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Der Mann, der alles liefern kann

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So wie viele andere Geschäftsleute versucht auch Sigmund Bosel, ab dem Herbst 1914 bei den verschiedenen Flüchtlingslagern Lieferaufträge aufzureißen. Ende Dezember müssen in der österreichischen Reichshälfte schon mehr als 290.000 Flüchtlinge und Zwangsevakuierte versorgt werden, Anfang Jänner 1915 sind es schon über 320.000. Die Aufteilung der Flüchtlingsmassen führt zu heftigen Konflikten zwischen dem Ministerium und den lokalen Behörden, die sich häufig gegen die „Ostflüchtlinge“ wehren. Die größten Aufnahmelager entstehen in Niederösterreich, wo die Heimatlosen abhängig von ihrer Volksgruppenzugehörigkeit, ihrer Sprache und ihrer Religion in unterschiedlichen Orten untergebracht werden.16

Während die Flüchtlingslawine für die Behörden eine enorme logistische Herausforderung war, entstand für umtriebige Lieferanten wie Sigmund Bosel vor der Haustür ein riesiger Absatzmarkt. „Unter all den Lieferanten, die sich bemühten, Lieferungen in den benötigten Bedarfsartikeln zu erlangen, glückte es hauptsächlich Sigmund Bosel, ins Geschäft zu kommen. Er bekam anfangs kleinere Aufträge, die er zur vollsten Zufriedenheit seiner behördlichen Auftraggeber erledigte“, wie es in der Schilderung von Karl Franz heißt. „Das Vertrauen zu ihm hob sich. Immer mehr und mehr kam er ins Geschäft, immer größere Aufträge wurden ihm zugeteilt.“ Bosel erwirbt den Ruf, ein Tausendsassa zu sein, der einfach alles beschaffen und liefern kann.17

Der damalige niederösterreichische Statthalter Oktavian Regner Freiherr von Bleyleben und sein Landesamtsdirektor Bruno Graf Castell-Rüdenhausen werden auf den tüchtigen Lieferanten aufmerksam. Bosel handelt ein Vergütungsschema aus, das ihm von den Einkäufen im Auftrag der Behörden eine entsprechende Provision garantiert: sechs Prozent von jeder Rechnungssumme als Honorar und 9 Prozent als Aufwandsersatz. Hat eine Rechnung 100 Kronen ausgemacht, sind somit 15 Kronen in Bosels Kassen geflossen. Da er im Auftrag der niederösterreichischen Statthalterei riesige Liefermengen organisiert, wird die ganze Sache ein Bombengeschäft.

Damit die Bediensteten in der niederösterreichischen Statthalterei keine allzu langen Zähne bekommen, sorgt Bosel dafür, dass auch sie an seinen Beschaffungsaktionen mitnaschen können. Er richtet einen Lebensmittellagerbetrieb ein, in dem die Beamten günstig einkaufen können, und er beliefert die Statthalterei mit Bekleidung, damit es den dortigen Beamten an nichts fehlt.18

Als Kaufmann in Kriegszeiten gehört Bosel auch zu jenen, die Geld fürs Vaterland hergeben und Kriegsanleihen zeichnen. Wer solche Anleihen gekauft hat, konnte Patriotismus demonstrieren und seine Kaisertreue finanziell unter Beweis stellen. Bei den entsprechenden Erhebungen musste das Kriegsministerium allerdings erkennen, dass die Hälfte der Großlieferanten nicht in Kriegspapiere investiert hatte. Auch überraschend viele Hocharistokraten drückten sich davor, die Kriegsführung mit ihrem persönlichen Vermögen zu unterstützen. Die Firma Bosel & Rosenbaum hat sich nichts nachsagen lassen. Bosel beteiligte sich im April 1916 mit 50.000 Kronen an der 4. Kriegsanleihe. Für einen Lieferanten von seinem Kaliber war das allerdings nicht wirklich viel. Zuversicht in den militärischen Sieg hat er damit nicht dokumentiert.19

Im November 1916 wird Bosel wird von der „Bekleidungsstelle für Kriegsflüchtlinge“ im k. k. Innenministerium mit einer patriotischen Shoppingtour beauftragt.20 Bosel soll in Ungarn Bekleidung und Stoffe zusammenkaufen und diese Waren nach Österreich bringen, wo Textilien bereits Mangelware sind. Das Einkaufsbudget kann sich sehen lassen: Bosel darf für den Spezialauftrag Goldmünzen im Wert von 500.000 Kronen ausgeben. Die Mission ist allerdings heikel. Ungarn hatte damals bereits ein Ausfuhrverbot für Textilien nach Österreich verhängt. Die hiesigen Behörden sehen darüber jedoch geflissentlich hinweg, Bosel geht mit der stillschweigenden Rückendeckung aus Wien ans Werk. „Er löste die schier unmöglich scheinende Aufgabe in wahrhaft genialer Weise. Er erschien in Budapest und in den umliegenden Provinzstädten und kaufte in solchen Massen ein, dass die Verkäufer an seinem Verstand zweifelten. Bosel wusste besser als sie, dass der Krieg von langer Dauer sein und die Preise enorme Steigerungen erfahren würden.“21

Wie hat Sigmund Bosel die Textilien aber nach Wien gebracht? Er deklarierte die Kleidungstücke und die Wäsche als Übersiedelungsgüter und schmuggelte die Textilien auf der Donau flussaufwärts in die Hauptstadt. Dieses Husarenstück ist vermutlich ganz nach dem Geschmack seiner Auftraggeber gewesen. Denn die österreichische Seite war der Meinung, dass sich Ungarn nicht ausreichend an der Flüchtlingsversorgung beteiligen würde. Bosels Aktion hat zwischen den Behörden der beiden Reichsteile auch für Reibereien gesorgt, wie das Prager Tagblatt im Oktober 1918 in einem Artikel vermerkt. „Es dürfte noch erinnerlich sein, dass … die ungarische Regierung erheblich jammerte, als die Firma Bosel & Rosenbaum kleidergefüllte Möbelwagen in Zillen donauaufwärts schleppen ließ.“22

Den Beamten in Wien imponiert die Kaltschnäuzigkeit, mit der Bosel den Spezialauftrag ausgeführt hat. „Von diesem Augenblick an gab es für ihn keine Hindernisse mehr. Überall hin hatte er Zutritt, überall Freunde und Protektoren“, schreibt Karl Franz. „Offen gestanden, hat er sich seinen Erfolg verdient.“ Bosel hat keine Gewissensbisse damit, dass er es im stillschweigenden Einverständnis mit den Behörden gesetzlich nicht so genau nimmt. „Aber eben deshalb ist der anstellige junge Mann ja so beliebt bei den hohen Amtsstellen, weil er ohne viel Aufhebens auf sein Konto nimmt, was sie selbst nicht riskieren.“23

In der Öffentlichkeit will die Obrigkeit freilich mit Bosel nicht viel am Hut haben. Der Staat durfte nicht in den Geruch von Gesetzesübertretungen kommen. Folglich arbeiten die Behörden im Jänner 1917 mit Tiefstapelei und einer medialen Vernebelungstaktik: „Die Behauptung, dass die Wiener Firma Bosel und Rosenbaum General-Lieferantin der k. k. niederösterreichischen Statthalterei für Einrichtung und Versorgung der niederösterreichischen Flüchtlingslager war, entspricht nicht den Tatsachen.“24

In der Wiener Zeitung konnte man sogar lesen, dass Bosel im Jänner 1917 per Runderlass eine Strafe aufgebrummt bekommen hatte. Weil er verbotenerweise 5000 Meter Flanellstoff einkaufte, wurde er zu fünf Wochen Arrest verurteilt, und zwar pikanterweise von der niederösterreichischen Statthalterei, die in Wahrheit große Stücke auf ihren eigenen Haus- und Hoflieferanten hält! Es gibt allerdings keine Hinweise, dass Bosel auch nur einen einzigen Tag hinter Gittern verbracht hat. Wäre das der Fall gewesen, so hätten Bosels Gegner den Gefängnisaufenthalt später mit Sicherheit publizistisch ausgeschlachtet.25

1917 gehen Bosel und sein Partner Rosenbaum bereits getrennte Wege. Bosel macht den längst fälligen Schritt vom Textilkaufmann zum Gemischtwaren-Großhändler. Im Mai gibt er seine Tätigkeit für das Innenministerium auf, im Juni wird die neue Firma mit dem Namen „S. Bosel“ im Handelsregister eingetragen. Als „Schmuggler von Kaisers Gnaden“ hat er ein Anerkennungsschreiben der niederösterreichischen Statthalterei in der Tasche, in dem seine Verdienste gewürdigt werden, per Dekret vom 17. Mai 1917 – für seine „loyale und … ehrende Haltung im Interesse der staatlichen Flüchtlingsfürsorge“.26

Mit dem Erfolg waren freilich auch die Neider nicht weit. Bosel wird von Konkurrenten angeschwärzt, bei der Staatsanwaltschaft trudeln Anzeigen ein. Bosel soll damals sogar mit seiner Verhaftung gerechnet haben. Man hat ihm vorgeworfen – und diese Anschuldigung gab es auch noch Jahre später –, dass er sich durch gefälschte Rechnungen, fingierte Liefermengen und einen illegalen Handel mit Kleidervorräten finanziell bereichert hätte. 1926 ist Bosel deswegen sogar verklagt worden, von Lotte Seidmann, der Gattin des ehemaligen Oberbuchhalters der niederösterreichischen Statthalterei. Sie gab an, Sigmund Bosel habe ihren Ehemann Max unter Drohungen gezwungen, während des Krieges die Geschäftsbücher zu fälschen. Dadurch sei ihr Mann letztlich in der Psychiatrie gelandet, behauptete Frau Seidmann, die von Bosel eine lebenslängliche Rente und den Ersatz der Behandlungskosten forderte, die für ihren Gatten im Wiener Sanatorium „Baumgartnerhöhe“ angefallen waren.27

Am Tag der zweiten Verhandlung konnte Seidmanns Rechtsanwalt die angekündigten Belastungszeugen allerdings nicht aufbieten. Außerdem ließ sich der bekannte Psychiatrieprofessor Julius Wagner-Jauregg, der über den Zustand des Patienten Auskunft geben hätte sollen, wegen einer beruflichen Verpflichtung entschuldigen.

Als dann auch noch der Gerichtspsychiater zu dem Schluss kam, dass Bosel – selbst wenn er den Buchhalter wirklich psychisch unter Druck gesetzt hätte – unmöglich der Auslöser für Seidmanns Irresein gewesen sein konnte, brach die Klage inhaltlich zusammen. Der Richter handelte daraufhin eine salomonische Lösung aus: Geld von Bosel aus Mitleid für Lotte Seidmann, wenn diese ihre Vorwürfe gegen Bosel fallen lässt. Als Seidmann zögerte, redete ihr der Richter gut zu: „Sie sind eine arme, bedürftige Frau, es ist besser, Sie ziehen die Klage zurück und nehmen von Bosel das Geld, das er Ihnen als Almosen freiwillig gibt.“ Schlussendlich nahm Lotte Seidmann ihre Klage weinend zurück und Bosel war durch den Fall Seidmann nicht länger angepatzt.28

Eine weiße Weste hat Bosel auch 1918 behalten, als die kaiserlichen Justizbehörden der niederösterreichischen Statthalterei wegen mutmaßlicher Verdachtsmomente gegen Bosel auf den Zahn fühlen. Böse Zungen behaupten etwa, dass die Schuhe, die er während des Krieges lieferte, nur Pappendeckelsohlen gehabt hätten. Nach einer Überprüfung der Geschäftsunterlagen werden die Voruntersuchungen aber bald wieder eingestellt. Auch die Kriegswirtschaftliche Kommission findet keine Anhaltspunkte für schmutzige Geschäftspraktiken oder unredliche Abrechnungen: „Gegen Herrn Bosel sind wohl eine Menge Anschuldigungen erhoben worden, konkreter Art aber keine. Jede Anzeige sei zum Gegenstande der Untersuchung gemacht worden. Die Erhebungen haben aber zu dem Abschluss geführt, dass die Tätigkeit des Genannten eine verdienstliche war.“29 Bis heute liest man da und dort, dass Sigmund Bosel einer der größten österreichischen Heereslieferanten gewesen sei. Handfeste Belege gibt es dafür keine. Es kann allerdings gut sein, dass Bosel neben seinen Flüchtlingslager-Lieferungen auch Bekleidungsartikel für Soldaten herbeigeschafft hat – und zwar Rucksäcke und sogenannte „Stiefelfetzen“, die anstelle von Strümpfen oder Socken in der kämpfenden Truppe gängig waren. Diese Stiefelfetzen waren leicht waschbare Stofflappen, mit denen sich die Soldaten die Füße eingewickelt haben, bevor sie in die Stiefel geschlüpft sind.30

Angeblich hat Bosel sogar Kasernenkantinen mit Lebensmitteln und Getränken versorgt. Bosel „beschränkte sich … keineswegs auf Lieferungen, die in seine ursprüngliche Branche fielen, sondern lieferte schlechthin alles“, wusste der Bankfachmann Egon Scheffer zu berichten. „Den Gegenwert ließ er sich damals schon, mitten im Kriege, auf auswärtige Konti namentlich bei Schweizer Banken gutschreiben.“31

Dass Sigmund Bosel seine gesamten Gewinne in die Schweiz gebracht haben soll, hört sich übertrieben an. Denn er hat schon während des Krieges angefangen, in Wien Immobilien und Wertpapiere zu kaufen. Es ist aber durchaus möglich, dass er einen Teil seiner Profite in Schweizer Franken angehäuft hat, die später wegen der Inflation in Österreich Gold wert waren. Wie viel Sigmund Bosel durch seine Flüchtlingslager-Geschäfte verdient hat, lässt sich nicht mehr sagen. Einen Anhaltspunkt haben wir jedoch: Bosel hat sich 1926 vor einem Parlamentsausschuss damit gebrüstet, dass er im letzten Kriegsjahr knapp 12 Millionen Kronen an Steuern gezahlt habe. Zieht man die damals geltenden Steuersätze in Betracht, lässt sich Bosels Einkommen zu Kriegszeiten grob geschätzt auf mehr als 100 Millionen Kronen veranschlagen. Sigmund Bosel ist mit Sicherheit bereits zu Kaisers Zeiten ein Multimillionär gewesen. Der Erste Weltkrieg und die damit verbundene Flüchtlingskrise waren sein Sprungbrett zum Reichtum.32

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