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DAS U-BOOT IN DER ANNAGASSE Dorothea Neff
Wien 1., Annagasse 8

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Dorothea Neff war Schauspielerin am Deutschen Volkstheater in Wien, als sich im September 1940 eine Kostümbildnerin bei ihr meldete, die sie aus einem früheren Engagement in Köln kannte. Die Besucherin hieß Lilli Wolff und wurde als Jüdin von den Nationalsozialisten verfolgt. Sie hatte es aus Angst um ihren kranken Vater verabsäumt, rechtzeitig ins Ausland zu fliehen und war – in der irrigen Ansicht, in der »Ostmark« eher überleben zu können – nach Wien gekommen.

Lilli Wolff hauste in einer Baracke im zweiten Bezirk, bis sie im Winter 1941 die Mitteilung bekam, in ein Arbeitslager nach Polen überstellt zu werden. Sie ging zu Dorothea Neff, um sich zu verabschieden. Die Schauspielerin ahnte, was der »Transport« bedeutete und forderte Lilli Wolff deshalb auf, sich auf keinen Fall am angegebenenTreffpunkt einzufinden, sondern zu ihr in die Annagasse 8 zu kommen. Dort, im so genannten Täublerhof – einem vermutlich nach Plänen von Johann Lukas von Hildebrandt errichteten Barockbau, in dem einst Wiens Kupferstecherakademie untergebracht war –, lebte die gebürtige Münchnerin Dorothea Neff schon seit einigen Jahren.

Von diesem Tag an teilte sie ihre Wohnung mit Lilli Wolff, die diese nun bis Kriegsende nicht mehr verlassen konnte. Mit einem »U-Boot« zu leben, sei die Hölle, erzählte Dorothea Neff später. Sie ernährten sich von einer Lebensmittelkarte, mit dem Ergebnis, dass Lilli Wolff eine schwere Anämie bekam und Dorothea Neff bei einer Größe von 1,75 Meter nur noch 45 Kilogramm wog.

»Ich konnte in all den Jahren in meiner Wohnung keinen Menschen empfangen«, erinnerte sich die Neff. »Und wenn sich ein Besuch nicht vermeiden ließ, versteckte sich Lilli in der Kohlenkiste. Immer wenn ich von der Probe heimkehrte, drehte ich voller Angst den Schlüssel im Schlüsselloch um und dachte: Was ist in der Zwischenzeit geschehen?«

Im August 1944 wurde die ohnehin dramatische Lage von einer akut lebensbedrohlichen Krise überschattet, als Lilli eine Geschwulst an ihrer Brust entdeckte. Dorothea Neff besorgte einen gefälschten Ausweis, mit dessen Hilfe sie ein Spitalsbett für die Freundin bekam. Lilli Wolff wurde operiert und kehrte dann, ohne dass ihre Identität bekannt wurde, zurück in die Annagasse.

Kurz vor Kriegsende nahm Lillis Anämie so bedrohliche Ausmaße an, dass erneut ärztliche Betreuung notwendig wurde. Dorothea Neffs Wohnung befand sich im ersten Stock, im vierten wohnte der Medizinstudent Erwin Ringel, zu dem sie so großes Vertrauen hatte, dass sie eines Tages an seine Tür klopfte und ihn geradeheraus fragte: »Ringel, können Sie Injektionen geben?«

Der später als Psychiater berühmt gewordene junge Mann bejahte und führte von nun an Lilli Wolffs Behandlung durch.

Am Ostersonntag des Jahres 1945 konnte Dorothea Neff ihre Freundin zum ersten Mal als freien Menschen auf die Straße führen. Es dauerte noch lange, bis Lilli Wolff sich an das Gefühl gewöhnt hatte, nicht mehr verfolgt und in Gefahr zu sein.

Dorothea Neff erblindete 1967 infolge einer Netzhautablösung, trat aber weiterhin am Volkstheater und in Fernsehrollen auf. 1980 als Lebensretterin vom Staat Israel mit der Yad Vashem Medaille ausgezeichnet, verbrachte die Schauspielerin ihren Lebensabend in einer Wohnung in der Taubstummengasse 13 auf der Wieden, in der sie 1986 im Alter von 83 Jahren starb. Lilli Wolff war nach dem Krieg in die USA ausgewandert, sie starb dort 1982 im Alter von 86 Jahren.

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