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Drittes Bild

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Der Sehr Kleine Traurige Herr arbeitete schon lange Zeit nicht mehr in dem Geschäft für Briefmarken und Schreibwaren. Dennoch konnte er es sich nicht nehmen lassen, jeden Morgen zur selben Zeit aufzustehen, wie er es getan hatte, als er noch dort arbeitete, sich mit einem Waschlappen zu waschen, sorgfältig die Zähne zu putzen, die Haare zu kämmen, seine Nasen- und Ohrenhaare zu stutzen, die Fingernägel zu reinigen und nach einer kleinen Tasse Krümelkaffee mit einem Champignonschmelzkäsetoast, die Wohnung in der Seitenstraße ohne Aufzug zu verlassen und zu seiner früheren Arbeitsstelle zu fahren. Oftmals saß er dann dort auf einer Bank mit stillem Lächeln und wartete. Hätte man ihn gefragt, worauf, hätte er selbst wohl keine Antwort geben können. Er wusste nur, dass er auf dieser Bank warten musste. Das war die Überzeugung des Sehr Kleinen Traurigen Herren. Wie er zu dieser Einsicht gekommen war, hatte er vergessen.

Jeden Morgen, außer sonntags, stieg er in die S-Bahn und fuhr zu der Station, die er so gut kannte. Danach wanderte er ruhig ein paar Meter durch den Park und lächelte verhalten den ihn entgegenkommenden Menschen zu. Ob sie ihn sahen oder nicht. Ein grauer Metallzaun grenzte einen Schrottplatz von dem Park ab, zu dem man gelangte, indem man über eine kleine Überführungsbrücke lief. Die S-Bahn, die man aus dieser Perspektive von weitem sehen konnte, hatte ihn schon als kleines Kind immer an Raupen erinnert, die sich gemächlich durch die Stadt schoben.

Hatte sich das Licht verändert? Ein plötzlicher Nieselregen sprühte feinen Tau über den Weg und in das Haar des Sehr Kleinen Traurigen Herrn, so dass es aussah, als säßen kleine Raureiftropfen darin. Er strich sich nebenbei über den Kopf und dachte dabei versonnen an die Raupenbahnen seiner Kindheit.

Heute sollte er jedoch nicht die S-Bahn nehmen. Denn als er den Bahnsteig um 7.23 Uhr betrat, 5 Minuten vor der regulären Ankunft derselben, stand diese bereits auf dem Gleis, abfahrbereit. Niemand war auf dem Bahnsteig zu sehen. Der Sehr Kleine Traurige Herr schaute sich um.

Wie seltsam. Aber warum einmal nicht von der täglichen Routine abweichen. Dachte er sich. Woher diese Abenteuerlust kam, wusste er nicht. Er fühlte sich heute auf sonderbare Art beseelt und wollte eben den Knopf zum Öffnen der Türen drücken, als er entdeckte, dass es keinen Knopf gab. Auch die Konsistenz der Außenwand des Zuges sah verändert aus. Sie glänzte feucht vom Regen, aber das war noch nicht alles. Sie schien von organischer Qualität zu sein. Vorsichtig tastete er mit seinen Fingerspitzen an der Außenwand entlang. Sie war warm, ledrig-gummiartig, etwas glitschig durch den Regen. Die Berührung ließ den Zug erschauern, als wäre er ein lebendiges Wesen. Der Sehr Kleine Traurige Herr trat ein paar Schritte zurück und trippelte unentschlossen erst nach links und dann nach rechts. Vielleicht konnte ihm der Zugführer Auskunft geben.

Aber da war kein Zugführer. An der Front des Zuges angekommen, schaute der Sehr Kleine Traurige Herr in zwei große schwarze, glänzende Augen, die ihn freundlich anglubschten. Es war eine Raupe. Nach wenigen Momenten des gegenseitigen Anstarrens setzte sich das Tier in Bewegung.

[Eine Raupe, die sich vorsichtig aber stetig an den Gleisen entlang schiebt.] Der Sehr Kleine Traurige Herr blickte ihr hinterher.

Jetzt hatte er doch tatsächlich zum ersten Mal in seinem Leben die S-Bahn verpasst.

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