Читать книгу IRGENDLAND - Geertje Boeden - Страница 6

Viertes Bild

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Falsch. Das Mädchen war wieder einmal falsch abgebogen. Besonders überraschend war das nicht.

[Dabei hat der große Herr mit dem Schal den Weg so logisch erklärt.]

Nun. Das erst Mal war es nicht, dass es in die falsche Richtung gelaufen war.

[Also, einfach umdrehen und zum Ausgangspunkt zurück. Die andere Ecke wählen. Warum auch nicht.] Ein Tropfen traf Das Mädchen genau auf den Nasenrücken. Natürlich musste es jetzt anfangen zu regnen. Glücklicherweise hatte es immer einen Schirm dabei. Mit nachlässiger Handbewegung griff es in die tiefe Tasche des roten Mantels und brachte einen kleinen, weißen Schirm mit einer Vielzahl unregelmäßiger, schwarzer Punkte zum Vorschein. Die Punkte stellten sich bei näherer Betrachtung als Löcher heraus, aus denen das Wasser fein nach unten sprühte. Das Mädchen störte sich jedoch nicht an dem lecken Schirm und lief entschlossen in die andere Richtung.

Die Häuserzeilen standen in diesem Teil der Stadt nicht so eng beieinander, vielmehr zeigten sie Züge des vergangenen Großbürgertums und dessen Wohllebens. Früher beherbergten die Bauten nur jeweils eine Familie mit ihren Dienstboten.

[Mit eigenem Garten vor ihren gutbürgerlichen Häusern, heute kollektiv genutzt von mehreren Kleinfamilien, die sich zwischen Stuck und Parkett ihren Schicksalen stellen.

Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, hier danach zu suchen?]

Die Bäume auf dem Bürgersteig hingegen zeigten Spuren von Mehltau, die Blätter hatten braune Flecken, durchlöchert, als spiegelten sie die Krankheit einer Stadt wider, die sich selbst verzehrt.

[Wenn die Bäume nicht gesund sind, wie sollen es dann die Menschen sein? Bald werde ich wohl noch zum Ökoterroristen.] Das Mädchen bog nach links ab. Blieb kurz stehen, blickte zurück in die andere Richtung. War es vorhin von hier gekommen, oder war es doch die rechte Seite gewesen?

[Moment mal. Vielleicht wüsste ich besser, wo ich langgehen soll, wenn ich nicht an Bäume denken würde, sondern zur Abwechslung darauf achte, wo ich langgehe!] Es schüttelte verärgert über sich selbst den Kopf, machte einen zögerlichen Schritt nach rechts. Blickte wieder nach links in die Straßenrichtung, in der es abgebogen war, stoppte wieder.

Man soll ja seinem Gefühl folgen. Dachte es sich und ging also in die spontan gewählte Richtung auf der Straße weiter. Was ist jedoch, wenn sich das Gefühl immer als falsch erweist?

[In jeder Stadt bin ich anders. Passend zum Ortsschild strömen die Erinnerungen auf mich ein. Menschen und die Gefühle von damals sind mir wieder nah, und dann weiß ich nicht mehr, wie ich mich am nächsten Tag anziehen soll. Zu viele Städte. Wie man mich genannt hat, habe ich vergessen. Meinen Namen habe ich vergessen.] Das Mädchen tauchte aus seinen Gedanken auf, die Augen fanden ihren Blick wieder und erkannten die Umgebung nicht mehr. Abermals hatte das zerebrale Grübelmeer es an einem ganz anderen Stadtteilufer ausgespuckt. Neubauten, kleine Kioske, ein wenig schmuddelig. Ein, zwei Penner mit den Rücken an die Häuserfassaden gelehnt, Alkoholdunst verströmend.

Na toll. Das Mädchen seufzte und schritt weiter aus, zur Ampel, und passierte dabei einen der Alkoholseligen.

Der Penner lallte freundlich. Du bist hier aus Rumänien … Ich möchte deine Sprache kennenlernen.

Etwas irritiert, aber ohne anzuhalten überquerte es die Straße. Auf der anderen Seite blieb es vor der großen spiegelnden Fensterscheibe einer Post stehen und blickte zu dem freundlichen Penner zurück, der in derselben Haltung dort verharrte. Vermutlich hatte er seine Worte schon wieder vergessen. Unwillkürlich versenkte sich Das Mädchen jetzt in die eigene Reflexion im Fenster und musste lächeln.

[Wie sieht denn jemand aus Rumänien aus? … graugrüne Augen? Aschblonde Haare? Müssten mal wieder gewaschen werden. Roter, fast bodenlanger Mantel, tiefe Taschen. Wie alt?] Prüfend näherte es sich mit dem Gesicht der Scheibe und schob die Nase hin und her. [Alterslos.] Worin diese Alterslosigkeit genau bestand, war schwer zu sagen. Zu viel Gleichmut vielleicht, oder im Gegenteil, zu viel Trotz?

[Langsam wird es draußen Schummerstunde.] Die Wolken spiegelten sich rosa in den Fenstern. [Wahrscheinlich gibt es sie eben doch nicht! Wer hört schon auf einen Traum? …]

Immer wenn es dunkelt, kommt der Traum.

Die Alte Dame blinzelt und rückt ihren Hut zurecht.

Das, was du suchst ist nicht ausleihbar. Es existiert, strenggenommen, gar nicht. Und ich kann es dir nicht zeigen. Nur wenn du mir etwas dafür gibst.

Was soll ich Ihnen geben? Ich habe ja nichts.

Ein Sturm kommt auf und zieht einem wie eine unterirdische Meeresströmung die Beine weg. Die Antwort der Alten Dame ist schon nicht mehr zu verstehen, denn ihre Stimme wird immer leiser, wie von einem immer lauter werdenden Flügelrauschen überdeckt. Sie bewegt nur noch ihre Lippen, aber die Worte können einen nicht mehr erreichen. Ein gelber Rabe auf einem Fahrrad fliegt in hohem Bogen um die Alte Dame und die umherstiebenden Blätter. Er trudelt wie im Wirbelsturm umher, bis er immer kleiner und kleiner zu einem Samenkorn wird. Das Samenkorn wächst und kommt immer näher, es hat kleine, haarige Fühler, oder Strahlen, wie eine Sonne, und verdeckt nach und nach die Alte Dame, die ohne Unterlass die Lippen bewegt, ohne einen Laut von sich zu geben.

Was sagen Sie??? Ich kann Sie nicht verstehen!!! Verzweifelt krallt man sich an den Brettern fest. Das Holz reißt einem die Hände blutig und die Blutstropfen wirbeln mit den Blättern der Bücher hinfort. Man wird von dem Sog ergriffen. Man kann spüren, dass etwas hinter einem ist … aber, wenn man jetzt zurückblickt, ist alles verloren. Der wütende Sturm wird immer stärker, die Finger rutschen vom Holz ab. Die Gelenke knacken. Es ist, als würden die Füße von Ketten nach hinten gezogen. In dem Moment, da man den Halt verliert, erwacht man. Das Herz rast. Jede Nacht derselbe Traum.

[Wo war nun diese vermaledeite Bibliothek?]

Für heute musste Das Mädchen aufgeben, nun war es schon fast dunkel. Jetzt hatte es keinen Sinn mehr.

Es stieß die Luft geräuschvoll durch die Nase aus und machte sich auf den Heimweg. Zumindest würde es das tun, sobald es herausgefunden hatte, wo genau es gelandet war.

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