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Zehntes Bild

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Um Punkt Achtzehn Uhr machte sich der Sehr Kleine Traurige Herr, wie jeden Tag, auf den Nachhauseweg, auch wenn er heute sehr viel später als sonst auf seiner Bank gesessen hatte. Er drückte den Knopf an der Ampel, um den Fußgängern eine grüne Phase zu bescheren. Wie immer klopfte es sacht in dem gelben Knopfkasten. Oder klopfte es in dem Ampelpfeiler? Der Gedanke war ihm noch nie gekommen. Der Sehr Kleine Traurige Herr legte sein Ohr an das kalte Metall. In der Tat. Es klopfte aus dem Pfeiler! Die Ampel schaltete auf Grün, ein elektrisches Summen wie ein Stromschlag hallte im Inneren des Pfeilers wieder, gefolgt von einem hysterischen Hämmern. Er hüpfte vor Schreck in die Höhe, ging aber nicht über die Straße, sondern legte sein Ohr wieder an den Pfeiler. Es trommelte darin gegen das Metall wie ein Maschinengewehr. Die Ampel schaltete wieder auf Rot und das langsame Klopfen stellte sich ein, gefolgt von einem verzagten, kurzen Piepsen. Was war denn das? Er drückte abermals den Knopf, um zu sehen, ob sich das Hörspiel wiederholte. Und tatsächlich. Das Umschalten, das hysterische Trommeln, das Zurückschalten und langsame Klopfen, gefolgt von einem verzagten Piepsen. Er musste es noch einmal versuchen. Er drückte den Knopf und war gerade dabei, sein Ohr abermals an den Pfeiler zu drücken, als er ein unmissverständliches, dumpfes Schimpfen aus dem Inneren der Metallröhre vernahm. Was die Worte waren, konnte er nicht ausmachen. Aber es schimpfte eindeutig aus dem Ampelpfeiler an der Kreuzung seines Parks. War etwa ein Lebewesen darin gefangen? Wenn dem so war, musste er es retten! Der Sehr Kleine Traurige Herr sah sich eifrig nach einem Gegenstand um, der ihm helfen konnte, das Metall aufzubrechen. Normalerweise liegt jedoch kein Schlagbohrer einfach so auf der Straße herum. [Wenn das überhaupt das passende Instrument wäre, um dieses Metall zu durchdringen.]

Nachdem er mehrere Minuten nach etwas Geeignetem gesucht hatte und die Ampel von einer Grün- wieder zu einer Rotphase übergegangen war, wollte er schon aufgeben. Da kam ihm der Gedanke, zunächst das Wesen in der Ampel von seinem Plan zu unterrichten. Vielleicht wusste es Rat, auf welche Art und Weise eine solche Tat zu vollbringen sein könntewäresollte. Er näherte sich mit dem Mund dem Metall und sprach sehr deutlich, so dass es der Gefangene darin hören musste.

ICH WILL SIE BEFREI-EN. DOCH LEI-DER SCHEINT SICH IN UN-MIT-TEL-BA-RER NÄ-HE NICHTS ZU BE-FIN-DEN, WAS GE-EI-GNET WÄ-RE, DAS ME-TALL AUF-ZU-BRECH-EN!

Das Klopfen verstummte.

Der Sehr Kleine Traurige Herr wollte gerade seine Worte wiederholen, als eine piepsige, sehr leise Stimme, die von weither zu kommen schien, aus dem Inneren des Pfeilers antwortete.

Nicht nötig. Sie müssen nur den Knopfkasten dazu bringen sich von selbst zu öffnen.

Erleichtert richtete sich der Sehr Kleine Traurige Herr auf. [Was für ein Glück!]

Wie bringe ich den Knopf dazu?

Die Stimme aus dem Inneren antwortete leise. Nur wenn Sie hundert mal hundert Mal den Knopf im Dreivierteltakt mit ihrem kleinen Finger der linken Hand drücken.

Hundert mal hundert? Also Zehntausend Mal? Der Sehr Kleine Traurige Herr guckte auf seinen linken kleinen Finger. Ihm wurde schummerig zumute. Dann fasste er sich ein Herz.

Ich tue es! Rief er aus. Hätten ihn Passanten dabei gesehen, die heute seltsamerweise ausblieben, hätten sie ihn in der Tat für einen verrückten Alten gehalten.

Die ersten hundert Mal gingen ihm noch leicht von der Hand. Die Stimme im Inneren piepste jeden Knopfdruck mit und sang dazu die Ouvertüre der Fledermaus. Doch ab dem dreihundertsiebzehnten Drücker begann sich sein Finger zu verkrampfen und zu schmerzen. Erst wurde er weiß, dann wurde er rot und schwoll an, als hätte er ihn in kochendes Wasser gehalten. Vor Schmerzen stiegen dem Sehr Kleinen Traurigen Herren die Tränen in die Augen. Es dunkelte langsam. Das Zählen und Drücken wollte kein Ende nehmen. Bei siebentausendsiebenhundertsiebenundsiebzig glaubte er ohnmächtig zu werden. Aber er fuhr fort. Um nicht zu fallen, hielt er sich mit der rechten Hand an dem Pfeiler fest. Das Blut in seinen Ohren rauschte. Er spürte seine linke Hand nicht mehr, die dennoch automatisch die Bewegung weiter ausführte. Er öffnete und schloss mehrmals die Augen, um die Tränen wegzublinzeln, da er keine seiner Hände zum Dienst des Wegwischens entbehren konnte. Sämtliches Blut war nun aus seiner linken Hand gewichen, sie sah aus wie eine weiße Krallenklaue. Aus der Ferne hörte er das Wesen endlich Zehntausend!!! KICK!!! piepsen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Oder war es nur die Nacht um ihn herum? Er kippte mit der Stirn gegen den Pfeiler, der Knopfkasten gab ein unwirkliches Kraksen von sich, fiel auseinander und spaltete den Metallpfeiler in der Mitte in zwei gleiche Teile.

Ein klitzekleiner Buntspecht, arg zerrupft und sehr mager, flatterte aus dem Inneren hervor.

Matt öffnete der Sehr Kleine Traurige Herr sein rechtes Auge.

Da bist du ja. Sagte er, heiser vor Erschöpfung.

Da bin ich. Kick! Piepste der kleine Specht und setzte sich zart auf die verkrüppelte linke Hand des Sehr Kleinen Traurigen Herren.

Gut. Sagte dieser. Gehen wir nach Hause.

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