihre blitzenden Augen, ihre wunderschönen Lippen, ihren himmlischen Körper. Er drückte sie so fest an sich, dass sie nach Luft japste.

»Stefano, wenn du willst, dass sie am Leben bleibt, solltest du sie langsam wieder loslassen.« Die warme Stimme seines Vaters rief ihn zurück in die Gegenwart und grinsend ließ er von Giannina ab.

»Gütiger Himmel, man wird sich doch noch freuen dürfen.« Sein Blick wanderte über den vor Glück strahlenden Vater zu seiner erwartungsvoll, aber doch ziemlich ernst an dessen Seite stehenden Mutter.

»Mama, freust du dich denn gar nicht, dass ich wieder hier bin? Du siehst ja fast schon traurig aus.«

Seine Mutter wehrte heftig ab. »Nein, nein, keinesfalls! Ich bin, um ehrlich zu sein, noch dabei, deinen Anblick zu verdauen. Du siehst so … beeindruckend aus. Du weißt sehr wohl, dass ich glücklich bin, dich wieder hier zu wissen.«

Lucia hob den Kopf, um ihn zu begrüßen und fand sich schneller, als sie reagieren konnte, in einer festen Umarmung ihres Sohnes. Sie schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn, so fest sie konnte.

»Stefano, ich bin sehr froh, dich wieder bei uns zu haben.«

Er fühlte ihre Tränen an seinem Hals und setzte seine Mutter sanft auf dem Boden ab. »Mama, was hast du denn? Ich bin wieder hier und ich bin gesund. Alles ist gut. Du sollst doch nicht weinen, du weißt, dass ich das nicht ertrage.« Liebevoll streichelte er die Wange seiner Mutter und wischte ihr vorsichtig die Tränen ab.

»Es tut mir leid, es sind Tränen der Erleichterung, also wirst du sie mir wohl gestatten müssen.« Lucia gelang sogar ein kleines Lächeln, als sie zu ihm nach oben sah.

»Na, dann will ich mal nicht so sein. Vor Freude zu weinen, sei dir ausnahmsweise gestattet.«

Lachend küsste er seine Mutter auf die Stirn. Wenn sie doch endlich davon ablassen könnte, fortwährend in Sorge um ihn zu leben. Stefano drückte sie noch einmal aufmunternd an sich, ehe er sich seinem Vater zuwandte.

»Papa, ich sehe, zumindest einer freut sich so richtig mit mir über das, was ich erreicht habe.« Stefano überragte seinen Vater um fast einen Kopf, und so verschwand Domenicos Gesicht an seiner breiten Brust, als er ihn freudig in seine Arme nahm.

»Das darfst du aber getrost glauben. Ich platze fast vor Stolz. Deine harte Arbeit, dein Ehrgeiz und deine Geduld haben sich ausgezahlt.«

Es war etwas schwer, Domenico zu verstehen, und so trat Stefano einen kleinen Schritt zurück. »Du kannst sicher deutlicher sprechen, wenn ich dir nicht dicke Silberknöpfe an die Stirn quetsche.«

Es war schön, wieder daheim zu sein. Stefano legte seinen Arm um Gianninas Schultern und hakte seine Mutter unter. »Kommt, lasst uns gehen. Ich sehne mich nach etwas Vernünftigem zu essen. Nichts gegen die Verpflegung für die Offiziere, aber ich habe deine Küche schon sehr vermisst, Mama.«

Mit Freude nahm er ihr Strahlen zur Kenntnis. Endlich! Er konnte nur hoffen, dass sie sich mit ihm über das, was er erreicht hatte, freuen würde, vielleicht irgendwann. Was allerdings geschehen würde, wenn er seiner Familie von seinen neuesten Plänen erzählte, das verdrängte er für den Augenblick lieber.

Geschenk der Nacht

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