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»BIS DER BUB IN PENSION GEHEN KANN« Mein Leben als Gerichtssaalreporter
ОглавлениеHin- und hergerissen zwischen neuen Einbahnregelungen, blutigen Überfällen und Künstlerinterviews, wurde ich bald auch noch als Gerichtssaalberichterstatter eingesetzt. Ich schrieb über große Prozesse, etwa gegen den Wiener »Einbrecherkönig«, gegen eine junge Frau, die einem Killer den Auftrag gab, eine Nebenbuhlerin zu »beseitigen«, und über einen angesehenen Grazer Oberlandesgerichtsrat, von dem bekannt wurde, dass er niemals Jus studiert hatte. Während des Prozesses, der sich über Wochen hinzog, stellte sich auch die Frage, ob die von dem falschen Richter im Lauf von zwei Jahrzehnten gefällten Urteile ihre Gültigkeit behalten würden. Man entschied sich für deren Beibehaltung, da Neuverhandlungen auch nur eines Teils der von dem Hochstapler gefällten Schuldsprüche weder zeitlich noch technisch durchführbar gewesen wären.
Zur »Gerichtsshow« wurde eine Klage, die Ivan Rebroff gegen eine Produktionsfirma anstrengte, die das vereinbarte Honorar für eine Sendung mit Weihnachtsliedern schuldig blieb. Es kam zu einem Vergleich, doch als der pseudorussische Sänger erfuhr, wie hoch sein Anteil an den Verfahrenskosten sein würde, schlug er dem Richter vor, statt in Schilling »in Noten« zu zahlen: »Ein Ton von mir kostet 500 Schilling, die Verhandlung macht 5000 Schilling, das sind zehn Töne.« Der Barde stellte sich mit weit ausgebreiteten Armen hin und setzte zum ersten Ton an – wurde aber vom hohen Gericht zurückgepfiffen. Gerichtskosten sind in Österreich immer noch in der gültigen Landeswährung zu begleichen, und die hieß damals Schilling.
Ich ging jeden Morgen ins Landesgericht, um über – meist viel ernstere – Fälle zu schreiben. Kaum hatte mich Wiens Staranwalt Michael Stern als regelmäßigen Berichterstatter wahrgenommen, lud er mich auch schon zum Frühstück in seine Kanzlei, was zwar eine große Ehre war, aber kein besonderes Vergnügen, zumal »der alte Stern« um fünf Uhr früh zu frühstücken pflegte.
Stern erzählte Anekdoten aus seinem Advokatenleben, etwa die von einem Dachdeckergehilfen, den er verteidigte, weil er seinen berufsmäßigen Zugang zu Wohnhäusern für Diebestouren missbraucht hatte. Nachdem Dr. Stern vor Gericht eine Notlage konstruierte, die man als mildernden Umstand werten sollte, fragte der Vorsitzende nach dem Wochenverdienst des Dachdeckers. Worauf dieser eine Summe nannte, die den Richter staunen ließ: »Das ist ja mehr als mein Monatsgehalt!«
»Natürlich, Herr Rat«, argumentierte der Angeklagte, »aber i arbeit ja was!«
Im hohen Alter schlief Stern zuweilen während der Verhandlungen ein, wachte aber stets dann auf, wenn es darum ging, seinen Mandanten mit einem brillanten Plädoyer vor einer hohen Strafe zu bewahren. Am Schluss forderte er die Geschworenen auf, dem Angeklagten zu einem Freispruch zu verhelfen, da dieser garantiert schuldlos sei. Dies müsse man einem greisen Anwalt glauben, »dessen nächster Prozess schon vor dem Jüngsten Gericht stattfinden« würde, da er bereits »mit einem Fuß im Grab« stünde. In diesem »stand« er dann rund zwanzig Jahre, in denen zahllose Geschworene Tränen in die Augen schossen. Mit ähnlichen Worten rettete Stern auch eine der Abtreibung verdächtigte Hebamme vor der sicheren Verurteilung. Obwohl viele Indizien gegen die »Engelmacherin« sprachen, gelang es ihm einen Freispruch zu erwirken, weil die Abtreibungen, wie Stern behauptete, nie stattgefunden hätten. Leider erklärte die Frau dem Richter zum Entsetzen ihres Advokaten nach dem Ende des Prozesses: »Vielen Dank, Herr Rat! Und ich werd’s auch sicher nimmer mehr machen!«
Stern war einer von dreißig jüdischen Anwälten, die nach 1938 als Rechtskonsulenten »nichtarische Klienten« vertreten durften. Dies verdankte er seiner nichtjüdischen Frau Edith, die sich weigerte, sich von ihm scheiden zu lassen, und ihn damit vor der sicheren Verfolgung schützte.
Nach dem Krieg erlangte Dr. Stern Ansehen als Anwalt prominenter Klienten, aber auch in spektakulären Strafprozessen. Das bekannteste Stern-Zitat ist auf seinen Sohn Peter, den sogenannten »jungen Stern«, bezogen, der in jenen Tagen auch schon um die sechzig war, nicht jedoch über das Verteidigertalent seines Vaters verfügte. Ich habe diese Geschichte schon geschrieben und in Lesungen erzählt, sie ist aber so pointiert, dass ich sie auch hier nicht auslassen möchte:
Als der nun 88-jährige Michael Stern gefragt wurde, wie lang er noch als Anwalt tätig sein würde, antwortete er, sorgenvoll in die Zukunft blickend: »Fünf Jahr muss ich noch arbeiten, bis der Bub in Pension gehen kann.«
Der alte Stern verfehlte dieses Ziel um nur wenige Monate, er lebte (und verteidigte) noch viereinhalb Jahre, ehe er am 2. Dezember 1989 im Alter von 92 Jahren in seiner Kanzlei starb.